- 25. Mai
Hello, America! Fliehende Wissenschaftler gab's schon mal: „Rhapsodie in Blau“ schildert in traumhaften Bildern die Zeit, als die USA noch Zukunft hatten

Boah, so satt war ich schon lange nicht mehr nach einem Comic. Weil, es heißt ja manchmal, dies oder das wäre „Food for thought“. Gedankenfutter, sozusagen. Dieser Comic ist aber auch noch Augenfutter. Und all das funktioniert obendrein doppelt und dreifach gut, weil ich ihn erst ewig nicht gelesen habe. Sondern erst jetzt, nach vier Jahren im Regal. Der Comic heißt „Rhapsodie in Blau“ und stammt von Andrea Serio.
Sommer ohne Jackett
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Warum steht ein Comic lang im Regal und wird nicht aussortiert? Weil das Cover zu gut aussieht. Ein Mann im Hemd geht an einer schattigen Mauer entlang. Das Jackett hat er über dem Arm, es ist Sommer. Hinter der Mauer ragt ein lehmfarbenes Fabrikgebäude auf, das sehr flach geziegelte Dach legt nahe: Wir sind in Italien, wo auch schmuckloses verträglich ist.

All das wird dominiert von: Blau. Der Himmel, der Schatten, der auch von einem riesigen Baum kommt, all das mit Buntstift oder auch Kreidestrichen, heiß und kühl und so attraktiv, dass die Frau, die mit mir in der Wohnung wohnt, sofort sagt: „Das ist aber schön.“ Und genauso macht Serio weiter.
Prädikat: augenfreundlich
Mit einem Schiff auf dem Meer. Es sind offenbar US-Soldaten, auf dem Weg nach Europa im Jahr 1944. Viel Blau in großzügigen, augenfreundlichen Panels, selten mehr als fünf pro Seite, mit Stiften und Kreiden schön satt angelegt. Und dann eine Rückblende, denn der Soldat Goldstein war nicht immer Soldat.

Er ist Italiener. 1938 badet Goldstein mit seinen Freunden im kroatischen Medea, 20 Kilometer Luftlinie vom italienischen Triest. Strand, Spaß, Pinienhaine, junge Studenten, die das Leben vor sich haben. Bis Mussolini spricht, und den Studenten die Zukunft nimmt. Denn sie sind Juden.
Neue Heimat in New York
Goldstein und seinen Freunden gelingt es, auszuwandern. Nach Amerika. Serio erzählt auch das in großen Bildern mit viel Meer, viel Dampfer, Abschiedsschmerz und tiefblauem Fernweh. Denn Goldstein findet in New York ein neues aufregendes Zuhause, das Serio ebenso großzügig in Bildern schildert wie zuvor Meer und Strand und Italien.

Aber die Nazis sind dadurch nicht weg. Sie versenken Schiffe vor Manhattan. Goldstein beendet sein Studium, aber  er findet, er müsste mehr tun. Also meldet er sich zur Armee, um Europa und Italien zu befreien. Das Schöne dabei: Serio debattiert das nicht aus, er zeigt die Zerrissenheit des Auswanderers in superknappen Dialogen und extrem attraktiven Panels. Das ist dennoch keine Schönfärberei, sondern vor allem eines: ungemein anregend.
Statt Löwenmut: bunkerndes Eichhörnchen
Denn die Gedanken drängen sich von selbst auf: Junge Wissenschaftler, denen man die Zukunft nimmt,  fliehen? In die USA? Geht das nicht heute gerade andersherum? Wenn auch (noch) nicht mit einer rassistischen Komponente, sondern aus schierer Blödheit? Und waren diese USA nicht mal ein löwenmutiges Land, das Demokratie exportierte, Menschen eine Chance gab und dadurch reich wurde? Anstelle sich wie ein verschrecktes Eichhörnchen damit zu begnügen, die eigenen Nüsslein zu bunkern?

Serio stellt all diese Fragen, gibt aber keine Antworten. Wie auch: Der Comic entstand 2019. Damals stand eher Europas Rechtsruck Pate, Trump 1.0 wirkte noch wie ein vorübergehende Verirrung. Heute kommt man ins Grübeln, aber ein Teil der Grübelei wurzelt auch im überwältigenden Gegensatz von trostarmer Gegenwart – und diesen melancholischönen Buntstiftwelten.
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Beispielhaft gesehen: Cartoonist Luz illustriert Raubkunst aus der Perspektive eines Gemäldes – und wir sind immer im Bild

So kann man’s natürlich auch machen! Der französische Karikaturist Luz (der hier Humor und Trauer sensationell kombinierte), hat für seinen Sachcomic „Zwei weibliche Halbakte“ ein Problem gewitzt gelöst, das vielen Sachcomics in die Quere kommt. Denn so wichtig das Thema ist – vom Start weg ist es oft recht unsexy. Luz‘ Thema heißt: „Restitution“ bzw. „NS-Raubkunst“. In München haben beispielsweise die staatlichen Museen damit gerade richtig Ärger. Und Luz wird zeigen: Den Ärger haben sie zu Recht.
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Wir sehen, was das Bild sähe
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Der Titel des Comics stammt von einem Bild, das es wirklich gibt: Otto Mueller hat es 1919 gemalt, heute hängt es in Köln – und Luz beschreibt genau diesen Weg. Von einem Wald nahe bei Berlin bis Köln. Aber Luz zeigt ihn durch die nicht vorhandenen Augen des Bildes. Was ihm einen wunderbaren, sogar preisgekrönten Einstiegstrick ermöglicht

Denn, klar, die Leinwand sieht anfangs noch nichts, die ist ja noch kein Bild. Aber die ersten Farbstriche zeigen schon etwas Wald, etwas Mueller, und so, wie er malt, füllen sich langsam die ersten Panels, bis das Rechteck voll ist. Wir sehen Mueller, wie er pinselt und mit seinem Modell Maschka plaudert, abschließend guckt Maschka ins Bild, weil sie wissen will, wie sie geworden ist – schlanker als in echt. Muntere Idee. Und die Leser sind im Bild.
In Littmanns Arbeitszimmer
Von da geht’s ins Atelier, wo wir als Bild an der Wand hängen. Wir ziehen mit nach Breslau, weil dort der Kunstmarkt besser ist und Mueller eine Professur kriegt. Wir werden von Kunstsammlern begutachtet, wir werden gerahmt, entdeckt, und in den 20er Jahren kauft uns ein reicher Herr Littmann. Wir werden verpackt, heimgetragen, bei Littmann an die Wand gehängt. Und von da sehen wir durchs Fenster nach draußen.
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Da passieren üble Dinge, orthodoxe Juden werden geschlagen, die Mauer mit Parolen und Hakenkreuzen beschmiert, und Littmann, selbst Jude, verliert wichtige Kunden. Die Situation wird aussichtslos, und Littmann nimmt Gift. Die Familie muss die Bilder verkaufen, aber sie werden noch im Auktionshaus beschlagnahmt – und landen in der Ausstellung „Entartete Kunst“, und mehr sag‘ ich jetzt nicht, weil die Irrfahrt des Gemäldes natürlich zum Reiz gehört.
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Geschick gewählt, wütend gezeichnet
Vieles von diesem Reiz liegt natürlich an der Auswahl der Szenen, die sich Luz für seine kräftigen, wütenden Zeichnungen herauspickt. Der Gegensatz von Wertschätzung und Verachtung desselben Bildes beispielsweise. Oder die Tatsache, dass die Nazis die von ihnen gehassten Bilder in ihrer Schmähausstellung auch noch explizit unansehnlich zusammengepferchten, aus (berechtigter?) Angst, ihre Kundschaft wäre zu blöd um ohne Holzhammerhinweise zu merken, dass die „blöde“ Kunst blöd sei. Â

Und danach? Hat das Museum Ludwig alles richtig gemacht? Ohne Fachmann zu sein: Sie machten auf jeden Fall weniger Theater. 1999, heißt es, bekam man erstmals mit, dass das Bild vor der Beschlagnahmung wem gehört hatte. Da kann man jetzt vielleicht nörgeln, aber in jedem Fall gab’s einen handfesten Namen mit einem Rechtsanspruch. Und die Kölner zierten sich nicht, gaben das Bild zurück – und kauften es anschließend nochmal rechtmäßig ein.
Da kann man dann, wie im Münchner Fall, natürlich insgeheim murmeln: „Das kann aber teuer werden.“ Aber so ist das eben mit Faschismus und seinen Folgen: Schnäppchen macht man da nur, solange man Raub für ein erlaubtes Geschäft hält.
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- 17. Apr.
Die Outtakes (27) : Diesmal mit sehr kleinen Kleinigkeiten, sehr großen Wassermengen und einem richtigen Haufen Müll

Quantenfiziert
Hübsch, aber nicht recht überzeugend: „Loops“ von Luca Pozzi und Elisa Macellari dreht das ganz große Ding: Was ist die Welt? Pozzi ist physikbegeisterter Künstler und versteht sich gut mit dem Quantenphysiker Carlo Rovelli, weshalb beide einen Comic zusammengezimmert haben, der einen leider kaum weiterbringt. Da helfen auch die schönen Illustrationen von Pozzis Frau Elisa nicht. Am stärksten ist der Band noch bei der Aufarbeitung antiker Theorien: Anaximander schließt aus der Beobachtung der Welt nicht auf ein Weltbild – sondern dass wir offenbar Teil eines Prozesses sind, den wir womöglich nicht mal begreifen können. Ist auch ohne Bild erklärbar, richtig? Rovelli hingegen zaubert eine Welt aus interagierenden Raumquanten („Loops“) aus dem Hut. Begründung? Fehlt, was blöd ist, weil man Loops (anders als Anaximanders Welt) nicht mehr beobachten kann. Sind sie bewiesen oder Theorie? Egal. Eine Reihe schöner, aber schiefer Bilder verwirrt nun mehr als sie erklärt, und hinterher klopfen sich alle Beteiligten die Schultern wund. Man hätte stutzig werden können/sollen, als der Künstler auf Seite 15 im Wald einem einzelnen Moskito mit der Sprühdose hinterhergiftet. Aber vielleicht sollte man das auch nicht so ernst nehmen: Wir sind ja alle nur Raumquanten. Â
Luca Pozzi (Text), Elisa Macellari (Zeichnungen), Myriam Alfano (Üs.), Loops, Jaja-Verlag, 26 Euro.
BrrrrrroooooSCHHH

Das ist mal ein ganz starker Anfang: Bea Davies geht in „Supergau“ gleich richtig in die Vollen, ein Mann erlebt das Erdbeben samt Tsunami von Fukushima von einer Telefonzelle aus, inklusive anrollender Fluwelle, BrrrrrOOOOSCH! Und gleich darauf eine sagenhafte Traumsequenz, der Flugtraum einer jungen Frau über dem überfluteten Berlin, und dann ihr Blick unter die Wasseroberfläche, wo Dutzende Menschen treiben wie schlafend. Ab da wollte ich natürlich wissen, wie das weitergeht, wie Bea Davies da Berliner Schicksale mit Fukushima verknödelt. Und tatsächlich hält Davies das auch durch – aber leider nur optisch. Ja, sie entwickelt schöne Szenen, gute Dialoge, tolle Berlin-Eindrücke. Aber die Geschichten, die sie verquicken will, sind etwas fad. Vielleicht liegt’s aber nur am Gegensatz: Davies kann aus einer „Kaufland“-Fassade was Besonderes rauskitzeln, aus kleinen Beobachtungen wie einem Kind samt Eichhörnchen, und sie pickt aus der großen Katastrophe eindrücklich-gruselige Bilder in variantenreichem Schwarz-Weiß mutig weitgewinkelt. Vielleicht fällt eben deshalb auf, dass sie Schicksale und Schicksälchen ihrer Protagonisten nicht genauso großartig aufbereitet. Kann aber noch kommen.
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Ab in die Tonne!

Unterhaltsam und dennoch Outtake, weil: „Trashed“ gibt’s nur auf englisch. Derf Backderf, der mit dem spannenden „Mein Freund Dahmer“ seine Schulzeit mit dem Serienkiller Jeffrey Dahmer beleuchtete, hat 2015 seine Erfahrungen als US-Müllmann verarbeitet. Wie man weiß: Eklige Stories sind oft auch spannende Stories, „Trashed“ fällt genau in diese Kategorie. Einerseits empörend, weil in den USA noch furchtbarer mit Müll umgegangen wird als bei uns, andererseits lässt Backderf mit berufsbedingtem Zynismus immer wieder Dampf ab. Wer sich an Backderfs Don-Martin-Stil nicht stört, dem steht ein erfrischendes Lesemissvergnügen bevor, aber, wie gesagt: eben nur auf Englisch.
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