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Comicverfuehrer

Zwei Sachcomics öffnen Welten, die für Fotos nicht zugänglich sind: Die Vergangenheit – und die Todeszirkel Saudi-Arabiens

Illustration: Antoine Vitkine/Christophe Girard - bahoe books.
Illustration: Antoine Vitkine/Christophe Girard - bahoe books.

Manchmal hat man das Gefühl, Sachcomics würde vor allem für zwei Themen genutzt: Drittes Reich und Selbstfindung. Naja, und Biografien. Was schade ist, weil gute Sachcomics eine Menge anderer Themen transportieren können. Glauben Sie nicht? So ein Zufall: Ich hab grade zwei hier, die das beweisen!


Mörderischer Märchenprinz

Illustration: A. Vitkine/C. Girard - bahoe books.
Illustration: A. Vitkine/C. Girard - bahoe books.

Etwa „MBS“ von Antoine Vitkine und Christophe Girard. Hinter den Initialen verbirgt sich der Kronprinz von Saudi-Arabien, Mohammed Bin Salman, von dem Sie womöglich schon gehört haben, weil er hinter dem Auftragsmord am Journalisten Jamal Kashoggi steckt. Texter Vitkine befasst sich schon länger mit Bin Salman, drehte Dokus und liefert jetzt ein aufschlussreiches Szenario. Das zeigt, welche Vorteile der Sachcomic hat.

Reich & arbeitslos


Vitkine schildert Bin Salman als reich, ehrgeizig und verwöhnt: eine brandgefährliche Mixtur. Er ist der kommende Mann eines Landes, dessen herrschende Schicht aus wohlhabenden Arbeitslosen besteht, die das Ölgeld verpulvern und nicht wissen, was sie mit ihrem Leben tun sollen. Die sich abgehängt fühlen, überlegen, religiös auserwählt – und bedroht von der Demokratiebewegung des Arabischen Frühlings. Hier beginnt Bin Salmans Mission. Er will Saudi-Arabien modernisieren, aber sich und seiner Familie bewahren, und wer dabei an „Der Pate“ denkt, liegt gar nicht falsch.


Denn sie wissen nicht, was sie tun sollen


Bin Salmans Konzept ist mafiös, ähnlich dem Trumps oder Putins. Und es korrumpiert die Welt ähnlich schädigend. Vitkine schlüsselt das auf: Bin Salman beeinflusst die Welt durch seine milliardenschweren Militärausgaben. Er kauft Sportevents, er drängt in die Kunstwelt, wo eine Menge seiner Schwächen sich gegenseitig pushen: Er hat „Salvator Mundi“ gekauft, ein umstrittenes Werk, das angeblich von Leonardo da Vinci stammt. Weil Bin Salman jetzt fürchtet, als Trottel dazustehen, der überteuerten Quatsch gekauft hat, drängt er mit seinen Milliarden in den Louvre, um sich dort die Echtheit bescheinigen zu lassen.

Illustration: Antoine Vitkine/Christophe Girard - bahoe books.
Illustration: Antoine Vitkine/Christophe Girard - bahoe books.

Dort widersteht man, noch – aber man sieht, wie Bin Salman Fakten mit Geld verbiegen will. Die Trump-CIA lässt ihm zuliebe bereits Belege für seine Verstrickung in den Kashoggi-Mord verschwinden, eine Welt von Buddies arbeitet Hand in Hand, es scheint momentan nur eine Frage der Zeit, bis man sich gegenseitig noch öfter bei der Beseitigung unliebsamer Kritiker hilft. Aber – was kann der Comichier besser als das Sachbuch?


Nutten: ja – Filmküsse im Kino: nein


Er zeigt, was recherchiert ist, aber nicht fotografiert. Das verwöhnte Königssöhnchen, das seine Entscheidungen an der Playstation trifft, stets neben einer Tüte des traditionellen arabischen Menüs „Hamburger mit Pommes“ vom US-Fastfood-Konzern. Der Zeichenstift kommt dorthin, wo Kameras verboten sind. Vom Pool kickt MBS im Chat mit Trumps Schwiegersohn den Iran aus dem Atomabkommen, unterm Kaftan blitzen die Sneaker, der Kronprinz rauscht zu AC/DC im Sportwagen durch die Wüste und den 30. Geburtstag vervögelt man auf einer Privatinsel mit den besten Kumpels und 150 osteuropäischen Models, während man im Kino harmlose Kuss-Szenen entfernen lässt. Das ist zwar verlogen und bigott, aber die mörderische Brisanz entsteht woanders. Denn Bin Salmans prinzipiell limitierte Möglichkeiten hätten noch vor wenigen Jahren nur zu einem wohlhabenden Schattendasein gereicht. Heute, mit Leuten wie Trump, Putin, Erdogan, macht ihn sein Geschick zur gespenstischen Schlüsselfigur.

 


Geschichte vom Pferd

Illustration: Guy Delisle - Reprodukt
Illustration: Guy Delisle - Reprodukt

Guy Delisle ist immer wieder für eine Überraschung gut. Nach seinen vier Länderberichten enttäuschte er mit mäßig witzigen Vater- und Sohn-Gags, verblüffte mit der Entführungs-Analyse „Geisel“, gastierte im „Donjon“ und erzählte mittelgut von seinem Berufsstart in der Papierfabrik. Und der neue Delisle mit dem Titel „Im Bruchteil einer Sekunde“? Ist eindeutig auf der Top-Seite und schildert die eigenwillige Entwicklung der abbildenden Kunst mit der Entdeckung der Fotografie. Und dazu eine Geschichte vom Pferd.


Holper holper Reiter


Die ist nicht superneu, ich kannte sie beispielsweise von Alexander Brauns Band über Winsor McCay, aber trotzdem spannend: Jahrhundertelang gab es ein Problem beim Zeichnen von Pferden. Weil sie so schnell laufen, wusste man nicht, was im Galopp passiert und behalf sich als Maler meist mit einer Art unbeholfenem Strecksprung: holper holper Reiter. Der Fotograf Eadweard Muybridge löste das Rätsel und brachte damit zwangsläufig das Medium voran.

Illustration: Guy Delisle - Reprodukt
Illustration: Guy Delisle - Reprodukt

Denn um genau im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken, musste er herausfinden, wie man schneller belichtet, empfindlichere Fotos macht, wie man mehrere Kameras hintereinanderschaltet und auslöst. Er entwickelte Fotoserien, und es stellte sich heraus: Wenn man diese Fotoserien schnell genug hintereinander zeigt – dann übersetzt unser träges Auge das wiederum in eine aufgezeichnete Bewegung, eben in einen Film.


Die Leiche im Kreis der Familie


Das an sich ist eine hübsche Episode, aber Delisle hat rund um Muybridge noch eine Menge mehr ausgebuddelt. Die Entdeckung der Fotografie, der Boom der Landschaftsfotos, der Rückgang der Malerei – und deren Ausweichen in den Impressionismus, weil man mit der Naturtreue des Fotos nur schwer konkurrieren konnte. Das Aufkommen der Totenfotos, bei denen man die Leiche im Familienkreis ablichtete. Muybridges Ehedrama samt Liebhabermord. Und, und, und.

Illustration: Guy Delisle - Reprodukt
Illustration: Guy Delisle - Reprodukt

Delisle hat all das nicht selbst erforscht, aber er schildert es vergnüglich, ohne zu übertreiben. Weil er erkennt, dass die historischen Pointen stark genug sind, widersteht er klug der Versuchung, das auch noch zu karikieren. Stattdessen gibt es Reproduktionen der ungeschickten Pferdegemälde, der Serienfotografie, auch der Totenfotos. Zudem spielt er immer wieder einen einzigartigen Vorteil aus: Der Comic ist als Serienbild ja Muybridges Bewegungsfotos praktisch wesensverwandt. Das Ergebnis ist unterhaltsam, informativ, spannend, ruckzuck und launig weggelesen – ein Sachcomic, wie man ihn sich nicht besser wünschen kann.

 




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Hello, America! Fliehende Wissenschaftler gab's schon mal: „Rhapsodie in Blau“ schildert in traumhaften Bildern die Zeit, als die USA noch Zukunft hatten

Illustration: Andrea Serio - Schreiber & Leser
Illustration: Andrea Serio - Schreiber & Leser

Boah, so satt war ich schon lange nicht mehr nach einem Comic. Weil, es heißt ja manchmal, dies oder das wäre „Food for thought“. Gedankenfutter, sozusagen. Dieser Comic ist aber auch noch Augenfutter. Und all das funktioniert obendrein doppelt und dreifach gut, weil ich ihn erst ewig nicht gelesen habe. Sondern erst jetzt, nach vier Jahren im Regal. Der Comic heißt „Rhapsodie in Blau“ und stammt von Andrea Serio.


Sommer ohne Jackett

 

Warum steht ein Comic lang im Regal und wird nicht aussortiert? Weil das Cover zu gut aussieht. Ein Mann im Hemd geht an einer schattigen Mauer entlang. Das Jackett hat er über dem Arm, es ist Sommer. Hinter der Mauer ragt ein lehmfarbenes Fabrikgebäude auf, das sehr flach geziegelte Dach legt nahe: Wir sind in Italien, wo auch schmuckloses verträglich ist.

Illustration: Andrea Serio - Schreiber & Leser
Illustration: Andrea Serio - Schreiber & Leser

All das wird dominiert von: Blau. Der Himmel, der Schatten, der auch von einem riesigen Baum kommt, all das mit Buntstift oder auch Kreidestrichen, heiß und kühl und so attraktiv, dass die Frau, die mit mir in der Wohnung wohnt, sofort sagt: „Das ist aber schön.“ Und genauso macht Serio weiter.


Prädikat: augenfreundlich


Mit einem Schiff auf dem Meer. Es sind offenbar US-Soldaten, auf dem Weg nach Europa im Jahr 1944. Viel Blau in großzügigen, augenfreundlichen Panels, selten mehr als fünf pro Seite, mit Stiften und Kreiden schön satt angelegt. Und dann eine Rückblende, denn der Soldat Goldstein war nicht immer Soldat.

Illustration: Andrea Serio - Schreiber & Leser
Illustration: Andrea Serio - Schreiber & Leser

Er ist Italiener. 1938 badet Goldstein mit seinen Freunden im kroatischen Medea, 20 Kilometer Luftlinie vom italienischen Triest. Strand, Spaß, Pinienhaine, junge Studenten, die das Leben vor sich haben. Bis Mussolini spricht, und den Studenten die Zukunft nimmt. Denn sie sind Juden.


Neue Heimat in New York


Goldstein und seinen Freunden gelingt es, auszuwandern. Nach Amerika. Serio erzählt auch das in großen Bildern mit viel Meer, viel Dampfer, Abschiedsschmerz und tiefblauem Fernweh. Denn Goldstein findet in New York ein neues aufregendes Zuhause, das Serio ebenso großzügig in Bildern schildert wie zuvor Meer und Strand und Italien.

Illustration: Andrea Serio - Schreiber & Leser
Illustration: Andrea Serio - Schreiber & Leser

Aber die Nazis sind dadurch nicht weg. Sie versenken Schiffe vor Manhattan. Goldstein beendet sein Studium, aber  er findet, er müsste mehr tun. Also meldet er sich zur Armee, um Europa und Italien zu befreien. Das Schöne dabei: Serio debattiert das nicht aus, er zeigt die Zerrissenheit des Auswanderers in superknappen Dialogen und extrem attraktiven Panels. Das ist dennoch keine Schönfärberei, sondern vor allem eines: ungemein anregend.


Statt Löwenmut: bunkerndes Eichhörnchen


Denn die Gedanken drängen sich von selbst auf: Junge Wissenschaftler, denen man die Zukunft nimmt,  fliehen? In die USA? Geht das nicht heute gerade andersherum? Wenn auch (noch) nicht mit einer rassistischen Komponente, sondern aus schierer Blödheit? Und waren diese USA nicht mal ein löwenmutiges Land, das Demokratie exportierte, Menschen eine Chance gab und dadurch reich wurde? Anstelle sich wie ein verschrecktes Eichhörnchen damit zu begnügen, die eigenen Nüsslein zu bunkern?

Illustration: Andrea Serio - Schreiber & Leser
Illustration: Andrea Serio - Schreiber & Leser

Serio stellt all diese Fragen, gibt aber keine Antworten. Wie auch: Der Comic entstand 2019. Damals stand eher Europas Rechtsruck Pate, Trump 1.0 wirkte noch wie ein vorübergehende Verirrung. Heute kommt man ins Grübeln, aber ein Teil der Grübelei wurzelt auch im überwältigenden Gegensatz von trostarmer Gegenwart – und diesen melancholischönen Buntstiftwelten.

 





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Gut kopiert statt schlecht erfunden: Dieses Krimi-Duo klaut bei Klassikern - und macht dabei den Originalen alle Ehre

Illustration: Kieran/Doug Headline/Richard Stark - Schreiber & Leser
Illustration: Kieran/Doug Headline/Richard Stark - Schreiber & Leser

Das passiert auch nicht so oft: Guter Krimistoff, teils sogar sehr gut – und das gleich im Doppelpack. Beide Comics bauen übrigens auf bewährten Vorbildern auf, was sie zwar ein bisschen weniger originell macht, aber dafür zugänglicher. Heißt: Sie brauchen praktisch keinerlei Eingewöhnungszeit, das rutscht ins Blut wie Traubenzucker.


Grundlos gute Krokodile

Illustration: Bastien Vivès - Schreiber & Leser
Illustration: Bastien Vivès - Schreiber & Leser

Band 1 stammt vom großen Bastien Vivès, der hier wieder einmal sehr kunstbefreit einfach losspielt. Diesmal ist es eine Abenteuergeschichte, die sich – wenn nicht alles täuscht – ungehemmt an den Tauchklassiker „Die Tiefe“ anlehnt. In „Honeymoon“ macht ein gut aussehendes Paar ohne Kinder (bei Oma!) Urlaub am Mittelmeer, wird von einem Bekannten zu einer Party eingeladen, die auf einer Luxusyacht stattfindet. Doch dort sind die Gäste samt und sonders Gangster, Waffenschieber, üble Gestalten, die Party wird rasch unangenehm und kurz nachdem das Paar es knapp vom Schiff geschafft hat, fliegt es in die Luft und sinkt.

Illustration: Bastien Vivès - Schreiber & Leser
Illustration: Bastien Vivès - Schreiber & Leser

Im Schiffsrumpf eingeschlossen ist ein Escortgirl, weshalb unser Paar beschließt, sie zu retten. Vivès macht sich all das bewundernswert leicht: Hier sollen Sommer und Sonne und Meer zusammenkommen, es soll Action rein, deswegen müssen im Mittelmeer gigantische Haie herumpaddeln, es kommt noch ein mysteriöser antiker Giftfalter dazu und überhaupt greift er komplett spielfreudig zu jeder Menge Klischees. Aber all das kann man ihm recht leicht verzeihen, weil’s a) schön aussieht, b) Vivès jedesmal, wenn man sich „Hä?“ denkt, einfach mit Action und Gewalt drüberbügelt.

Illustration: Bastien Vivès - Schreiber & Leser
Illustration: Bastien Vivès - Schreiber & Leser

Dialoge gibt’s nur sparsam. Das ist so rücksichtslos durchgezogen, dass sich im Vorsatzpapier sicherheitshalber auch noch Krokodile einfinden, die im Comic gar nicht vorkommen – ein Prinzip, das Vivès schon bei der (gleichermaßen empfehlenswerten) „Olympia“ nutzte. Aber wer oberlehrern will: ein titelgebender „Honeymoon“ ist ja genauso wenig zu erkennen: Prädikat „Wenn schon, denn schon!“

 


Wortkarg, pragmatisch und supercool

Illu: Kieran/D. Headline/R. Stark - Schreiber & Leser
Illu: Kieran/D. Headline/R. Stark - Schreiber & Leser

Noch deutlicher am Vorbild klebt Band 2: „Eine Falle für Parker“ bezieht sich direkt auf Darwyn Cookes kongeniale Umsetzungen der „Parker“-Romane von Richard Stark („Payback“ ist der bekannteste, meistverfilmte). Die Romane spielen im US-Gangstermilieu der 60er/70er Jahre, zeigen einen eigenen, harten und wortkargen Kodex, ungeschönte Brutalität und pragmatischen Geschäftssinn. Der früh verstorbene Cooke setzte das in eine sparsame-coole Schwarz-weiß-Optik samt einer Schmuckfarbe vorbildlich um, Zeichner Kieran und Szenarist Doug Headline (eigentlich Tristan Jean Manchette) machen genau hier weiter, die Vorlage stammt von Stark (eigentlich Donald E. Westlake), denn es sind noch reichlich Parker-Romane nicht umgesetzt.


Suchen ohne Google


Diese Parkerwelt hat ihre eigene Faszination: Diesmal wird der Titelheld nach einem Bankraub um die Beute betrogen, der Betrüger setzt sich ab und Parker muss ihn mühsam in den Prä-Internet-USA suchen. Headline lässt dabei wie Cooke seinen Parker wenig sagen und viel Härte zeigen.

Illustration: Kieran/Doug Headline/Richard Stark - Schreiber & Leser
Illustration: Kieran/Doug Headline/Richard Stark - Schreiber & Leser

Wie Cooke nutzt auch Kieran (eigentlich Sebastien Kieran) das Szenario zum Schwelgen in diesem kalt-eleganten 60er/70er-Design, in dem man dauernd erwartet, dass Steve McQueen oder Alain Delon um die Ecke kommen. In dem Häuser schräg verwinkelt sind und große Glasflächen haben, in Wohnungen überall Whisky herumsteht und Autos so schwarz und kantig daherbrummen wie gigantische, schwebende Dominosteine. Kieran bleibt beim bewährten Schwarz-weiß-blaugrau, seine auffälligste Zutat sind eigenwillige Schattierungen mittels unterschiedlich groß aufgeblasener Fingerabdrücke, wie man sie von Michael Mathias Prechtl kennt. Zugegeben: Nichts davon ist neu ausgedacht, aber Cooke hätte angesichts der Werk- und Vorbildtreue sicher keine Einwände. Außer, dass er's lieber selbst gemacht hätte.






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