Die Outtakes (5): Einsame Gangster, halbe Leben und ein Déja vu – ab hier lesen Sie auf eigene Gefahr

Schwallender Schweiger
Ein stiller Mann fährt im Wohnmobil durch die Wüste, wo er sich bewaffnet in den Schatten setzt und wartet. „Die Schlange und der Kojote“ hat alles, was neugierig macht: Tolle Landschaft, Einöde, die Waffe, mit der er nicht gejagt wird, sondern gewartet. Weil jemand kommen wird. Dorthin, wo sonst niemand hinkommt. Was kann man jetzt noch falsch machen?
Man lässt dem Schweigsamen einen jungen Kojoten zulaufen, den er daraufhin zuschwallt. Dann gibt's noch FBI-Agenten, einen Marshal, und alle, alle erklären sich gegenseitig alles doppelt und dreifach. Zeichner Philippe Xavier kann nichts dafür, Szenarist Matz müllt ihm jede Atmosphäre mit Text zu, mit Text und nochmal Text. Schade drum.
Body-Sharing

Die Story an sich ist schön mysteriös: Der junge Lubin stellt plötzlich fest, dass ihm jeder zweite Tag komplett fehlt. Nach und nach bemerkt er: Eine zweite Persönlichkeit ist an diesen Tagen mit seinem Körper im Einsatz. Er beginnt mit ihr durch Zettel und Videos zu kommunizieren, er beginnt sich damit zu arrangieren, macht Kalender, wem der Körper wann gehört – und Moment mal! Das ist doch komplett blödsinnig. Wenn mir jemand mein halbes Leben klaut, arrangiere ich mich nicht, ich will’s zurück! Und wenn schon Lubin kein gesteigertes Interesse an seinem Leben hat, warum soll’s dann ich als Leser haben? Doch wenn Sie sich mit der Sharing-Idee bis hin zum Teilzeitkörper anfreunden können, klappt es vielleicht.
Timothé le Boucher, Christiane Sixtus (Üs.), Jene Tage, die verschwinden, Cross Cult, 35 Euro
Zweiter Platz nach 20 Jahren

Haben Sie Steven Spielbergs „Artificial Intelligence“ gesehen? Dann wird es Ihnen wie mir gehen: Sie werden sich fragen, ob „Made in Korea“ der Comic zum Film ist. Ist er nicht, soviel vorweg. Und: Spielberg war nicht nur 20 Jahre schneller, er ist auch berührender. Doch die Geschichte von Jeremy Holt und George Schall holt sich trotzdem einen soliden zweiten Platz. Tatsächlich entdeckt Szenarist Holt in der Story um das Robotermädchen Jesse ein paar Optionen, die Spielberg nicht nutzte, etwa die Einsetzbarkeit als Terrormaschine. Man wundert sich jedoch, warum sich Holt nicht mehr Mühe gab (oder von der Redaktion nicht mehr gedrängt wurde), dem Film auszuweichen. Die zögerliche Annäherung der Eltern an die Idee eines Robo-Kinds, die Verführbarkeit und Naivität des klugen Maschinchens, all das ist so parallel zu Spielberg, das man es Holt einfach nicht anrechnet.
Daher bin ich für den Schlussbonus besonders dankbar: Sechs Kurzgeschichten anderer Autoren zum gleichen Thema, jede davon überraschender als der eigentliche Hauptteil.
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George Orwells satirischer Klassiker Animal Farm ist jetzt doppelt als Comic erhältlich: Es ist an der Zeit für einen kleinen Contest

Immer wieder gut: „Farm der Tiere“ von George Orwell. Sie wissen schon: Die Fabel über die Revolution, bei der erst die Tiere die Macht übernehmen, dann aber die Schweine sich als sehr menschenähnliche Ausbeuter an die Spitze setzen. Ähnlichkeiten mit Diktaturen im Allgemeinen und der Sowjetunion Stalins im Besonderen sind natürlich gewollt. Zweifellos ist das Material für einen Comic, wie ihn gerade der Knesebeck-Verlag herausgebracht hat. Etwas überraschend, weil vor knapp drei Jahren Panini bereits dasselbe gemacht hat. Was eine willkommene Gelegenheit zum Produkttest ist: Wer liefert die bessere Variante?
Preislich geht's um fünf Euro
Von den Kosten her hat Knesebeck die Nase vorn: Die französische Version von Patrice Le Sourd (Zeichnungen) und Rodolphe (Text) ist mit 20 Euro etwas günstiger, hat das größere Albumformat, aber weniger Seiten (48). Die Version des Brasilianers Odyr (bürgerlich: Odyr Bernardi) kostet 25 Euro, bietet dafür 180 Seiten, die zwar etwas kleiner sind, aber unterm Strich deutlich mehr Platz ergeben. Die Frage ist freilich: was macht wer aus seinen Voraussetzungen?

Rein optisch ist der Ansatz von Patrice Le Sourd kommerziell zugänglicher: Die Geschichte kommt in sauberen Panels, konventionellen, aber nicht anbiedernden Zeichnungen. Odyr hingegen zeichnet mit breiten Farbstrichen, spielt deutlich nuancierter mit Licht und Atmosphäre, verteilt den Text mal zu den Bildern, mal mit Sprechblasen.
Wer hat wieviel Platz? Wer nutzt ihn?
Und Odyr nimmt sich den Platz, den er hat, auch um explizit Zeit vergehen zu lassen. Was dem Farmleben, der Abfolge der Jahreszeiten, entgegen kommt. Es ist vor allem dieser Vergleich, der zeigt, dass die Knesebeck-Variante Probleme hat, alles unterzubringen.

Hier wird es tatsächlich knifflig: Denn wer die Wirkung von „Animal Farm“ hervorrufen will, braucht tatsächlich trotz des kurzen Ausgangstexts ein bisschen Zeit. Er muss den Traum der Tiere von der gerechten Welt ausbreiten, ihr Leid, ihre Hoffnung – und er darf deren Enttäuschung nicht zu hastig abklappern. Schon der Traum des alten, sterbenden Schweins „Old Major“ im Stall kriegt bei Rodolphe/Le Sourd nur knapp zehn Panels, in denen auch noch die Hymne „Tiere Englands“ abgeliefert werden muss. Odyr hat die doppelte Zahl Panels, er kann Old Majors Ansprache rhetorisch ausbreiten. Le Sourd kann den Stall nicht verlassen, Odyr kann eindringliche Symbolbilder liefern, und die Hymne ist nicht nur komplett abgedruckt, es reicht auch noch für den (originalgetreuen) Hinweis, dass die Tiere so begeistert sind, dass sie das Lied fünfmal hintereinander singen. Es sind solche sarkastischen Details, die einem die Tiere, aber auch die literarische Vorlage näherbringen.
Wer kürzt wie – und wo?
Interessant ist auch die unterschiedliche Kürzung. Als das idealistischere Schwein Schneeball verjagt und vom verbliebenen Oberschwein Napoleon ab sofort für alle Fehlschläge verantwortlich gemacht wird, kann das kräftige Pferd Boxer die verordnete Kehrtwende von Schneeball als Held zum Verräter nicht glauben. Boxer wird zurechtgewiesen. Kurze Zeit später veranstaltet Napoleon Schauprozesse und lässt die Verurteilten von seinen Hunden zerreißen. Auch Boxer wird angegriffen, kann sich aber dank seiner Kraft durchsetzen. Odyr kürzt den Angriff auf Boxer weg, behält aber die blutigen Schauprozesse. Nachvollziehbar: Napoleon wird sich später ja noch an Boxer für dessen öffentlich geäußerte Zweifel rächen. Rodolphe hingegen behält Boxers Sieg, streicht dafür die brutalen Schauprozesse. So triumphiert bei Odyr und Orwell Napoleon, aber bei Rodolphe ist es Boxer. Ohne jede Not.

Das macht einen dann ein wenig misstrauisch, ob Rodolphe sich noch weitere, ähnliche Freiheiten nimmt. Was er tut, in mindestens einem Fall, dem der Farm-Verfassung der Sieben Tiergebote. Die sind anfangs klar und eindeutig, werden aber allmählich von den Schweinen verwässert. Was Rodolphe so attraktiv findet, dass er das Original-Ende gleich doppelt variiert. Der bekannte Satz „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher“ ziert bei ihm munter das Ende der Sieben-Gebote-Liste – und das ist dann das Ende des Comics. Im Buch hingegen ist dieses Gebot als einziges überhaupt noch übrig.
Was verstand schon Orwell von Büchern?
Odyr vertraut hingegen dem Original. Und findet danach auch noch Platz für Orwells tatsächlichen, effektvolleren, eindringlicheren Schluss, der bitter den Wandel der Schweine von Revolutionären hin zu einer anderen Sorte Mensch bilanziert. Rodolphe sieht den Gedanken schon auch, verlegt ihn aber vor und unterschätzt ihn, weil er kaum erwarten kann, seine Gebotstafel-Idee zu präsentieren. Was wusste schon Orwell vom Bücherschreiben?

Fazit: Die Variante von Rodolphe/Le Sourd funktioniert schon auch, wenngleich etwas hektisch und holprig. Dem Original deutlich näher kommt Odyr, nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Wirkung. Weshalb ich wohl die fünf Euro mehr ausgeben würde.
Odyr, Kerstin Fricke (Üs.), Farm der Tiere, Panini, 25 Euro
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Erotik-Fantasy mit einem Schuss Humor: Was klingt wie ein ungenießbarer Mix, macht Stjepan Sejic zu einer sehenswerten Lesenswürdigkeit

Heute hab ich mal was ganz anderes im Angebot: erstaunlich gute Kommerzkacke. Soft-Erotik, wohl vorwiegend an Frauen gerichtet, optisch extrem zugänglich, mit Fantasy-Elementen, kurz – eigentlich so gar nicht meine Baustelle. Aber wie gesagt: gut gemacht. „Fineprint“ heißt der Band, getextet vom Kroaten Stjepan Sejic, gezeichnet auch. Und zwar so attraktiv, dass ich anfangs extrem skeptisch war.
Graumaus trifft Fickmichs
Ich meine: Schon im Vorsatz (fachdeutsch für die Doppelseite direkt hinterm Buchdeckel) ist eine Tante im Bikini mit hüfthohen Fickmichstiefeln und Spockohren, ein Typ im String-Tanga mit Fickmichauchstiefeln und Hörnern. Über beiden eine junge Frau mit Graumausbrille, die erst gar nicht hinsehen mag, dann aber hinsehen muss und staunt, und – hoppla! Da ist schon was Gutes: Der Gesichtsausdruck von Graumaus.

Erst ist sie erschrocken, abgestoßen und hält den Unterarm verkrampft vor die Augen. Dann lässt sie den Arm sinken, die Hand öffnet sich, ihre Augen sind groß und überrascht. Das ist gut getroffen. Und die Anatomie der Fickmichleute ist auch tadellos. Und jetzt erkenne ich: Das ist der Gegenschuss der Szene mit den zwei Fickmichs. Denn Graumaus ist im Bild unten zwischen den Fickmichs, aber mit dem Rücken zu mir, die beiden Gesichter von ihr sind ihre Reaktion, das ist clever gemacht.
Also gut, schauen wir rein!
Als erstes treffen wir Graumaus wieder. In einem Meer von pinkfarbenen Schmetterlingen. Graumaus läuft Blut aus Nase und Mund. Graumaus wird sterben. Ein dramatischer Anfang mit guter Optik: Nicht nur wegen der Pinkflut, auch der Bildschnitt ist wirklich überzeugend. Aber Graumaus ist nicht allein: Neben ihr kniet eine engelartige Frau und eine teufelartige Frau, beide streiten über irgendwas, das wir geschickterweise nicht lesen können. Dann erzählt uns Graumaus ihre ziemlich unverständliche Geschichte.
Dialoge wie bei Terry Moore
Im Himmel tobt offenbar ein Kampf zwischen den Cupids (die Leute mit Liebe infizieren) und irgendwelchen Succuben (die für die Geilheit sorgen). Die Menschen geraten irgendwie dazwischen, aber über all das kann ich hinwegsehen, weil Seijic den unverständlichen Unsinn in Dialogen ausbreitet, die allem Quatsch zum Trotz sehens- und lesenswert sind. Da passt das Gesagte, da passt jede Reaktion, die Gestik, die Mimik, als Vergleich fällt mir dazu am ehesten noch Terry Moore („Strangers in Paradise“) ein. Verstehen tu ich zwar noch immer nichts, aber ich kann mich jedesmal auf die Seite der Ahnungslosen schlagen und fühle mich trotzdem gut unterhalten.

Für eine Atempause sorgt eine (sehr verständliche) Liebesgeschichte einer jungen Dame mit Zahnspange, die Sejic geduldig und gewitzt einfädelt, und dann packt Seijic allmählich den Sex aus. Der spielt zwar wieder mal bei den verquasten Göttern, wird aber anregend und humorvoll inszeniert, was nochmal Bonuspunkte geben muss, weil Sex und Humor sich leicht gegenseitig die Wirkung nehmen können.
Tja, und da wären dann noch die Bilder.
Viel Platz, viel Farbe - beides gut genutzt
Das Schöne ist nicht nur, dass die Story statt im schwarz-weiß-kleinen Mangaformat albumgroß und bunt erscheint, sondern dass Seijic mit dem Platz und der Farbe auch was anfangen kann. Er gibt seinen Szenen Platz und Zeit, den Protagonisten seitengroße Splashes (auf denen sie auch was zu sagen haben, das man minutenlang ansehen möchte). Er arbeitet überzeugend mit Licht und Schatten, wodurch die hellen Farben auch immer wieder verführerisch glühen, strahlen, glitzern. Er wechselt Perspektiven, dass es nicht nur beim Sex eine Freude ist.
Und das ganze Wunder vollbringt er, wohlgemerkt, mit einer Story, bei der vermutlich nicht nur Fantasy-Laien häufig rätseln, ob es sich hier um komplettes Chaos handelt oder eher um groben Unfug. Und die man trotzdem eben nicht nur anschaut, sondern, noch größeres Wunder, sogar liest. Was anstrengend werden kann: Seijic ist seit über 15 Jahren im Geschäft – wem „Fineprint“ gefällt, der findet allerhand zum Weiterprobieren.
Stjepan Stejic, Sandra Kentopf (Üs.), Fineprint, Panini Comics, 29 Euro