Die Outtakes (25): Mit einem Blick in Amerikas vergangene Zukunft, ganz normalen Superhelden und Lust-voller Archäologie

Erwartbares Fiasko
Derf Backderfs Sachcomic „Kent State“ ist richtig beeindruckend. Er kommt auch nur deshalb zu den Outtakes, weil er im Gegensatz zu Backderfs Jugenderinnerung „Mein Freund Dahmer“ fünf Jahre nach seinem US-Erscheinen noch immer nicht auf deutsch erhältlich ist. Womöglich ist das Ereignis zu speziell: Am 4. Mai 1970, zur Hoch-Zeit der Studentenproteste, eröffnet die Nationalgarde, also die offizielle Bundesstaats-Wehr von Ohio, auf dem Campus der Kent State University das Feuer. Vier junge Menschen sterben in dieser Mischung aus politisch-konservativer Schießwut, Terrorangst, Überforderung, und das in einer Situation, die weder vom Anlass noch von den Umständen her auch nur ansatzweise irgendeinen Schusswaffeneinsatz erfordert hätte. Backderf recherchiert sauber, legt seine Quellen offen, die im Unterschied zu manch anderem Sachcomic weniger aus bequem zugänglichen Wikipedia-Einträgen bestehen, sondern aus Dokumenten, Zeugenaussagen, zeitgenössischen Presseberichten etc. Besonders erschreckend ist dabei die Vorhersehbarkeit des Fiaskos, bei dem auch die Geheimdienste munter mitlauschten, mitpfuschten und mitvertuschten. Und zu wissen, dass der momentane US-präsidiale Wiedergänger bereits einmal kein Problem hatte, so unnötig wie rücksichtslos mit militärischen Mitteln zu arbeiten.
Gags, gründlich erläutert

Preisfrage: Wer wäre in einer Welt, in der jeder ein Superheld ist und Superkräfte hat, etwas Besonderes? Der, der wie alle ist – oder der einzige, der keine Kräfte hat?
Genau. Aber Känguru-Chronist Marc-Uwe Kling ist in seiner Parodie „Normal und die Zero Heroes“ leider zu begeistert von seinem Running Gag: lustige Superhelden mit lustigen Fähigkeiten zu erfinden. Lustig bedeutet hier beispielsweise: Die KOLLEGIN (Superkraft: verschwindet, sobald es Arbeit gibt). Oder der BEAMTE (Superkraft: unkündbar). Oder MÜLLMANN (beseitigt – was wohl?). Leider ruiniert Kling auch diesen sekündlich alternden Gag, in dem er Namen und Kraft lang und breit erklärt. Liegt’s an der Ur-Angst deutscher Komödien, weder dem eigenen Gag noch dem eigenen Publikum zu trauen? Parodiert Kling hier die hölzernen Erklär-Einblendungen in Mangas und verholzt damit die eigenen Pointen? Letztlich jammert hier der einzige Normale in einem fort, dass er kein Superheld ist, wird dann aber natürlich doch noch zum Helden und schnarch. Schade: Eine Welt voller Superhelden, die begeistert den Abenteuern des einzig Normalen folgt – das hätte witzig werden können, sogar mit diesen gefällig-harmlosen Zeichnungen.
Altertürme

Ulli Lust muss Spaß gehabt haben: Sie hat sich durch die Ur- und Frühgeschichte des Menschen gewühlt, für den Sachcomic „Die Frau als Mensch“ eine Menge gelesen, eine Menge untersucht. Es geht ihr um frühe Kunst und Gesellschaften, es geht um die Rollen von Frauen, es geht um Umwelt, ums große Ganze von Anbeginn der Menschheit an, und das ist leider ein bisschen viel. Lust türmt Archäologie und Artefakte auf, Reportagen indigener Gesellschaften, Umweltschutz, Korruption, dazwischen kleine Spielszenen, eine enorme Fundgrube, der vor allem eines fehlt: eine gezielte Fragestellung. Der Band wäre nicht halb so ermüdend, wenn man wüsste, was denn da jeweils gerade belegt werden soll. Geht es um die Rolle der Frau? Geht es um die Aussage und/oder Bedeutung von Artefakten? Geht es um das Zusammenleben von Gesellschaften? Doppelt schwammig wird es, weil Lust zwar viel Interessantes anhäuft, aber auch präzise sagt, dass man allenfalls vermuten kann, wie, wann und warum etwas sehr viel früher mal so oder anders gemacht wurde. Und weil Lust weder provokante noch irgendwelche anderen Thesen aufstellen mag, weiß man jedes Mal nicht, ob diese Vermutung nun etwas untermauert, widerlegt oder einfach Fun-Fact ist. Ergebnis: Man würde gern mal was zu diesem Thema lesen. Aber war das nicht eigentlich das, was Ulli Lust mit dem Comic liefern wollte?
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Charmant, spannend, informativ: Vor dem Hintergrund der Großen Depression entwickelt Alessandro Tota eine kleine Geschichte des Comic-Hefts

Hut ab, das hier ist ein echtes Kabinettstück. Eine Kombination von Inhalten, die sonst selten gut zusammen gehen: Information und Unterhaltung. Die üble Variante kennen Sie aus vielen TV-Dokus mit Spielhandlung: manchmal entsetzlich, meistens furchtbar. Doch wie man’s richtig macht, zeigt Alessandro Totas „Die Große Illusion“.
Ein Held namens „Ghostwriter“
Wir sind im New York des Jahres 1938, die Große Depression ist noch nicht recht überwunden. Polizisten knüppeln eine Demonstration kommunistischer Arbeitervertreter brutal zusammen. Unter den Opfern ist Roberta, eine junge Frau, die unter einem harten Schlag auf den Kopf zusammenklappt – und eine Erscheinung hat. Allerdings erscheint ihr nicht der liebe Gott, sondern die reichlich abstrusen Superhelden Dogman (in Begleitung seines Hundes), Arachna und Ghostwriter. Warum, erzählen sie uns im delirierenden Kopf der jungen Frau selbst.

Die ist ein Landei, das ein paar schmuddlige Detektivgeschichten gelesen hat und dann in die Großstadt geflohen ist, weil sie nicht zwischen Vieh und Farm leben will wie Mutti. Schon hier ist viel von Totas ausgeklügeltem Mix erkennbar: Die Zeichnungen sind schlicht, bunt, mit einem Touch „Tim & Struppi“, also sehr zugänglich. Die seltsamen Superhelden sind nicht ganz ernst zu nehmen, sie kabbeln sich untereinander, da ist eindeutig eine spaßige Note. Aber: Die Geschichte der jungen Frau bleibt todernst.
Kofferklau dank Comicliebe
Als sie in New York ankommt, so begeistert von der bunten Stadt und den Kiosken voll bunter Comichefte, dass sie gleich einen Arm voll kauft und nicht merkt, wie ihr der Koffer geklaut wird, wie sie durch die rappelvollen Straßen schlurft, verängstigt, ohne Geld, ohne Bleibe für die Nacht – da gibt’s auch für den Leser nichts zu grinsen.

Es sind Kommunisten, die sich ihrer annehmen und ihr unter die Arme greifen. Roberta kriegt ein WG-Zimmer und soll Arbeit suchen, aber 1938 findet sich absolut nichts. Sie hilft gratis in einer Arbeiterzeitung, lernt mühsam Tippen und versucht sich nach Feierabend als Krimi-Autorin. Abends geht sie in linke Künstlerkneipen, wo Schwätzer jeden Kalibers versuchen, alles abzuschleppen, was nicht bei eineinhalb auf den Bäumen ist. Einer von ihnen ist der arrogante Battarelli, der gerne Maler wäre, aber von Illustrationen leben muss. Und jetzt kommen wir langsam zur historischen Info…
Der Gamechanger aus „Action Comics“
Battarelli ist in Nöten. Er soll für wenig Geld eine Comicgeschichte liefern, aber im Storys-Erfinden ist er lausig. Prompt denkt er an Roberta, die ihm aus der Patsche hilft und die er zum Dank genauso prompt um ihr Geld betrügt. Weshalb die Geschichte hier enden würde, aber wir haben ja 1938. Das Jahr, in dem – wie Comicfans wissen – das erste Heft mit Superman auf den Markt kam und der Superhelden-Boom entstand. Prompt wittert der ideenlose Battarelli das große Geld, aber diesmal ist Roberta gewarnt.

Im Lauf der Erzählung erfährt man praktisch alles. Wie eine Geschichte entsteht, wer zeichnet, wer tuscht, wie man sich einen neuen Superhelden ausdenkt. Wer kauft, wer verkauft, wer hat die Rechte? Und wo aus dem Nichts viel Bedarf kommt, gewinnt auch, wer schneller zeichnen und liefern kann. Man lernt Bob Kane kennen und Will Eisner, wirbt sich die Zeichner ab, holt talentierte Jungs von der Straße, alles passiert genauso, wie es damals wirklich passiert ist. Ohne dass man’s eigentlich mitkriegt, aber eben auch so, dass man’s sehr wohl mitkriegt. Und das ist der eigentliche Knaller.
Kompakt verpackt und doch exakt
Tota erfasst die Mechanik, die Ökonomie der Branche, sogar das Halbseidene so präzise, dass man Dinge mitbekommt, für die man bisher einen der (vorzüglichen!) Wuchtwälzer von Alexander Braun durchwühlen musste (der zur Ausstellung „Black Comics“ ging gerade in Druck). Für Wissenschaft reicht’s noch nicht, fürs Verstehen aber dicke. Und vergnüglich ist es obendrein, weil Tota den Humor fein mit der Geschichte abschmeckt. Was nicht ganz überraschend kommt, denn Tota hat vor längerer Zeit schon einmal hintergründig gut überzeugt, und zwar hier.
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Dem Autor folgen (3): Zwei Fachfrauen fürs Heranwachsen tauchen in die heroische Frühgeschichte – mal zahm, mal zornig, mal sehr, sehr witzig

Superhelden sind auf diesem Blog ein bisschen in den Hintergrund getreten (zu den Gründen schreib ich demnächst wohl mal was). Einstweilen gibt’s hier aber drei Ausnahmen von der Regel. Gefunden hab ich sie beim Autorenverfolgen zu Mariko und Jillian Tamaki. Und mindestens in zwei Fällen klappt die Kombination Tamaki/Supercharaktere richtig gut.
Newslos glücklich

„Being Super“ von Mariko Tamaki ist jedoch eher Durchschnitt. Ich mag zwar den Ansatz des Supergirl-Prequels: ein Mädchen, das noch nicht ahnt, dass Superkräfte zur Superheldin qualifizieren. Das sich an der High School zurechtfinden muss. Aber das Genre verursacht zu viele Probleme, und dass Supergirls neue Laufschuhe ihr nicht beim ersten Sprint durch schiere Reibungshitze vom Fuß schmelzen, ist nur das kleinste. Dass eine 15- oder 16-Jährige nie Nachrichten guckt und daher nie überlegt, was sie ihre Power ändern könnte, nehme ich zähneknirschend hin. Aber dass ein Null-News-Girl zugleich so vernünftig ist, stets ihre Kräfte zu verbergen, das war schon bei Superboy kaum nachvollziehbar. Seit aber junge Menschen selbstbewusster rebellieren, werden Rücksichtnahmen immer unglaubwürdiger. Und zuguternochlangenichtletzt kann auch Mariko Tamaki nicht verhindern, dass das ständige Neuerzählen von Helden-Jugenden in den 50ern, 60ern, 70ern, 80ern, 90ern, Nullern die Legenden komplett entmythisiert. Wenn die Held(inn)en-Jugend so war oder so oder so – dann ... so what? Die Operation verhindert das Veralten, ja, aber der Patient wird durch Um- und Ab-Nutzung zunehmend belanglos.
Niedlicher Raubauz

Harley Quinn, die Partnerin des Jokers, ist wohl die Topaufsteigerin des Batman-Universums. Laut bisherigen Schilderungen erlag Psychologiestudentin Harleen Quinzel während eines Praktikums im Irrenhaus der Faszination des Chaos-Clowns und war fortan seine Geliebte und Handlangerin. Irrsinn, bedingungslos-wahnsinnige Liebe, eine starke Frau, die sich alles rausnimmt – das wiederum macht sie zur idealen Protagonistin für ein Mariko Tamaki. Die sich freilich Änderungen vorbehält.
Den Psychologie-Aspekt wirft sie über Bord, weil: Diese Quinzel-Version ist zu jung. Sie kommt nämlich als schwer erziehbarer Teenie nach Gotham. Harleen ist supercrazy, zuckersüchtig, und nimmt sich an der neuen Schule die Freundinnen, die sie möchte. Wie sie sich naiv-aufdringlich-anlehnungsbedürftig Ivy aussucht, das hat viel raubauzig-niedlichen Charme. Ähnlich struppig stromert sie in ihr neues Zuhause: eine LGBTQ-Community rund um die fassartig-mütterliche Drag-Queen Mama. Dann allerdings wollen böse Reiche das Haus der Community gentrifizieren. Und ein clownartiger Krawallmacher/Politaktivist bietet sich als Partner an.
Das alles ist nicht superneu, aber die Rechnung geht auf. Weil Tamaki Harley sturheil für das Gute kämpfen lässt, wie eine gut gelaunte Klimakleberin mit ungewöhnlicher Prügelfreude, also: im Grunde harmlos, noch. Und weil Tamakis Joker sich nicht als Geistesverwandter entpuppt, sondern als Arschloch. Statt der Amour fou gibt’s also eine sehr alltägliche Enttäuschung. Dafür im attraktiven Gewand.
Steve Pugh erstklassig gezeichnete Superhelden-Panels lassen Tamakis Harley erfrischend in Pippi Langstrumpfs Spuren wandeln. Wie bei Tamaki üblich, finden die LGBTQ-Elemente ohne Debatte einfach statt, angenehm unaufgeregt. Zu Nörgeln gibt's nicht viel – bis auf den Punkt, dass wieder mal eine ganz andere Geschichte erzählt wird. Aber das Thema „Legendenentwertung“ hatten wir ja schon bei „Supergirl“. Und hier endet die Kosten-Nutzen-Rechnung deutlich im Plus.
P.S.: Die bisher beste „klassische“ Harley Quinn fand ich bislang in Stjepan Sejics „Harleen“.
Die Furcht vorm Falschen

Eine richtige Überraschung war Jillian Tamakis „Supermutant Magic Academy“. Auch, weil nicht selbstverständlich ist, dass Zeichnende auch gut texten. Tamaki wich vor gut zehn Jahren der Erwartungshaltung jedoch geschickt aus. Die Gag-Cartoons aus je sechs Panels erschienen als Webcomic, der rasch ein Eigenleben entwickelte. Die Helden sind Schüler der titelgebenden Akademie, etwa wie Jungmutanten bei Marvels X-Men. Ihre Kräfte sind allerdings selten zu sehen, dafür um so mehr ihre verschrobenen Sorgen: Sie grübeln über korrektes Verhalten, ihre Erscheinung, ihre eigene Wichtigkeit und überhaupt alles. Ein Mädchen beklebt sich im Kunstprojekt mit Wattebällchen (gegen die Globalisierung), alle tun sehr beeindruckt und gerührt und erwachsen. Darf man beim Besenfliegen anderen Mädchen unter den Rock gucken? Tatsächlich erinnert mich die Academy oft an die düstersten Folgen der „Peanuts“, an die ständig drohende Gefahr des Falschmachens, Falschsagens, Falschlebens. Was insgesamt wiederum unheimlich witzig ist. Und bleibt, weil Jillian Tamaki das Ganze nicht bis zur Unendlichkeit fortsetzt, sondern einfach nach einem Band wieder Schluss damit macht. Auch mal schön.
