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Zum 50. Todestag: Ein Comic macht Lust auf die große Therese Giehse – weil seine Autorin mutig mit den Fakten tanzt

Große Barbara Yelin! Das Leben von Therese Giehse hat sie jetzt dargezeichnet, wahnsinnig einfühlsam, mit einem wunderbar passend ausgesuchten Humor, und...bitte? Wer das ist, diese Giehse? Eben, und deshalb hab ich das Thema selber unterschätzt.
Leiderleiderleider
Therese Giehse ist ja tatsächlich schon seit 50 Jahren tot, leiderleiderleider. Ich selber habe sie auch erst in den „Münchner Geschichten“ zu schätzen gelernt, als bodenständige, resolute, skeptische Oma des Hallodris Tscharlie. Und deshalb dachte ich, sie wäre eine Lokalgröße. Also schon groß, aber eben lokal, mehr so nur für München. War falsch.

Sie hat sich in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts über praktisch alle Bühnen Deutschlands hochcharaktert, nicht hübsch, nicht schlank, aber sprachbegabt, eigenwillig umwerfend, umwerfend eigenwillig. Und natürlich links. Als die Nazis in die Nähe der Macht kommen, macht sie nebenher auch noch Kabarett, betextet von ihrer damaligen Partnerin Erika Mann. Jüdisch, lesbisch, kein Wunder, dass Giehse 1933 das Land verlässt.
Interpretation statt Schilderung
Sie tingelt durch Europa, arbeitet mit Brecht – aber all das ist es nicht, was den Comic so lesbar macht. Sondern wie Barbara Yelin an die Sache herangeht. Yelin schildert nicht, sie interpretiert – und macht damit eben genau das, was viele sich nicht trauen und sich lieber an Fakten entlanghangeln. Yelin macht's andersrum: Let's face the Fakten and dance.


Denn Fakten gibt’s genauso im Lexikon, und die Realität kennt eh nur die tote Therese. Man muss also auswählen, werten, und wenn das so ist, dann kann man’s auch gleich richtig machen, mit Mumm. Yelin spendiert sich eine selbstironische Seite, die sie unter Giehsematerial begraben zeigt – und dann legt sie los.
Haltung statt Ähnlichkeit
Superkräftige Farbstriche verbildlichen Giehses entschlossenes Spiel und Leben, manchmal gestützt von ein paar pechschwarzen Linien oder grellweißen Highlights. Yelin streut dazu Zitate ein, knapp, getreu Giehses herzlich-mürrisch-wortkargem Duktus. Sie will Giehse nicht durch Ähnlichkeit näherkommen, sondern durch die Haltung, beim Gehen, Schauen, Tadeln, Grummeln. Und auch wenn die Rolle der Mutter Courage genug Platz bekommt, widmet Yelin einer Anekdote eine ganze Seite...

...einer Anekdote, die sie von Schauspielkollegin Ruth Drexel hat: Wie Therese Giehse aus einem leeren Suppenteller ein Gulasch isst. Unterlegt von Giehses knapp gefassten Ansichten, wie man ordentlich schauspielt. Und wer will, kann danach ein paar Fotos von Therese Giehse suchen oder bei Youtube einige Szenen aufrufen und staunen, wie exakt die Yelin diese darstellerische Charakterknödelin erwischt hat.
Wenn der Auftraggeber dem Comic nicht traut
Wermutstropfen gibt’s, aber dafür ist nicht Yelin verantwortlich: Der Band ist eine Auftragsarbeit der Münchner Kammerspiele, die dem Comic dann aber doch nicht genug getraut haben. Die Intendantin musste noch zwei Seiten lang ihren Senf dazu geben, eine Regisseurin drei Seiten breit schwafeln und dann kommt sicherheitshalber auch noch der Comic-Experte der FAZ, der nochmal alles erzählt, was schon im Comic steht. Besser wär's gewesen, man hätte den Platz Barbara Yelin anvertraut.

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- 8. Okt.
Die Outtakes (32): Mit einem schaufelnden Superhelden, klatschnassen Regenwäldlern und einer nahöstlichen Momentaufnahme

Fledermaus im Untergrund
Wunder gibt es immer wieder, aber nicht dauernd: Die häufig großartige Mariko Tamaki hat sich 2021-2022 federführend meines alten Lieblings Batman angenommen, aber auch sie hat aus dem dunklen Ritter nichts Besonders und, leiderleider, noch viel weniger was Zeitgemäßes hervorgezaubert. Batman ist offenbar grad nicht mehr so reich (was okay ist), aber dass er sich selbst im Alleingang mit der Spitzhacke seine Bathöhlen in die Kanalisation maulwurft, ist schon mal herzlich blöd. Der Rest ist Business als usual, Batman befasst sich mit allem, was kein richtiges Problem ist. Denn, nur fürs Protokoll, 2021 haben wir gerade vier Jahre Trump hinter uns und eine reale Pandemie. Und Batman jagt Mutanten, den bemonokelten Pinguin und erzählerische Notlösungen wie Lady Clayface? Wen soll das interessieren?
Kinderlos im Regenwald

Einerseits mag ich Bastien Vivès’ Serie „Honeymoon“, weil sie so unbekümmert ist. Wegen des dezidiert dämlichen Kniffs, dem Helden-Ehepaar Sophie und Quentin zwei Kinder anzudichten, die a) nie auftauchen, weil sie b) praktischerweise bei der Oma sind oder sonstwo – denn sonst könnte man das Paar ja nicht wieder in ein haarsträubendes Abenteuer stürzen. Diesmal im Regenwald, mit geheimnisvollen Tempeln, Rebellen, Schlangen, was sich eben so seit 60 Jahren Kino/Comic in der Klischeekiste angesammelt hat (aber ehrlicherweise seit Indiana Jones eh nur noch persifliert verwendet wird). Allerdings rumpeln die Beiden schon ein wenig arg mechanisch von einer Gefahr in die nächste, und zwar so lange, bis das Album voll ist. Das könnte auch noch 20 Seiten so weitergehen oder zehn Seiten eher enden. Man gönnt Vivès den Spaß, den er erkennbar beim Draufloszeichnen hat. Und ich muss zugeben: Schon lang hab ich mich nicht mehr allein vom Lesen so triefend durchgeregnet gefühlt.
Einblicke ins Irrenhaus

Eine großartige Initiative, erfreulich unvoreingenommen umgesetzt: „Wie geht es dir“ begann im Netz als Comic-Interviewserie. Auf je einer Seite illustrieren namhafte Comic-Autoren ihre Gespräche mit Betroffenen nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023. Juden, Moslems, Palästinenser, Israelis in/aus Nahost und Deutschland. Auf beiden Seiten gibt es Verzweifelte, Leute ohne Dachschaden. Comictechnisch ist all das nach wie vor aktuell und bereichernd, von vielen Künstlern lernt man unbekanntere Seiten kennen. Und doch stellt sich mit jedem neuen Interview nach zwei Jahren die bittere Frage, ob inzwischen nicht schon wieder eine „Nachgehakt“-Ausgabe angebracht wäre. Die sich erkundigt, wie einverstanden die Befragten aller Seiten mit dem verheerenden Stand der Dinge sind (wovon die in Echtzeit arbeitenden Autoren nicht ausgehen konnten). Es hätte allerdings nicht geschadet, auch extremere Vertreter nach ihrer Motivation zu befragen. Schon um zu zeigen, mit welchen Hürden die Leute kämpfen, die bei Verstand geblieben sind. Warum bei den Outtakes? Weil das Projekt hier schonmal vorgestellt wurde, als es noch lediglich online stattfand.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
- 17. Juli 2024
Die Outtakes (16): Eine ansehnliche Familiengeschichte, ein finsterer Serienkiller und eine etwas zu gute Goldgräberin
Wiederholungstäter
True Crime-Nachschub aus der Mottenkiste: In den 2010er Jahren (als es noch gar nicht so schick war) verfasste Peer Meter gleich drei empfehlenswerte Szenarios über Serienmörder. Nämlich „Gift“ über die Bremerin Gesche Gottfried mit der (hier bleistiftgrau-sig guten) Barbara Yelin, „Haarmann“ über den gleichnamigen Männermörder (mit Isabel Kreitz), und zuletzt „Vasmers Bruder“ über den unbekanntesten der drei, Karl Denke. Letzteren Band habe ich gerade erst gelesen, der finsterste von allen, auch weil Meter die Geschichte hier in die Gegenwart verlängert und David von Bassewitz sie so zappendüster illustriert, dass man kaum die Hand vor Augen sieht. Zu den Outtakes muss sie leider dennoch, aus zweierlei Gründen: Erstens ist sie knapp zehn Jahre alt, zweitens nicht mehr lieferbar: Sie müssen ein bisschen bei Medimops, Rebuy, Booklooker oder auch in Ihrer Bibliothek stöbern, aber sparen dafür auch etwas Geld.
Zergrübelt

Sehr hübsche, zarte Zeichnungen. Sehr grüblerische Herangehensweise. Kerstin Wichmann blickt in „Auf schwankendem Boden“ schlaglichthaft in ihre Familiengeschichte. Aber so gut das aussieht, so rasch geht es in der eigenen Nachdenklichkeit unter. Was man erst an der Episode mit dem Großvater merkt: Der hat einen eigenwilligen Schwimmstil, und Wichmann lüftet geschickt das Rätsel darum. Aber genau dieses Geschick ist es, was meist fehlt. Und das ist ausgesprochen schade: Weil man so dankbar für jeden guten Grund wäre, noch mehr Zeit in den schönen Meer-Küste-Brandung-Ungemütlichkeit-Zeichnungen zu verbringen.
Holzgeschnitzte Wölfin

Sieht hübsch aus, ist frauenaffin, umweltbewusst – und trotzdem hebt Núria Tamarits „Die Polarwölfin“ nicht recht ab. Dabei sind die Zutaten reizvoll: Wir sind halbvermutlich in Nordamerika, zur Zeit des Goldrauschs. Die junge Joana investiert ihr letztes Geld, um an einer Goldgräber-Expedition teilzunehmen, aber die Männer lassen sie sitzen. Joana folgt ihnen auf eigene Faust. Die Männer sind überhaupt fies zu den Frauen der Expedition: zu Führerin Tala, zur alten Medizinfrau Opal. Männer sind auch schuld daran, dass Joana so am Hund ist, weil sie ihre alte Heimat abgefackelt und ihre Familie umgebracht haben. Und ein Mann ist schuld, dass Joanas dreibeiniger Hund so am Hund ist, weil er ihm die Pfote zertrümmert hat. Es sind auch die Männer, die beim Goldgraben bedenkenlos die Natur kaputtmachen, wohingegen die drei Frauen immer versuchen, nur das Nötigste aus der Natur zu nehmen. Weshalb sie auch von der gigantischen titelgebenden Polarwölfin verschont bleiben, die immer wieder für die Natur Rache nimmt, und, hm… liest sich das verärgert? Dabei nimmt man Tamarits Geschichte doch gern in der Hand: Die sternklaren Nächte, das eisige Alaska-Elend kontrastiert mit sonnenbunten Rückblenden ins Farmerparadies, die dämonische Wölfin, die flammenden Infernos, all das sieht einfach sehr gut aus. Aber die Haudrauf-Inhalte nerven. Wenn Joana so gut allein klarkommt, warum zog sie nicht gleich allein los? Und ja, Männer sind oft fies, aber dass ALLE Arschlöcher sind und zugleich auch noch Umweltsäue und ALLE Frauen vernünftig und auch noch nachhaltig, geht’s noch holzschnittartiger?

