Die Outtakes (8): Was verbindet die Mafia, die Russen und das Leben? Manchmal muss man vor allen dreien weglaufen
Leben undercover
Bitter, aber nicht bitter genug – und das ist gleich ein drittes Mal bitter: Eigentlich ist „I’m still alive“ von Roberto Saviano ein glaubhaft autobiografisches Porträt des italienischen Autors, der seit 15 Jahren von der Mafia bedroht wird. Er führt ein Leben unter Personenschutz, reist undercover, wohnt in Hotelzimmern oder Polizeistationen, nicht unähnlich wie der Autorenkollege Salman Rushdie. Das Leben ist ermüdend, entnervend, aber auch sehr wenig abwechslungsreich. Und das ist auch im Comic spürbar: Was auf den ersten 30 Seiten noch empört, fängt rasch an sich zu wiederholen. Weshalb man beginnt, diese Langeweile ausgerechnet Saviano vorzuwerfen, dem sie ja von der Mafia aufgezwungen wurde. Oft hilft hier Zeichner Asaf Hanuka, der immer wieder ungewöhnliche Bilder für Savianos unfreiwillige Routine findet. Aber alles kann auch er nicht aufpeppen.
Perspektivwechsel
Uli Oesterles „Vatermilch“ war 2020 ein richtiger Volltreffer: der schaurig-schöne Absturz des Markisenvertreters und Vorstadtcasanovas Rufus Himmelstoss im München der 70er Jahre. Als vierbändige Serie ist die Geschichte angelegt, recht ehrgeizig, weil der obdachlose Antiheld eigentlich kaum noch tiefer sinken kann als am Ende von Teil 1. Doch Oesterle kann sich's nicht ganz frei aussuchen, weil die Handlung von der Geschichte seines Vaters inspiriert ist. Die Perspektive hätte man deswegen allerdings nicht ändern müssen: Himmelstoss ist jetzt Ich-Erzähler, der meist wortreich schildert, was die Leser eigentlich erleben sollten. Zudem muss Himmelstoss hinter Oesterles Vater her nun auf den dramatisch unattraktiveren Weg der Läuterung einbiegen, den er lang und breit mit Pennerkollegen diskutiert. Weshalb man statt der Kälte der Straße (Band 1) oft eher die Lauwärme eines Priesterseminars spürt. Für Münchner bleibt der Band allerdings Pflicht: Denn optisch ist Oesterle nach wie vor eine Klasse für sich, und was er aus Vierteln, Straßen, Brücken und Gebäuden der Stadt herausholt, ist Zeitreise und Stadtporträt in einem.
Arme Kühe
Man hätte mehr Brisanz erwartet: In einer Zeit, in der Ukrainer oder Palästinenser auf der Flucht vor der Fackel des Krieges ihre Heimat verlassen müssen, könnte ein Comic wie „Kannas“ Verständnis wecken, warnen, mahnen, wasweiß ich. Denn „Kannas“ widmet sich der Flucht der Karelier 1944 vor der Roten Armee. Und der bereits 2016 erschienene Band dürfte seinen Import nach Deutschland sieben Jahre später natürlich auch der Entwicklung in der Ukraine verdanken. Aber letztlich verheddert sich hier Vieles: So erliegt das Projekt oft der faszinierenden Authentizität zeitgenössischer Fotografien, die großzügig eingebunden werden. Es richtet viel Augenmerk (wegen der vorhandenen Bilder?) auf die Kühe. Und es ignoriert komplett den geschichtlichen Hintergrund, der durchaus ambivalent ist: Ja, erst überfiel die Sowjetunion 1939 Finnland, aber mit Hitlers Überfall auf die Russen ergriffen die Finnen die Chance zur Revanche eben an der unseligen Seite der Nazis. „Kannas“ bleibt im Ungefähren und wird zu einem Mix aus „Harte Zeiten“ und „Ach, die armen Kühe“, eine Art „Ein Kessel Unschönes“. Was bei allem Leid und Elend eben nur halbbetroffen und eher ratlos zurücklässt.
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Der Reiz der Authentizität macht Comic-Biografien zum Trend, hat aber seine Tücken. Drei Beispiele zwischen Annäherung und Abgreife
Der Vorteil von Biografien liegt auf der Hand: Es entfällt der schöne Vorspann-Satz „Nach einer wahren Geschichte.“ Alles ist echt! Alles ist wirklich passiert! Weshalb der Autor eigentlich aus dem ganzen echten Kram nur noch die Rosinen raussuchen muss, oder?
Leider ergeben lauter Rosinen zunächst mal nur einen Haufen Rosinen. Man braucht also doch wieder sowas wie einen Teig drumrum. Und das kriegen nicht alle Biografie-Bäcker hin. Jedenfalls nicht bei diesen drei Beispielen.
Schwacher Start, starker Spurt
„Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist eigentlich schon ziemlich gut. Etwas Etikettenschwindel ist zwar beim Leben des in Südamerika untergetauchten Auschwitz-Arztes dabei: Vorlage ist der gleichnamige Roman von Olivier Guez. Doch was Jörg Mailliet daraus zeichnet, ist sehenswert. Eine subversive Atmosphäre dank viel Schwarz und Schatten. Sparsame Details, was bei ihm (wie bei Jacques Tardi) dazu führt, dass das lesende Auge Feinheiten selbst ergänzt. Abwechslungs- und einfallsreiche Bildeinstellungen, eine gute Auswahl von Panels und sehenswerten Splashes. Eine schöne Kolorierung, die von einer braunvergilbten Vergangenheit in eine sonnendurchflutete Gegenwart alles hergibt. Einziges Problem: Szenarist Matz, der erneut Dinge lieber erklärt als zeigt. Die erste Hälfte des Bandes ist voller Vorträge, die irgendwer irgendwem hält oder auch einfach mal endlos für sich selber denkt. Überraschend lässt das ausgerechnet in der zweiten Hälfte nach: Denn obwohl Mengele gerade hier oft allein im Urwald sitzt, hält sich Matz plötzlich angenehm zurück, der Band wird gegen Ende hin fesselnd. Warum denn nicht gleich so?
Lemmy und die Trittbrettfahrer
Erwartungsgemäß furchtbar: „Motörhead – der Aufstieg der lautesten Band der Welt“. „Erwartungsgemäß“, weil Musikbiografien erfahrungsgemäß gefährdet sind, auf Hits und Klischees reduziert zu werden. Hier haben zwei Autoren ein Szenario für drei Zeichner zusammengekleistert, bei dem „Motörhead“-Mastermind Lemmy Kilmister möglichst oft dem Leser zuprostet, rumknutscht, irgendwelche Songzeilen singt, uralte Anekdoten erlebt. Ebenfalls erwartungsgemäß kubikschlimm: Liveszenen.
Wenig ist schwieriger als die Bewegungen eines Rockkonzerts zu einer Momentaufnahme zu verdichten: Weil die attraktiven Momente der Instrumente kaum gleichzeitig stattfinden. Also macht auch hier die Gitarre dies, der Bass das, der Drummer rudert irgendwie dazu. Hingegen entfällt der Versuch, den einzigartigen „Motörhead“-Sound rund um Kilmisters dumpfe Bass-Akkorde darzustellen, genauso wie das Ausleuchten der charakterstarken Person Lemmy, die diesen schwerverkäuflichen Hochgeschwindigkeits-Klangbrei praktisch im Alleingang zum coolen Klassiker machte. Nein, das alles liest sich nicht nach Hommage, sondern eher nach Trittbrettfahrerei. Darauf keinen Whisky-Cola.
Brillanz in blassblau
Und der Sieger ist: „Madeleine, die Widerständige“. Hätte ich auch nicht gedacht, weil ich zuallererst meinte: „Ach je, schon wieder Drittes Reich!“ Das Szenario von JD Morvan beruht auf seinen Interviews mit der Résistance-Kämpferin Madeleine Riffaud und zieht den Leser geschickt in die beklemmende Untergrundarbeit. Denn: Wo findet man denn überhaupt diese Résistance, wenn man als junge Frau empört über den deutschen Einmarsch mitmachen möchte? Morvan zeichnet in Band 1 (von drei geplanten) die ersten Schritte einer ungeduldigen 17-Jährigen, die mühsam Verbindungen knüpft und sich zwischen Beziehung und Besatzung zu beweisen versucht (wer's kennt: Es geht in der Praxis ziemlich in die Richtung von Jean-Pierre Melvilles düsterer „Armee im Schatten“).
Der Gefahr des Abenteuer-Abklapperns entgeht Morvan, indem er einerseits gerade das Spannende in den stillen Momenten entdeckt, und indem er Zeichner Dominique Bertail die großen Momente fast wortlos überlässt. Die regennassen Straßen, den Tieffliegerangriff auf wehrlose Flüchtlinge, Morvan legt nur einige Gedanken Madeleines dazu, die Action, die Atmosphäre vertraut Morvan Bertail an. Eine seiner stärksten Szenen: die Ankunft Madeleines in der TBC-Klinik in den Bergen. Bertail zeichnet schwarz-weiß, nur mit Blau als Ergänzungsfarbe, aber im Unterschied zum gleichartigen Motörhead-Band (oben) weiß er damit was anzufangen. Und so taucht auf der ganz von Bergrücken überragten Seite unten ein Taxi aus dem blauweißen Schnee. Nur zwei kurze Sätze sagt der Taxifahrer, bis sich zum Schluss die Klinik blassblau aus dem blendenden Weiß schält. Hübsch, aber keiner sagt, dass spannende Weltkriegs-Geschichten nicht auch mit zauberhaften Bildern arbeiten dürften.
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Als Cartoonistin berühmt, aber als Autobiografin viel besser: Marie Marcks' grandiose Aufzeichnungen ihrer sehr deutschen Geschichte
Heute wird’s günstig. Weil alt. Heißt: Sie werden sich möglicherweise (s.u.) auf dem Gebrauchtbüchermarkt bedienen müssen. Ja, sorry, ist halt so. Und eigentlich gar nicht sorry, denn Sie wissen doch: Comics bedeuten Kohlenstoff im Regal statt CO2 in der Atmosphäre. Alles klar? Gut. Thema heute: Marie Marcks. Und zwar ihre beiden autobiographischen Bände „Marie, es brennt!“ (1984) und „Schwarz-weiß und bunt“ (1989). Jaaa, sehr alt. Aber unglaublich lohnend.
Die Frau mit der Wärmepumpe
Ich kannte Frau Marcks bislang vor allem aus Rororo-Rotfuchszeiten, also vom Kinderbuch. In den 70ern machte sie comicartige Bildgeschichten aus dem Familienleben, in denen Kinder gegen Atomstrom demonstrierten, aber gerne den ganzen Tag das Licht brennen und den Wäschetrockner glühen ließen. Die Stories waren witzig, gut beobachtet, man erkannte sich als Erwachsener und als Kind wieder. Und, beim kürzlichen Wiederlesen, was fand ich da, fast 50 Jahre alt? Die Empfehlung einer Wärmepumpe. Nur mal so am Rande.
Als letztes Jahr zu ihrem 100. Geburtstag alle an sie erinnerten, bestellte ich, was mir noch fehlte. Was zu einer großen Enttäuschung führte und zu einer noch größeren Entdeckung. Die Enttäuschung: Marcks‘ Cartoons waren oft mau. Sehr gut gemeint, aber arg platt, und der Unternehmer ist immer der böse Doofi. Umso besser, bewegender, treffender war Marcks als bebilderte Erzählerin.
Zwischen Karotten und Briketts
Besonders schön: Das funktioniert ohne Anlauf, wie schon der erste Halbsatz in „Marie, es brennt!“ zeigt, der sich ihrem Geburtsjahr widmet: „Mitten in der Inflation, als 1 Mohrrübe 10.000.- Mark kostete und sich meine Mutter ihren Unterricht in Briketts bezahlen ließ…“ Dazu gibt es: eine hübsche randlose Zeichnung der Mutter auf dem Rübenfeld, in einer Mondnacht, verstohlen Karotten rupfend. Und eine breites Bild des Zeichenunterrichts im zum Atelier umfunktionierten Esszimmer. Man sieht den Parkettboden, die Schüler mit den Briketts, den Kachelofen, die Tische, und alle mit der Marcksschen naiven Ernsthaftigkeit. Marcks zeichnet hier mit Buntstift, sympathisch, unaufwändig, Text und Bild greifen sich schön ergänzend ineinander und zeigen sofort Marcks‘ Stärke: der beiläufig wirkende, aber ungemein exakte Blick, die präzise, stimmungsvolle Zeichnung, der ironisch-treffende Kommentar, dessen Schärfe sie von mild bis beißend stufenlos regeln kann.
Die Kindheit etwa, mit all ihren Peinlichkeiten, aber auch den konkurrierenden Jugendgruppen von evangelisch bis deutschnational, bekommt die milde Marie ab. Wohlgemerkt mild, nicht verklärend: Bei Marcks finden sich auch Raritäten wie diese Beschreibung der ersten Bombenangriffe 1943: „Ich muss gestehen, dass ich es unheimlich gut (damals: irrsinnig prima) fand, wenn es in der Nachbarschaft brannte, und der Angriff am 1. März war der tollste.“
Mit schmunzelnder Fassungslosigkeit
Marcks ist damals 21, sie verliebt sich gern und viel in einem Deutschland, das immer chaotischer, düsterer dem Zusammenbruch entgegentaumelt. Was man bis zur Wohnungsnot der Nachkriegsjahre in schmunzelnder Fassungslosigkeit verfolgt.
Vor diesem Hintergrund ist Marcks‘ Weg in die künstlerische Selbständigkeit in „Schwarz-weiß und bunt“ deutlich entspannter zu genießen. Was an Dramatik fehlt, ersetzt hier allerdings die optische Vielfalt. Nach dem Krieg suchte niemand Cartoonisten, dafür waren Gebrauchsgrafiker begehrt. Marcks, immer auf Arbeitssuche, deckte überraschend viele Stile ab. Wer (wie ich) nur mit ihren bekannten staksigen Figuren rechnet, staunt über die grafische Vielfalt, Schneide- und Drucktechniken, Federzeichnungen – chamäleonartig, gar nicht marcksig. Sie behauptet sich im Beruf, wobei ihr unterwegs ihr Hauptthema begegnet: die alleinerziehende Frau. Denn Marcks war nicht immer partnerschaftlich so auf- und eingeräumt, wie es damals üblich war. Fünf Kinder zieht sie groß, mal mit Patchwork, auch mal partnerlos.
Angenehm ist dabei der Tonfall: zwar ist jederzeit klar, dass Marcks die Verteilung von Belastung, Bezahlung und Berufsaussichten höchst ungerecht findet, dennoch gibt’s statt Selbstmitleid die Rezepte „Mundaufmachen“ und „Wehren“. Ein Beispiel? Marcks soll die Beschriftung der Räume einer Wirtschaftshochschule entwerfen, die lukrative Beschriftung selbst soll an eine Malerfirma gehen. Argument: „Sie können sich doch nicht als Frau mit Malstock und Pinsel hinstellen und tausende Buchstaben malen.“ Marcks macht den Mund auf, kriegt den Auftrag und pinselt, „bis mir der Arm abfault“.
Eine unprätentiöse, aber auch unbequeme Zeitreise, die man einzeln gebraucht günstig kriegt. Wer etwas mehr Geld übrig hat, findet die Autobiographie auch in der zweibändigen Werkausgabe. Und kriegt eine Menge Marcks dazu
Marie Marcks, Schwarz-weiß und bunt, Frauenbuch Verlag, Weismann Verlag, Verlag Antje Kunstmann, Büchergilde Gutenberg.
Marie Marcks, Marie, es brennt!, Frauenbuch Verlag, Weismann Verlag, Verlag Antje Kunstmann, Büchergilde Gutenberg