- 6. Sept.
Joana Estrelas freches Teenie-Erwachen „Pardalita“ zaubert ganz, ganz viel Gefühl mit ganz, ganz wenig Mitteln

„Pardalita“ ist interessant – aber nicht nur, weil’s ein guter Comic ist. „Pardalita“ ist auch ein Zeitdokument, ein Modeprodukt und ein hübscher Ansatzpunkt, warum woke Produkte ein bisschen seltsam wirken können, wenn man sie aus einer beleidigten Blickrichtung betrachtet. Denn in „Pardalita“ entdeckt ein Mädchen seine lesbische Neigung, und da gibt es sicher mehr Leute, die auf Anhieb sagen: „Schon wieder?“
Nicht neu, aber gut
Klar, kommt mir auch bekannt vor. Nicht nur, weil ich grade mit großer Freude die Tamaki-Cousinen abarbeite, sondern auch wegen der Manga-Schiene, wo’s an neigungsmäßigen Spezialfällen nicht mangelt. Aber „schon wieder“ hat hier ja zwei Zielrichtungen, und eine davon kann man sofort ausschließen: Obwohl Joana Estrela das Rad nicht neu erfindet, ist „Pardalita“ eindeutig gut.

Estrela setzt auf eine Art Tagebuchform, immer wieder mit größeren Textabschnitten. Das kennt man von „Skim“, ja, dennoch wirkt Estrelas Heldin Raquel (16) wunderbar trotzig, eigenständig, bissig, ratlos. Das ist unterhaltsam, anrührend, liest sich leicht und hat doch jede Menge Vitamine und Ballaststoffe. Auch dank Estrelas herausforderndem Stil: Als hätte sie den ganzen Band mit einem einzigen dicken schwarzen Filzstift gezeichnet. Sie kann mit ihm zwar weniger aufdrücken – aber dennoch verlangt er ständig digitale Entscheidungen: Welche Kontur zeichnen, welche nicht? Estrelas Entscheidungen zu beobachten, ist dabei ein spannender Reiz für sich. Aber was ist mit dem anderen „schon wieder“?
Protestierende Leberwurst
Denn ja, „schon wieder“ ist ein Mädchen lesbisch oder so, erzählt wird also „schon wieder“ nicht der „Normalfall“, bzw. scheint in diesem Genre geradezu das Nonkonforme der Normalfall zu sein. Und die beleidigte Leberwurst in mir sagt: Das, was Raquel erlebt, die Unsicherheit, die Frage, wie man sich einem Mädchen nähert, wie man seine Zuneigung zeigt, das ist damals doch genau mein Problem gewesen.

Ich musste mich auch Mädchen offenbaren, was riskieren, und keiner hat einen Comic draus gemacht. Und: Mir fällt heute immer noch kein Comic ein, in dem ein Junge genau das erlebt, was Raquel erlebt. Wieso eigentlich nicht? Das kommt doch noch viel öfter vor! Was für ein verqueres Weltbild hat denn diese Comic-Szene??
Aber da schleicht sich natürlich ein Fehler ein.
Vier gute Gründe fürs woke Thema
Hier geht’s nicht ums Abbilden gesellschaftlicher (Mehrheits-)Verhältnisse. Hier geht’s um einen Markt. Erstens ist die Zielgruppe hier eindeutig weiblich. Zweitens ist die lesbische Variante erzählerisch die spannendere. Muss man nicht mögen, ist aber so. Drittens kriegt die Heterofrau die Transferleistung auf ihre eigene Situation vermutlich problemlos gebacken, bei „Boys Love“-Mangas klappt’s ja auch. Und zuletzt hätte ich als Junge damals einen Comic über meine Unsicherheiten weder lesen noch kaufen mögen. Es macht also überhaupt keinen Sinn, hier über lesbische Extrawürste zu klagen, wenn keiner die Heterowurst kauft. Im Kino gibt’s deshalb schließlich auch mehr Superhelden als Putzfrauen.
Und wenn man das kapiert hat, macht „Pardalita“ wieder sehr ungetrübten Spaß.
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- 9. Aug.
Französische Ernte (II): Wie ein großes Comicangebot übersehenen Perlen zur zweiten Chance verhilft – etwa der bittersüßen Zauberwelt des Cyril Pedrosa

Was hat ein Comicfreund vom Frankreichurlaub, wenn er die Sprache nicht complètement connait? Wie (hust) immer noch ich? Beispiel 2: Er flipperkugelt in der Pariser Rue Saint Jacques von einem Comicshop in den nächsten. Die nicht nur bestimmte Themen abgrasen, sondern überhaupt von allen Autoren auch noch die komplette Backlist bereithalten. Weshalb man sich fragt: Warum hab ich nicht mehr von Cyril Pedrosa gelesen? Der sieht doch geradezu unverschämt gut aus!
Null Action, sanfter Witz
Pedrosas „Jäger und Sammler“ ist eine Herzenssache. Als der Titel 2016 auf deutsch erschien, hab ich ihn ignoriert, weil er „irgendwie anstrengend“ aussah. Und dem Leser so wenig entgegenkommt: Er erzählt von verschiedenen Menschen, man weiß nicht, was sie miteinander zu tun haben, es gibt null Action, nur sanften Witz. Was den Comic vorm Weglegen rettete, waren die Figuren und die Bilder.

Wie Pedrosa Menschen beobachtet und sich bewegen lässt, macht große Freude. Die Körperhaltung beim Rauchen, Streiten, In-der-Handtasche-kramen, da ist es völlig egal, worüber sie gerade reden, weil das Gespräch durch die Zeichnungen so viel Leben gewinnt. Obendrein inszeniert Pedrosa Szenen und Dialoge so vielseitig und ideenreich, dass man völlig vergisst, wie unscheinbar die Gesprächsthemen sind.
Die richtige Pose im richtigen Moment
Er wechselt nicht nur die Perspektive, die Panelgröße, er wechselt das Licht, die Farben, den Fokus. Er reduziert etwa in berührenden Momenten die Schärfe, bis nur noch die Gesichter klar sind. Er entfernt die Konturen, tönt Doppelseiten in blaugrau oder auch in pink, Pedrosa öffnet ein regelrechtes Füllhorn der Optionen, dessen Output er aber auch passend dosiert. Als er beispielsweise zwei Doppelseiten Ex-Ehestreit an Weihnachten abfeuert, verzichtet er auf jeden Zusatz, weil ja der Zoff die Szene trägt. Ich brauchte bis zu diesem Streit, um endlich Zugang zu finden.

Denn alle Charaktere sind gleichwertig, und weil sie wenig miteinander zu tun haben, sitzt man anfangs da wie vor einem Haufen Puzzleteile. Man muss sich über die Ecken und Ränder reintasten. Und ich vermute: Je älter man ist, desto lohnender wird’s. Pedrosas Charaktere sind fast alle 40 aufwärts, sie rätseln über das Leben und seine Endlichkeit, ohne dafür alleingültige Wahrheiten liefern zu können.
Muss. Mehr. Pedrosa. Lesen.
Mit 20 hätte ich vermutlich gegähnt. Aber ich bin nicht mehr 20. Vielleicht sollten aber auch nur eine Menge Comics dem Leser einfach im richtigen Alter begegnen. Oder im richtigen Moment. Oder in Paris. Muss. Mehr. Pedrosa. Lesen.

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- 2. Aug.
Unverschämt trifft unbedarft: Was klingt wie ein Manga-Klischee wird in den Händen von Mariko Tamaki zum einfühlsamen Coming-of-age-Knüller

Ist das jetzt noch LGBTQIA-Zeug, frage ich mich. Und dass ich mich das frage, finde schon mal sehr gut. Ich bin erneut auf den Spuren des Vorwerks von Mariko Tamaki, diesmal lese ich „Laura Dean und wie sie immer wieder mit mir Schluss macht“, gerate aber anfangs ins Stolpern.
Kein Junge namens Freddy
Ein Junge namens Freddy schreibt aus dem Off an eine Ratgebertante, dass er in ein Mädchen namens Laura Dean verliebt ist, was offenbar sehr schwer ist. Laura Dean ist so eine junge Brünette, und Freddy ist so ein kurzhaariger Blonder, der sich ein bisschen arschmäßig benimmt, warum beklagt er sich denn dann? Und ziemlich schnell wird klar, dass ich da was nicht gecheckt habe: Freddy ist gar nicht der Junge, sondern die Brünette. Und der blonde Arschmäßige ist ebenfalls ein Mädchen, eben jene Laura Dean.

Mein erster Gedanke, logisch, ist: „Warum sagt einem das denn keiner?“ Einfache Antwort: Weil hier jemand einfach mal mit der Lesberei nicht hausieren geht. Wozu auch: Freddys beste Freundin Doodle ist selbst lesbisch, und Heteros reden ja auch nicht dauernd darüber, dass sie hetero sind: Sie wissen's ja.
Ein ziemlicher Arsch

Sofort begreift man hingegen auch dank des Titels, dass Laura Dean ein ziemlicher Arsch ist. Sie benutzt Freddy nach Strich und Faden, lässt sie bei Langeweile als Pausenkasper antanzen und und bei jeder besseren oder mittelmäßigen Gelegenheit sitzen. Und ansonsten sieht sie zu, dass sie dank ihres Schulstar-Faktors möglichst bessere Gesellschaft findet oder mehr Bewunderer um sich schart, oder, oder, oder.
Wo reicht's?
Elegant gewählt ist, dass diese toxische Liebe keiner 30-Jährigen zustößt, sondern einem Mädchen, bei dem noch einige Stofftiere im Zimmer herumkugeln. Dem diese ganze Erotik-Sex-Liebes-Sache neu ist und das richtige Verhalten komplett rätselhaft. Das erst lernen muss: Was muss man eigentlich hinnehmen? Und wo darf’s einem dann auch mal reichen?
Flirtkampf: David gegen Goliath
Vieles an dieser Coming-of-age-Novel ist nicht neu, aber trotzdem rührend und vor allem spannend. Denn Laura Dean ist zwar nicht viel älter, dennoch so haushoch überlegen, dass man sich einfach auf Freddys Seite schlagen muss. Erfreulich ist auch, wie wurscht das Lesbenthema ist, obwohl es doch ständig präsent bleibt.

Liebe ist Liebe ist Liebe, aus, fertig. Mit einer drolligen Ausnahme: Obwohl Freddy und ihre Freundinnen sich schon sehr progressiv fühlen, halten sie zugleich stur daran fest, dass je zwei Leute sehr exklusiv zusammengehören, nicht etwa drei oder acht. Was da wohl die Polyamourösen dazu sagen?
Mariko Tamaki (Text), Rosemary Valero-O’Connell (Zeichnungen), Annette von der Weppen (Üs.), Laura Dean, und wie sie immer wieder mit mir Schluss macht, Carlsen, vergriffen, aber gebraucht günstig verfügbar, etwa hier.
