Charmant, spannend, informativ: Vor dem Hintergrund der Großen Depression entwickelt Alessandro Tota eine kleine Geschichte des Comic-Hefts

Hut ab, das hier ist ein echtes Kabinettstück. Eine Kombination von Inhalten, die sonst selten gut zusammen gehen: Information und Unterhaltung. Die üble Variante kennen Sie aus vielen TV-Dokus mit Spielhandlung: manchmal entsetzlich, meistens furchtbar. Doch wie man’s richtig macht, zeigt Alessandro Totas „Die Große Illusion“.
Ein Held namens „Ghostwriter“
Wir sind im New York des Jahres 1938, die Große Depression ist noch nicht recht überwunden. Polizisten knüppeln eine Demonstration kommunistischer Arbeitervertreter brutal zusammen. Unter den Opfern ist Roberta, eine junge Frau, die unter einem harten Schlag auf den Kopf zusammenklappt – und eine Erscheinung hat. Allerdings erscheint ihr nicht der liebe Gott, sondern die reichlich abstrusen Superhelden Dogman (in Begleitung seines Hundes), Arachna und Ghostwriter. Warum, erzählen sie uns im delirierenden Kopf der jungen Frau selbst.

Die ist ein Landei, das ein paar schmuddlige Detektivgeschichten gelesen hat und dann in die Großstadt geflohen ist, weil sie nicht zwischen Vieh und Farm leben will wie Mutti. Schon hier ist viel von Totas ausgeklügeltem Mix erkennbar: Die Zeichnungen sind schlicht, bunt, mit einem Touch „Tim & Struppi“, also sehr zugänglich. Die seltsamen Superhelden sind nicht ganz ernst zu nehmen, sie kabbeln sich untereinander, da ist eindeutig eine spaßige Note. Aber: Die Geschichte der jungen Frau bleibt todernst.
Kofferklau dank Comicliebe
Als sie in New York ankommt, so begeistert von der bunten Stadt und den Kiosken voll bunter Comichefte, dass sie gleich einen Arm voll kauft und nicht merkt, wie ihr der Koffer geklaut wird, wie sie durch die rappelvollen Straßen schlurft, verängstigt, ohne Geld, ohne Bleibe für die Nacht – da gibt’s auch für den Leser nichts zu grinsen.

Es sind Kommunisten, die sich ihrer annehmen und ihr unter die Arme greifen. Roberta kriegt ein WG-Zimmer und soll Arbeit suchen, aber 1938 findet sich absolut nichts. Sie hilft gratis in einer Arbeiterzeitung, lernt mühsam Tippen und versucht sich nach Feierabend als Krimi-Autorin. Abends geht sie in linke Künstlerkneipen, wo Schwätzer jeden Kalibers versuchen, alles abzuschleppen, was nicht bei eineinhalb auf den Bäumen ist. Einer von ihnen ist der arrogante Battarelli, der gerne Maler wäre, aber von Illustrationen leben muss. Und jetzt kommen wir langsam zur historischen Info…
Der Gamechanger aus „Action Comics“
Battarelli ist in Nöten. Er soll für wenig Geld eine Comicgeschichte liefern, aber im Storys-Erfinden ist er lausig. Prompt denkt er an Roberta, die ihm aus der Patsche hilft und die er zum Dank genauso prompt um ihr Geld betrügt. Weshalb die Geschichte hier enden würde, aber wir haben ja 1938. Das Jahr, in dem – wie Comicfans wissen – das erste Heft mit Superman auf den Markt kam und der Superhelden-Boom entstand. Prompt wittert der ideenlose Battarelli das große Geld, aber diesmal ist Roberta gewarnt.

Im Lauf der Erzählung erfährt man praktisch alles. Wie eine Geschichte entsteht, wer zeichnet, wer tuscht, wie man sich einen neuen Superhelden ausdenkt. Wer kauft, wer verkauft, wer hat die Rechte? Und wo aus dem Nichts viel Bedarf kommt, gewinnt auch, wer schneller zeichnen und liefern kann. Man lernt Bob Kane kennen und Will Eisner, wirbt sich die Zeichner ab, holt talentierte Jungs von der Straße, alles passiert genauso, wie es damals wirklich passiert ist. Ohne dass man’s eigentlich mitkriegt, aber eben auch so, dass man’s sehr wohl mitkriegt. Und das ist der eigentliche Knaller.
Kompakt verpackt und doch exakt
Tota erfasst die Mechanik, die Ökonomie der Branche, sogar das Halbseidene so präzise, dass man Dinge mitbekommt, für die man bisher einen der (vorzüglichen!) Wuchtwälzer von Alexander Braun durchwühlen musste (der zur Ausstellung „Black Comics“ ging gerade in Druck). Für Wissenschaft reicht’s noch nicht, fürs Verstehen aber dicke. Und vergnüglich ist es obendrein, weil Tota den Humor fein mit der Geschichte abschmeckt. Was nicht ganz überraschend kommt, denn Tota hat vor längerer Zeit schon einmal hintergründig gut überzeugt, und zwar hier.
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In Zeiten von Krisen und Rezension ist Schenken erste Bürgerpflicht: Sieben kleine Geschenktipps von kostbar bis kostenlos

Weihnachten, die letzte Insel der Seligen. Kinder duften nach Bratäpfeln, Zuckerwatte ersetzt flächendeckend den Schnee und in der allgemeinen Besinnlichkeit entdecken vereinzelte Amerikaner, was sie da eigentlich gewählt haben. Alles könnte so schön und friedlich sein, aber vor das Fest haben die Götter die Geschenke gesetzt. Woher nehmen und nicht stehlen? Aber gottseidank lesen Sie ja das richtige Blog zur richtigen Zeit.
Für Leute mit Tisch

Tja, damit kann man natürlich praktisch nichts falsch machen: Man geht zum Taschen-Verlag und erwirbt einen gefühlten Zentner Premium-Comics, beispielsweise den zweiten Sammelband der Marvel-Avengers-Abenteuer. Schön verschubert und verpackt in Originalgröße. Vorsicht: Originalgröße bedeutet hier die Größe der Originalzeichnungen, also die doppelte Heftgröße. Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil man die Hefte in diesem Umfang früher niemals unter der Bettdecke hätte lesen können. Sondern weil Sie heute berücksichtigen sollten, dass sowas auch fürs Sofa nicht so handlich ist: Beschenkte sollten für ermüdungsfreies Lesen wenigstens einen soliden Tisch in der Wohnung haben, eine hauseigene Bibliothek nebst Ohrenbackensessel wäre optimal. Bei Gefallen sind dann auch weitere Geschenk-Ideen für die nächsten Jahrzehnte gesichert, Sie müssen nur daran denken, die unteren Stockwerke ggf. baulich abzusichern. Aber wenn das alles bedacht ist: Mehr Marvel geht einfach nicht.
Für Lebende
Ein weiterer Teil der inoffiziellen Serie: Ist es überhaupt ein Comic? Tom Haugomat liefert mit „Ein ganzes Leben“ eine chronologische Erzählung in Jahresschritten. Rodney wird geboren und altert, und für jedes Jahr gibt es ein Bild Rodneys mit Ortsangabe sowie gegenüber etwas, das Rodney sieht. Was nicht nur eher wortlos klingt, sondern es auch ist. Aber es guckt sich sehr gut an: Fast schon meditativ blättert man durch die elegant designten Jahre, stets nur aus türkis/hellrot/ockergelb/weiß/schwarz zusammengesetzt. Das Konzept erinnert leicht an „Hundert“ von Valerio Vidali/Heike Faller: doch die schubsen noch mit kurzen Sätzen die Nachdenklichkeit an, während Haugomat die gesamte Kopfarbeit den Lesern freistellt. Funfact 1: beide Bände kommen aus der Schweiz. Funfact 2: „Ein ganzes Leben“ ist offenbar noch von einer echten Übersetzerin übersetzt, obwohl da wirklich nicht viel zu übersetzen war. Zu wünschen wäre es, aber vielleicht ist Philippa Smith auch irgendein Bot…
Für Tretende

Man möchte dringend, dass Max Julian Ottos „Es geht auch ohne Ehrgeiz“ funktioniert: Da ist so vieles sympathisch. Die Geschichte um den mittelalten Sohn eines verstorbenen Radprofis, der selbst das Radeln hasst, aber ein Café für Radfahrer eröffnet und in der Corona-Krise ins Zweifeln kommt. Die guten Beobachtungen, die professionellen, aber nicht zu anbiedernden Zeichnungen. Ottos Mut, den 200-Seiten-Comic einfach im Selbstverlag zu publizieren, in tadelloser Buchhandelsqualität, das fehlt sich nichts. Dazu fahr ich selber gern Fahrrad. Aber weil viele Einzelmomente noch keine gute Story ergeben, kommt die Geschichte selbst über nett leider nicht hinaus. Wobei: Der Radlersohn, der wieder zum Rad findet, das ist sehr, sehr gutes Wohlfühlmaterial, geeignet für Sat 1, ARD, ZDF, Familienfernsehen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Für politisch Denkende

Die Zukunft sieht düster aus. Die USA fallen als Demokratie weg, gehen außenpolitisch zur Schutzgelderpressung über, die anderen Staaten finden Einigkeit zu anstrengend und kochen nach und nach ebenfalls nationale Süppchen, die logischerweise immer dünner werden. Und jeder, der festzustellen wagt, dass es früher irgendwie besser war, wird als innenpolitischer Feind verfolgt. Nein, das gibt es nicht als Comic, das ist die reale Zukunft. Es gibt aber einen Comic, der im Vergleich dazu tröstlich wirkt: „Die Straße“ von Manu Larcenet nach dem Roman von Cormac McCarthy. Das Tröstliche: Diese Zukunft ist derart entsetzlich, dass sie Trump, Putin und Sahra Weidel zusammen nicht hinkriegen. Jedenfalls nicht in den nächsten zehn Jahren. Oder fünf.
Für Versöhnungsbedürftige

Wo treffen sich Gutmensch und Impfgegner? Genau, im Reformhaus. Und für dessen Monatszeitung „Reformhauskurier“ hat der große, leider schon tote Cartoonist Bernd Pfarr von 1988 bis 2004 den Comic-Strip „Alex der Rabe“ gezeichnet - der jetzt erstmals gesammelt erscheint. Alex ist eine Art Parallel-Donald Duck samt einer Daisy (Nicki), einem Gustav Gans (Dietrich), Düsentrieb (Professor Alonso). Band 1 ist jetzt erschienen und zeigt eine interessante Mischform: Einerseits sind die Episoden alle kindgerecht, mit eher schlichter One-Pager-Pointe wie im Micky-Maus-Heft. Aber bei mindestens fünf Episoden habe ich extrem gekichert, nicht zuletzt bei der mit dem Titel-Gag. Zusätzlich geschenkgerecht ist die Aufmachung des Buchs und natürlich die munter angeschrägte Pfarr-Optik. Und politisch wird’s – überhaupt nicht. Was wäre an Weihnachten willkommener?
Für lau

Okay, das geht nicht für jeden, aber für viele in NRW und je nach Reiselaune auch darüber hinaus. Und es kostet: nix, wenn Sie ein Deutschlandticket haben, vielleicht sogar zweimal nix. Das Geschenk geht so: Am zweiten Weihnachtsfeiertag nehme man die Beschenkten an der Hand, steige in einen Zug und fahre nach Dortmund. Am Hauptbahnhof raus, ca. 73,4 Meter über den Königswall schlurfen und hinein in den Schauraum comic + cartoon mit der neuen Ausstellung „Black Comics“: Alles rundum Bestseller wie „Black Panther“ oder Eigenwilliges wie „Aya aus Youpogon“. Mit etwas Glück hat Ausstellungsmacher Alexander Braun für Sie sogar den lesenswerten Katalog noch passend zum Mitnehmen fertiggedruckt, zum günstigeren Ausstellungspreis. Vielleicht noch zwei Kaffeebecher einpacken, für den Glühwein daheim, einen Happen essen, dazu ein bis zwei Pilse einwirken lassen und sich der Bahn für die Heimfahrt anvertrauen. Kann man eigentlich alle Jahre wieder machen...
Ach so, ich hab ja sieben Tipps versprochen: Im Notfall schenken Sie einfach einer Comicfanin/einem Comicfan Ihrer Wahl ein Abo dieses Blogs... Kostet ebenfalls nix, ist schnell gemacht und auch noch Sekunden vor der Bescherung verfügbar.
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Die Outtakes (12): Tödliches aus Indien, Urgesteiniges aus Deutschland und das normale Elend aus der Ukraine

Der Tod wird arbeitslos
Exotisch: „The many deaths of Laila Starr” macht neugierig. Die Geschichte spielt in Indien, wo die Göttin des Todes plötzlich arbeitslos wird, weil ein Mensch bald die Unsterblichkeit erfinden wird. Die Göttin wird in einen menschlichen Körper versetzt, dem von Laila Starr. Sauer über die Rückstufung beschließt sie, den Unsterblichkeits-Erfinder zu töten. Dabei kommt sie selbst um, wird aber vom Gott des Lebens (der seinen Job ja noch hat) wieder zurückgeholt. Ab da versucht sie es in großen Zeitabständen erneut. Das Ganze ist nicht so klamaukig, wie es sich vielleicht liest, im Gegenteil sogar eher philosophisch angehaucht. Die Zeichnungen von Filipe Andrade sind frisch und ungewöhnlich, erinnern an Bill Szienkiewicz, das indische Setting von Ram V ist reizvoll. Aber die Story ist halbgar: Eine sterblich gewordene Göttin, die nicht stirbt – wo ist da der Unterschied zu vorher? Und wenn sie alle zehn, 20 Jahre bei ihrem Nicht-Opfer vorbeischaut, was macht sie eigentlich in der wesentlich längeren Zwischenzeit? Denn gerade weil die Dialoge sich derart dick über den Sinn des Lebens unterhalten, wäre es doch interessant, wie die eifrig Sinnierenden denn ihre eigenen unendlichen (!) Leben gestalten. Wer das jedoch nicht vermisst, kann mit Laila Starr recht viel Spaß haben.
Blass from the Past

Schade, da war mehr drin: Chris Scheuer ist Max-und-Moritz-Preisträger (1984), ein Urgestein vom Kaliber Gerhard Seyfried. Und auf den ersten Blick würde man seine schwarz-weiße Autobiographie „Buch I“ auch zwischen Reinhard Kleist und Frank Schmolke einsortieren. Aber dem Vergleich hält sie dann doch nicht durchgehend stand. Woran's liegt? Die Auswahl: Vieles ähnelt den Stories anderer 68er. Drogen genommen, Sachen geklaut, im Knast gewesen, kommt bekannt vor. Der richtige Tonfall könnte helfen, aber Scheuer kann sich weder zur Komödie noch zum Drama entschließen. Zudem entkräftet der latent cartoonige Stil auch ernster gemeinte Episoden, hübsche Hommagen an Will Eisner oder Gilbert Shelton machen das leider nicht wett. Oder haben sich die Maßstäbe seit den 80ern verändert? Kann gut sein: Marjane Satrapi („Persepolis“) oder Riad Sattouf haben inzwischen Jugenderinnerungen nicht nur eleganter erzählt, sondern auch mit direkteren Bezügen zur Gegenwart.
Der gewöhnliche Krieg

Gutes Design. Pastellfarben. Künstlerisch ansprechend. Inhaltlich ehrgeizig: Nora Krug zeigt Einblicke in den Ukraine-Krieg. Ein Jahr lang sprach sie für „Im Krieg“ jeweils einmal wöchentlich mit einer Ukrainerin und einem Russen – und fasste das Ergebnis auf einer Doppelseite zusammen, links Ukraine, rechts Russe. Das Ergebnis ist doppelt frustrierend: Einerseits wegen der Tatsachen, andererseits aber auch, weil Krug nach zwei Jahren Krieg die Erschütterung des Anfangs kaum zurückholen kann. Was an der Gewöhnung liegt – und an der Erwartbarkeit des Beschriebenen. Selbst die Ereignisse von Butscha sind in der Rückschau nicht empörender als am Tag ihrer Enthüllung. Überraschendes entlockt Krug ihren Gesprächspartnern leider selten. Obendrein nutzt sie die Möglichkeiten des Comic allenfalls illustrativ: Dass sie rasch den Bildanteil von drei Panels auf eines pro Seite reduziert, ist da nur konsequent. Allerdings ist dann der Rest in Blöcken zusammengefasster Text. Und so sehr dieser Krieg Aufmerksamkeit brauchen würde, so sehr fühlt er sich an wie dieser Comicband: ermüdend. Womit Krug der Realität leider erstaunlich nahe kommt.