Zur Neuauflage des Klassikers „Muchacho“: Eine Handreichung zum zielsicheren Umgang mit dem so sehenswerten wie wechselhaften Emmanuel Lepage
Es gibt was neu Veröffentlichtes von Emmanuel Lepage, „Muchacho“, sogar eine Sammlerausgabe. Aber da muss man aufpassen, weil: Lepage. Er kann fantastisch sein, aber auch durchschnittlich. Das rauszufinden ist jedoch a) nicht schwer und b) sowieso vielleicht nur für mich zutreffend und für Sie gar nicht. Ist nur eine These von mir. Und die geht so: Lepage als Beobachter – immer! Lepage als Reporter – durchaus. Lepage als Erzähler – hm.
Verstrahlte Idylle
Kennengelernt habe ich ihn mit „Frühling in Tschernobyl“: Da war er als Reporter im Sperrgebiet unterwegs, und wie er das Geisterhafte einfing, das war schon sagenhaft. Leider drängen sich dem Leser zu Tschernobyl halt ein paar Fragen auf. Und wenn grad Herr Lepage vor Ort ist, dann wär’s doch praktisch, wenn er mal nachhaken würde. Aber das ist irgendwie nicht sein Ding.
Von der „Reise zum Kerguelen-Archipel“ war ich hingegen sofort begeistert: Da war Zeigen und Erzählen dasselbe. Und vom ähnlich gelagerten Folgeband „Weiß wie der Mond“ galt das genauso. Also sofort den nächsten Lepage bestellt: „Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein“. Doch da war der Eindruck schon wieder ganz anders: Auf über 280 Seiten erzählt Lepage seine eigene Jugend in einer französischen hm, Dorf-WG?
In der Kommune verheddert
Eine Kommune nennt er es, tatsächlich hatten sich verschiedene befreundete Familien in Ende der sechziger Jahre einen großen leerstehenden Hof gekauft. Das Haupthaus wurde der Tagungsort, drumrum bauten alle ihre Häuschen und halfen sich gegenseitig. Lepage wuchs dort auf, er wollte die Geschichte des Orts erzählen, alle zu Wort kommen lassen, alle gerecht behandeln. Eigentlich eine superspannende Story.
Nicht nur, weil das heute kaum noch jemand machen würde. Sondern auch, weil dieses „Dinge gemeinsam machen“ bis in die Welt meiner Eltern und damit auch in meine ausstrahlte: große Vorfreude. Aber was anfangs noch halbwegs klappt, funktioniert immer weniger, je mehr sich die Kommune auseinanderlebt. Da verliert dann der Leser den Durchblick, die Story sich in Details und vielen Personen. Und dem Erzähler Lepage zerfasert der Stoff.
Schöne Schwäche für schöne Schiffe
Die vielen Personen erfordern viele Porträts, mit denen er weit weniger anzufangen weiß als mit Landschaften, wie man an großformatigen Gegenden dazwischen immer wieder sehen kann. Oder mit Schiffen, die er so schätzt, dass er gleich eine ganze Geschichte extra dafür zusammengenagelt hat: „Die Fahrten des Odysseus“.
Dahinter verbirgt sich eine haarsträubende Story, die einen Zeichner und eine Kapitänin hauptsächlich dafür zusammenführt, damit Lepage seine Meere, Segler und Landschaften diesmal in mediterranem Umfeld verorten kann. Das sieht schön aus, aber bei den Dialogen fängt man rasch zu blättern an. Dasselbe geschieht in „Oh, diese Mädchen“, einer episch sein sollenden Geschichte über die Freundschaft dreier junger Frauen, die zwischen Kitsch und Rührseligkeit nur wenige starke Momente findet. Und das, obwohl sich Lepage in beiden Fällen texterische Hilfe geholt hat, allerdings beide Male bei der offenbar wenig hilfreichen Sophie Michel: Und wie man grade verzweifeln möchte, kommt „Ar-Men“ daher.
Der perfekte Marinemaler
Erst letztes Jahr neu aufgelegt: die Geschichte eines Leuchtturms in der Bretagne, mühsam gebaut auf einem nackten bretonischen Felsen mitten im Atlantik. Eine überschaubare Handlung, die Lepage viel Platz für den eigentlichen Star gibt, einen Turm mitten im menschenfeindlichen Nichts. Und hier ist er dann wieder unnachahmlich: Lepage vermittelt einen Ort, an dem man sofort sein möchte und zugleich auch keinesfalls. Wo einem die Brandung praktisch die Seiten umblättert – was ihn in diesem Jahr denn auch als ersten Comiczeichner zur Mitgliedschaft bei den offiziellen französischen Marinemalern qualifizierte. Tja, und um was handelt es sich nun bei „Muchacho“?
Die Geschichte eines jungen malenden Pfarrers im Nicaragua der 70er. Dschungel, Exotik, das alles kriegt Lepage gebacken. Die Story hingegen mäandert von Glaubensfragen zu Malerfachsimpeleien zu einem Widerstands-Abenteuer mit Schwulenproblematik. Und all das wäre nicht so schlimm, wenn Lepage Szenen und Bilder sprechen lassen würde.
Vehikel für den Skizzenblock
Aber bei ihm reden diesmal wieder zu oft die Protagonisten und hören und hören nicht auf. Beispiel: Der junge Maler soll eine Kirche ausgestalten und ist dabei zu konservativ. Der weise alte Pfarrer schickt ihn zum Markt, dort soll er das Leben finden und skizzieren. Der Jungmaler macht genau das, prompt werden seine Bilder besser – aber das ist genauso fad wie es klingt: detailliert ankündigen und detailliert stattfinden lassen ist eben zweimal dasselbe, gähn. Und tut obendrein so, als würden die Leser nicht ahnen, dass die Episode nur ein Vehikel ist für Lepages eigenen Skizzenblock.
Der und die Gegend sind allerdings wieder mal tadellos. Weshalb man sich hier vielleicht auf die Formel einigen kann: Augen auf und durch. Und hoffen, dass die Marine ihren Maler mal wieder ein bisschen über die Meere schickt.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Die Outtakes (20): Ein Gruß vom Altmeister, eine Ebbe im Altmärchens und eine Mixtur mit Alt-Dichtung
Abschied mit Frankenstein
Das also ist das Abschiedswerk des 2017 kurz vor Fertigstellung verstorbenen Grusel-Altmeisters Bernie Wrightson: „Frankenstein Alive, Alive!“. Traditionalisten werden sich wohl dran stören, dass das sonst gut verschraubte, klobige Monster diesmal als eine Mischung aus einem sehr verschlankten Swamp Thing und Iron Maidens Maskottchen Eddie daherkommt. Mir ist die Geschichte der weiteren Karriere des Monsters etwas zu rührselig geraten, aber dafür kommt sie recht opulent daher. Wrightson gönnt sich viele Splashes, und die sind nicht nur einfach aufgeblasen, sondern akribisch zugezeichnet, wie sich’s bei Laboratorien und Bibliotheken anbietet. Effektstark ausgeleuchtet, in düsterem schwarz-weiß, das wirkt schon sehr gut, aber der Story des Kurzgrusel-Experte tut der viele Platz nicht gut. Dass die Erzählerrolle mit dem oft wenig eloquenten Monster auch ein bisschen arg gegen den Typ besetzt ist, ist zwar vorlagengetreuer als manche andere Version, macht die Sache nicht unbedingt einfacher. Trotzdem: Atmosphäre satt.
Bilder-Buch
Da hab‘ ich aber mehr erwartet: Rébecca Dautremer hat zuletzt mit einer fantastischen Version von John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ überzeugt: Sie hat den kompletten Roman illustriert und damit brillant erweitert. Und das erhoffte ich mir auch von „Alice im Wunderland“ – aber diesmal ist’s tatsächlich nur ein bebildertes Buch geworden. Schön bebildert, gewiss, aber eben nur ein bisschen bebildert und, noch viel schader: äußerst konventionell. Während sie in den „Mäusen“ durch eine wahre Bilderflut die Gedankenwelt der Protagonisten frei ausbreitete und zeigte, was ein illustrierter Roman zu leisten imstande ist, sind’s hier erwartbare Illustrationen in einer Bilderebbe. Wer „Alice“ noch nicht im Schrank hat, mag zugreifen, ansonsten entsteht hier leider kein Zusatznutzen.
Mehrdeutig oder orientierungslos?
Ambivalenz ist oft gut. Aber Maren Aminis Berthold-Leibinger-prämiertes Einwanderer-Epos „Ahmadjan und der Wiedehopf“ fabriziert eindeutig so viel des Guten, das geht schon Richtung Orientierungslosigkeit. Ahmadjan (der Vater der Autorin) lernt im Kabul der 70er westliche Lebensart kennen und wandert nach Deutschland aus. In Berlin malt er, entdeckt noch mehr Kunst, all das ist optisch sehr hübsch, karikaturistisch an Sempé angelehnt. Das Problem ist hier schon der Humor, der so niedlich-lieb und schmerzfrei ist, dass er praktisch nicht mehr stattfindet. Was fatal ist, sobald Ahmadjan ausgewiesen und nach Afghanistan zurückgeschickt wird: Amiri schafft es nicht, den harmlosen Tonfall der verfinsterten Story anzupassen, und das beeinträchtigt Pointen und Betroffenheit zugleich. Alles mit einer alten persischen Dichtung zu überlagern/unterfüttern macht den Stoff zudem nicht beherrschbarer. Das Resultat: Viel Gutgemeintes, immerhin sehr oft von ansehnlichen Seiten aufgelockert. Und: Wer Probleme gern watteweich verpackt mag, liegt hier richtig.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Viel mehr als nur Graphic Memoir: Kristen Radtkes Sachcomic „Seek You“ ist eine spannende Einladung zum gemeinschaftlichen Blick auf uns selbst
Das hier ist eine echte Rarität: Ein Titel, der sich aus meinen Outtakes wieder rausgelesen hat. Der also eine gewisse Zeit brauchte. Klingt nicht so comicverführerisch? Kommt noch schlimmer: Trendthema „Einsamkeit“. Das spielen sie jetzt rauf und runter. Und ein richtiger Comic ist’s auch nicht, mehr so ein illustrierter Text, wie bei Liv Strömquist. Eben eigentlich Outtake-Material. Wieso ist also Kristen Radtkes „Seek You“ trotzdem viel besser?
Das Tempo richtig einteilen
Es hat etwas gedauert, bis ich das richtige Tempo für das Buch gefunden habe: Man liest es nicht in einem Haps weg, weil man ins Grübeln kommt. Radtke erörtert nämlich unterhaltsam, aber auch extrem stringent. Erst das zweite Kapitel hat mich richtig eingefangen: Radtke erzählt von ihrer Fernseherfahrung, allein in einer fremden Stadt, wie sie gern abends zu Sitcoms switcht, wo sie alle Charaktere kennt wie alte Freunde. Und weil dort alles familiär und vertraut wirkt. Dabei erzählt sie auch die Geschichte des in Sitcoms eingespielten Archivgelächters.
Das wird zwar oft als bizarre Witzanzeige verspottet, hat aber inzwischen längst noch eine andere Funktion: Als Geselligkeitsimitat vermittelt es dem Zuschauer vor der Glotze die wohlige Illusion, weniger allein zu sein. Von da spinnt Radtke den Faden weiter, über den Unterschied zwischen allein sein und einsam, den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Einsamkeit, die Glorifizierung der Einsamkeit – aber auch den Hang zur Paranoia. Und weil ich gerade erst einen KI-Sachcomic bemängelt habe, interessiert mich jetzt, was Radtke anders und besser macht.
Vom Wohlstand zur Paranoia
Erstens verpackt sie die Debatte nicht in eine Spielhandlung, was ja schon bei diesen ganzen TV-Dokus nervt, wenn siebtklassige Schauspieler schlecht synchronisiert das Geschichtsbuch aufsagen. Sie hält stattdessen einen Monolog. Weil aber Monolog immer ein abschreckender Haufen Text ist, portioniert sie ihn zweitens geschickt. Auf einer Doppelseite können ganze Absätze stehen, aber eben auch nur zwei, drei Sätze. Was uns zu drittens bringt: Dynamik.
Die ehemalige Art-Directorin arrangiert unser Lese- und Denktempo geschickt, indem sie auch mal nur einen Satz zu einem Splash stellt, wenn der Kopf mal länger bei einem Gedanken verweilen soll. Wozu (viertens) übrigens auch gehört, dass man nicht einfach mal schneller und mal langsamer doziert, sondern dass man auch die dafür geeigneten Gedanken findet. Fünftens weiß sie auch, dass man in solchen Fällen nicht einfach abbildet, was man ohnehin schon im Text hat.
Bandbreite Gedanken
Wenn man beispielsweise vom Siegeszug des Fernsehens und vom bequemen Daheimbleiben erzählt, zeigt sie statt einer Familie vorm Fernseher das zeitgleich erfundene TV-Dinner zum Aufwärmen. Damit erweitert sie klug die Bandbreite der Gedanken, verhindert das Abnicken und untermauert zugleich ihre Argumente – eine Methode, die sich wohltuend vom bildlosen Kästchenvollschreiben einer Liv Strömquist unterscheidet.
Das Schöne ist, dass die 37-Jährige so eben nicht einfach weichgekochtes „Food for thought“ liefert, sondern Gedanken al dente: Denkansätze mit einem gewissen Widerstand, in die man gerne beißt und die man vorm dem Schlucken auch nochmal durchkauen mag. Probieren Sie’s! Ich empfehle dazu einen guten Rotwein.