Große Kunst aus kleinen Zutaten: Mikael Ross verquirlt Berliner Randgruppen in „Der verkehrte Himmel“ zu einem höllisch guten Blockbuster-Comic
BOAH!
Das. Ist. HEISSER. SCHEISS.
Absolute „Lola rennt“-Kategorie: ein Actionthrillercomedydrama, erzaubert aus total unglamourösen Zutaten. Extrem lustig, extrem spannend, zugleich thematisch so brandaktuell, dass eigentlich alle Alarmglocken scheppern. Weil all das so überehrgeizig klingt, dass es nur noch in die Hose gehen kann. Oder sogar muss! Aber dann kommt Mikael Ross mit „Der verkehrte Himmel“*.
Jonglieren mit acht Bällen
Ross ist noch immer kein sehr voll beschriebenes Blatt. „Der Umfall“ war exzellent, aber eine Auftragsarbeit mit vorgegebenem Thema. „Goldjunge“ widmete sich Beethovens Jugend, auch das gibt eine historische Struktur vor. „Der verkehrte Himmel“ hingegen ist komplett auf Ross‘ Mist gewachsen. Und das ist, als jongliere jemand erst mit zwei und auch drei Bällen, und jetzt schlagartig mit acht.
Ein Parkplatzmarkt. Tam und Dennis kaufen ein, Dennis ein überteuertes Metal-Shirt und ein Fleischerbeil, seine jüngere Schwester schrottige Inline-Skates, mit denen sie sofort gegen einen schwarzen Van knallt. Im Van: eine junge Frau, die nicht raus kann, aber Dennis das Beil durchs spaltoffene Schiebedach abkauft. Der Van fährt davon, zu einer Tankstelle. Ein Mann geht zur Kasse. Die Frau im Van zerschmettert die Heckscheibe, rast davon. Der Mann verfolgt sie. Schon diese Einstiegsszene ist richtig gut konstruiert: Slapstick (Tam lernt skaten), Sitcom-Dialoge (Bruder-Schwester, Geiz, der dämlich-schön-ulkige Beil-Deal), und alles kippt schlagartig zum Actionthriller.
Zappliger Riese als Blickfang
Und das, obwohl die Szene superstill beginnt: Durch die Augen der Frau sehen wir eine zapplige, luftbetriebene Werbe-Riesenfigur, immer in dem absurden Moment, in dem kurz der Luftstrom abreißt und die Figur grotesk zusammensackt. Die Actionsequenz dagegen: Bewegungen, die vor Energie strahlen, rasante Einstellungen, die geschickt das nutzen, was ein Panel leisten kann – etwa das Auge des Lesers unter dem Arm des Verfolgers hindurch auf die junge Frau zu lenken, die entfernt über einen Zaun klettert. Genau dieses geschickte Zusammenfassen und Verdichten macht diesen Comic so aberwitzig gut.
Was einen vor allem deshalb so unerwartet umhaut, weil die Themen so unsexy sind. Es geht, man ahnt es vielleicht, um Menschenhandel (Downer). Tam wird sich um die junge Frau kümmern, und um beide zusammenzubringen, wird Ross den Jungen Alex einführen, der Agent/Schauspieler werden will und alle mit seiner Drohne nervt (alleinerziehende Eltern, Schlüsselkind, Downer!). Die Ex-Schauspielerin Doris, die in einem Gartenhäuschen wohnt (Altersarmut, Alkoholismus, Downer!). Marina, die sensible Kickboxerin, die sich ausgerechnet in Dennis verliebt hat (Frau mit Problemen, Downer!). Die „Rollergirlz“, ein aufgekratztes Mädeltrio, von dem Tam gerne Skateunterricht hätte. Dennis pornosammelnder Freund Götz, die (real existierende Benennung der) Hans-Rosenthal-Schule (Holocaust, Downer), die Metalband „Slayer“ und Tams und Dennis Leben als Kinder vietnamesischer DDR-Einwanderer (Migration, Downer!). Das KANN doch einfach nicht funktionieren!
Ruppig deftig, prustend komisch
Aber Ross führt alles davon mit einer Leichtigkeit ein, dass einem der Kopf schwirrt. Indem er einfach das Berlin nimmt, das er vorfindet. Tam und Dennis sind nicht „Achtung! Achtung!“-Vietnamesen, sie sind’s einfach so wie andere Leute Linkshänder. Alles ist eigentlich extrem politisch – aber zugleich extrem unpolitisch konsumierbar. Selten war Schweres so leicht. Was auch daran liegt, dass Ross mit seinem Personal außergewöhnlich robust umspringt. Die Dialoge sind ruppig, deftig, gerade unter den Jugendlichen rücksichtslos, sehr häufig prustend komisch. Um im nächsten Moment zur härtesten, schnellsten, spannendsten und zugleich komischsten Verfolgungsjagd zu abzukippen, die ich von einem deutschen Comic-Zeichner kenne.
Am meisten verblüfft aber, wie viele Varianten der Comic-Kunst dieser Mikael Ross beherrscht – und wie gut, wie souverän, wie komplett er ist. Erstklassige schnelle, freche Dialoge, abwechslungsreiche Perspektiven, Situationskomik genauso wie Situationstragik, statische und mobile Körper-Beherrschung, Blickführung, Licht und Schatten, Charakterentwicklung, geschickte Nutzung von Haupt- und Nebenrollen. Gerade die Nebenrollen reichert Ross dabei mit unterhaltsamen Details derart an, als müsste er sie für Schauspieler attraktiv machen: Ross arbeitet hier wie ein echter Regisseur, aber zum Vorteil der Leser.
Realität vs. Happy End
Das Ende verrate ich natürlich nicht, auch wenn man ahnen kann: Für ein richtiges Happy End müsste Ross die Gegebenheiten verbiegen, und dazu ist ihm die Realität als Bezugsgröße zu wichtig. „Der verkehrte Himmel“ geht auch deshalb so nahe, weil alles darin sofort denk- und nachvollziehbar ist. Und wer prüfen will, ob Ross auch noch ein guter Vorleser ist, hat am Donnerstag um 19 Uhr in München die Chance dazu.
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Anmerkung zwecks Transparenz: Der Deutsche Literaturfonds (dessen Vorjury zu einem Fünftel aus mir besteht) hat (unter anderen) diesen Band gefördert. Doch anders als etwa bei Buchpreisen sehen wir bei der Entscheidung kein fertiges Produkt, sondern nur einen Entwurf.
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Einmal „Nein“ gesagt, einmal frech gewesen: In „Merel“ analysiert Clara Lodewick bitterböse die Spielregeln der heilen Dorfgemeinschaft
Es ist eine unscheinbare Geschichte, die Clara Lodewick (27) da als Erstlingswerk vorlegt (und sie zur Max-und-Moritz-Preiskandidatin 2024 macht) . Belgisches Dorfmilieu, eine unscheinbare Titelheldin, „Merel“: Eine Frau, um die 40, ein bisschen moppelig, Durchschnittsgesicht, alles in einfach gehaltenen Zeichnungen geschildert, die so harmlos daherkommen, dass einen die Sprengkraft umso mehr überrascht, die Lodewick aus ihren harmlosen Zutaten herausholt.
Auffällig unauffällig
Merel führt ein unauffälliges Dorfleben in einem unauffälligen Dorfhaus. Sie schreibt unauffällige Geschichten für die unauffällige Ortszeitung, über den unauffälligen Fußballklub. Sie züchtet Enten, und ab und zu geht sie mit den Enten zu Geflügelwettbewerben. Einen Mann hat Merel nicht, sie vögelt gelegentlich einen Entenzüchterfreund, sie flirtet hier und da ein bisschen. Das wird ihr zum Verhängnis.
Die Auslöser sind lächerlich: Merel, die in der Dorfkneipe mit den Jungs gern mal kumpelhaft ein Bier zischt, macht eine falsche Bemerkung zu einer Frau, die sich gerade mit ihrem Mann zofft. Und sie lässt einen Bierkumpel abblitzen. Daraus entsteht Getuschel, und in einer blitzartigen Geschwindigkeit wird Merel eine, die’s mit jedem treibt, den Frauen die Männer abspenstig macht. Und für die Kinder, die von allem nur die Hälfte mitkriegen, aber sich dafür aus jedem Halbsatz zwei Reime machen, wird sie die Hexe.
Dörfliche Hexenjagd
Gekonnt dreht Lodewick an der Eskalationsschraube, und besonders geschickt ist, dass sie die zunehmende Hetzjagd inszeniert, ohne dass man dazu einen besonderen Bösewicht bräuchte. Kleinigkeiten genügen, aus einem einfachen Grund. Denn die gut integrierte Merel hat den Nachteil, dass sie anders ist: Unverheiratet, keine Kinder, allein wohnend, einsames Hobby. Ihr enttäuschter Nicht-Liebhaber hat seine Kumpels, unter denen er seine Lüge verbreiten kann, die verbitterte Ehefrau hat die anderen Frauen, mit deren Männern die vermeintlich mannstolle Merel allabendlich Bier trinkt. Merel hingegen ist nur aus Freundschaft Teil dieser Gruppen, nicht weil sie dieselben Eigenschaften hat. So beiläufig man sie aufnimmt, kann man sie auch wieder ausstoßen.
Lodewick entfaltet das bedrückende Drama mit aller Brutalität, und sie muss gar keine weiteren Hinweise streuen, um ganz nebenher klarzumachen: Wenn das schon einer weißen Frau in ihrem eigenen Land so gehen kann – wer wäre ein ähnlich leichtes Opfer? In Schulklassen, am Arbeitsplatz, im Verein, in der WhatsApp-Gruppe? Lodewicks leichte, freundliche Zeichnungen unterstützen dabei die Vielseitigkeit der Erzählung. Die Figuren sind gerade ausgearbeitet genug, dass sie dem Leser nahekommen – aber auch vage genug, dass sie sich als Platzhalter für andere Situationen eignen.
Schock oder Schongang?
Das Ende hingegen ist Geschmackssache: Man könnte der Ansicht sein, dass so eine Geschichte nicht hart genug zugespitzt werden kann, dass sie einen schockartigen Schluss braucht. Man kann sich eine versöhnlichere Option wünschen, die Auswege zeigt und Hoffnung macht. Oder einen Kompromiss mittendrin. Welche Variante Clara Lodewick gewählt hat? Selber lesen!
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„Der Letzte löscht das Licht“: Wie sich der Schweizer Tobias Aeschbacher mit einer munterschwarzen Komödie vielleicht zum Max-und-Moritz-Preis ballert
Die Nominierungen für den Erlanger Max-und-Moritz-Preis (größter wo gibt im deutschen Comic!) sind draußen, ein schöner Anlass für zwei Dinge: Erstens überprüfen, ob ich hier womöglich immer völlig am Trend vorbeiberichte. Und zweitens: Gucken, ob’s auf der Liste was Neues zu entdecken gibt. Zu zweitens: Ja, gibt es, und nach „Fungirl“ ist es schon wieder was aus der Schweiz – die muntere rabenfinstere Krimikomödie „Der Letzte löscht das Licht“, die überraschende „Pulp Fiction“-Qualitäten zeigt.
Talentierter Ersttäter
Die Antwort lautet: Ja.
Denn Sie wollten doch fragen, ob ich damit diese besondere Art Film meine, nicht wahr? Also: aus unterschiedlichen schwarzhumorigen Episoden unterschiedlicher Charaktere verknotet, die alle irgendwie miteinander zusammenhängen? Genau darum dreht sich’s bei diesem geschickt verquirlten Krimikompott des Graphic-Novel-Ersttäters Tobias Aeschbacher, mit einer Ausnahme: Aeschbacher springt nicht zwischen Gegenwart und Vergangenheit, er bleibt chronologisch. Die Rahmenhandlung bildet ein mäßig intelligentes Killertrio, das bei der Auftragserfüllung darüber diskutiert, ob man seiner Pistole einen Frauennamen geben darf, das aber auch schon Probleme hat, überhaupt die richtige Zimmernummer des Opfers zu finden – weil das ganze Haus konfus durchnummeriert ist.
In diesem Haus finden sich weitere Halbweltgestalten mit diversen illegalen Nebenverdiensten. Und wie das so ist, wenn man dauernd falsche Türen öffnet und falschen Leuten begegnet: Man hat eine Menge unerwünschter Zeugen, die man loswerden muss. Wie entspannt und lässig Aeschbacher das abwickelt, das nötigt schon Respekt ab. Seine Situationen sind eigenwillig, definitiv lustig, seine Dialoge sind noch nicht Quentin Tarantino, noch nicht Guy Ritchie, aber sie sind schon ganz nahe dran. Was heißt: Er liefert (noch) keine Klassiker zum Nachsprechen, aber man langweilt sich keine Sekunde. Und nebenbei hat Aeschbacher kein Problem damit, Blut zu vergießen, und auch das gekonnt: Nicht zu viel, nicht zu wenig und jeweils exakt im richtigen Moment.
Cartoons mit Kopfschuss
All das wirkt auch deshalb so gut, weil die Bildregie des Schweizers extrem ökonomisch ist. Viele Panels mit Leuten, die reden und reagieren, kaum Effekte, weil Aeschbacher weiß, dass er sich auf die Texte verlassen kann. Ebenfalls hilfreich: Die zahme Cartoon-Optik, durch die man die Protagonisten immer wieder unterschätzt. Können solche Leute mit Kopfschüssen töten? Nee, oder – hoppla.
Ganz nebenbei scheut Aeschbacher auch noch kniffligere Themen nicht. Suizid im Alter? Stalking? Und die Sache mit den Schweizern, die alle ein Gewehr im Schrank haben? Aeschbacher nutzt das ungewöhnlich geschmackssicher und zugleich erfreulich rücksichtslos, weshalb der ganze Band ein ziemlicher Heidenspaß ist (wenn „Heidenspaß“ nicht mehr okay ist, bitte eigenes Synonym einsetzen). So ein unverhoffter Fund! Und das dank der Max-und-Moritz-Nominierungen, wo Comic-Kunst im Sinne Buschs auch mal die Priorität aufs Entertainment setzen darf.
Was uns wiederum zu „erstens“ bringt: Ist da denn auch was von den Sachen nominiert, die Sie von hier kennen? Ja, ja, ja, ja und ja. Und wie hat Aeschbacher dann 2024 in Erlangen tatsächlich abgeschnitten? So.
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