In Zeiten von Krisen und Rezension ist Schenken erste Bürgerpflicht: Sechs kleine Geschenktipps von kostbar bis kostenlos
Weihnachten, die letzte Insel der Seligen. Kinder duften nach Bratäpfeln, Zuckerwatte ersetzt flächendeckend den Schnee und in der allgemeinen Besinnlichkeit entdecken vereinzelte Amerikaner, was sie da eigentlich gewählt haben. Alles könnte so schön und friedlich sein, aber vor das Fest haben die Götter die Geschenke gesetzt. Woher nehmen und nicht stehlen? Aber gottseidank lesen Sie ja das richtige Blog zur richtigen Zeit.
Für Leute mit Tisch
Tja, damit kann man natürlich praktisch nichts falsch machen: Man geht zum Taschen-Verlag und erwirbt einen gefühlten Zentner Premium-Comics, beispielsweise den zweiten Sammelband der Marvel-Avengers-Abenteuer. Schön verschubert und verpackt in Originalgröße. Vorsicht: Originalgröße bedeutet hier die Größe der Originalzeichnungen, also die doppelte Heftgröße. Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil man die Hefte in diesem Umfang früher niemals unter der Bettdecke hätte lesen können. Sondern weil Sie heute berücksichtigen sollten, dass sowas auch fürs Sofa nicht so handlich ist: Beschenkte sollten für ermüdungsfreies Lesen wenigstens einen soliden Tisch in der Wohnung haben, eine hauseigene Bibliothek nebst Ohrenbackensessel wäre optimal. Bei Gefallen sind dann auch weitere Geschenk-Ideen für die nächsten Jahrzehnte gesichert, Sie müssen nur daran denken, die unteren Stockwerke ggf. baulich abzusichern. Aber wenn das alles bedacht ist: Mehr Marvel geht einfach nicht.
Für Lebende
Ein weiterer Teil der inoffiziellen Serie: Ist es überhaupt ein Comic? Tom Haugomat liefert mit „Ein ganzes Leben“ eine chronologische Erzählung in Jahresschritten. Rodney wird geboren und altert, und für jedes Jahr gibt es ein Bild Rodneys mit Ortsangabe sowie gegenüber etwas, das Rodney sieht. Was nicht nur eher wortlos klingt, sondern es auch ist. Aber es guckt sich sehr gut an: Fast schon meditativ blättert man durch die elegant designten Jahre, stets nur aus türkis/hellrot/ockergelb/weiß/schwarz zusammengesetzt. Das Konzept erinnert leicht an „Hundert“ von Valerio Vidali/Heike Faller: doch die schubsen noch mit kurzen Sätzen die Nachdenklichkeit an, während Haugomat die gesamte Kopfarbeit den Lesern freistellt. Funfact 1: beide Bände kommen aus der Schweiz. Funfact 2: „Ein ganzes Leben“ ist offenbar noch von einer echten Übersetzerin übersetzt, obwohl da wirklich nicht viel zu übersetzen war. Zu wünschen wäre es, aber vielleicht ist Philippa Smith auch irgendein Bot…
Für Tretende
Man möchte dringend, dass Max Julian Ottos „Es geht auch ohne Ehrgeiz“ funktioniert: Da ist so vieles sympathisch. Die Geschichte um den mittelalten Sohn eines verstorbenen Radprofis, der selbst das Radeln hasst, aber ein Café für Radfahrer eröffnet und in der Corona-Krise ins Zweifeln kommt. Die guten Beobachtungen, die professionellen, aber nicht zu anbiedernden Zeichnungen. Ottos Mut, den 200-Seiten-Comic einfach im Selbstverlag zu publizieren, in tadelloser Buchhandelsqualität, das fehlt sich nichts. Dazu fahr ich selber gern Fahrrad. Aber weil viele Einzelmomente noch keine gute Story ergeben, kommt die Geschichte selbst über nett leider nicht hinaus. Wobei: Der Radlersohn, der wieder zum Rad findet, das ist sehr, sehr gutes Wohlfühlmaterial, geeignet für Sat 1, ARD, ZDF, Familienfernsehen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Für politisch Denkende
Die Zukunft sieht düster aus. Die USA fallen als Demokratie weg, gehen außenpolitisch zur Schutzgelderpressung über, die anderen Staaten finden Einigkeit zu anstrengend und kochen nach und nach ebenfalls nationale Süppchen, die logischerweise immer dünner werden. Und jeder, der festzustellen wagt, dass es früher irgendwie besser war, wird als innenpolitischer Feind verfolgt. Nein, das gibt es nicht als Comic, das ist die reale Zukunft. Es gibt aber einen Comic, der im Vergleich dazu tröstlich wirkt: „Die Straße“ von Manu Larcenet nach dem Roman von Cormac McCarthy. Das Tröstliche: Diese Zukunft ist derart entsetzlich, dass sie Trump, Putin und Sahra Weidel zusammen nicht hinkriegen. Jedenfalls nicht in den nächsten zehn Jahren. Oder fünf.
Für Versöhnungsbedürftige
Wo treffen sich Gutmensch und Impfgegner? Genau, im Reformhaus. Und für dessen Monatszeitung „Reformhauskurier“ hat der große, leider schon tote Cartoonist Bernd Pfarr von 1988 bis 2004 den Comic-Strip „Alex der Rabe“ gezeichnet - der jetzt erstmals gesammelt erscheint. Alex ist eine Art Parallel-Donald Duck samt einer Daisy (Nicki), einem Gustav Gans (Dietrich), Düsentrieb (Professor Alonso). Band 1 ist jetzt erschienen und zeigt eine interessante Mischform: Einerseits sind die Episoden alle kindgerecht, mit eher schlichter One-Pager-Pointe wie im Micky-Maus-Heft. Aber bei mindestens fünf Episoden habe ich extrem gekichert, nicht zuletzt bei der mit dem Titel-Gag. Zusätzlich geschenkgerecht ist die Aufmachung des Buchs und natürlich die munter angeschrägte Pfarr-Optik. Und politisch wird’s – überhaupt nicht. Was wäre an Weihnachten willkommener?
Für lau
Okay, das geht nicht für jeden, aber für viele in NRW und je nach Reiselaune auch darüber hinaus. Und es kostet: nix, wenn Sie ein Deutschlandticket haben, vielleicht sogar zweimal nix. Das Geschenk geht so: Am zweiten Weihnachtsfeiertag nehme man die Beschenkten an der Hand, steige in einen Zug und fahre nach Dortmund. Am Hauptbahnhof raus, ca. 73,4 Meter über den Königswall schlurfen und hinein in den Schauraum comic + cartoon mit der neuen Ausstellung „Black Comics“: Alles rundum Bestseller wie „Black Panther“ oder Eigenwilliges wie „Aya aus Youpogon“. Mit etwas Glück hat Ausstellungsmacher Alexander Braun für Sie sogar den lesenswerten Katalog noch passend zum Mitnehmen fertiggedruckt, zum günstigeren Ausstellungspreis. Vielleicht noch zwei Kaffeebecher einpacken, für den Glühwein daheim, einen Happen essen, dazu ein bis zwei Pilse einwirken lassen und sich der Bahn für die Heimfahrt anvertrauen. Kann man eigentlich alle Jahre wieder machen...
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Dem Autor folgen (1): Vor der Solokarriere illustrierte Mikael Ross Szenarien des Belgiers Nicolas Wouters – was taugten die Kooperationen?
Gern predige ich ja, man solle auf der Suche nach Comics, die einem gefallen, dem Autor folgen, weniger dem Zeichner. Das liegt natürlich auch an mir: Weil mir eine blöde Geschichte selbst den besten Zeichner madig macht. Aber es gilt natürlich auch: Wenn ein Zeichner selbst gut textet, bebildert er vielleicht bei Kooperationen ebenfalls nicht jeden Mist. Bestes Beispiel: Mikael Ross.
Die Prequels zum Volltreffer
Der hat ja gerade erst mit „Der verkehrte Himmel“ geglänzt (und nebenbei schön erklärt, wie man den vietnamesischen Familiennamen Nguyen richtig ausspricht). Sein zweiter richtiger Volltreffer als Autor und Zeichner nach „Der Umfall“. Weshalb ich mir die Bände „Totem“ und „Lauter leben!“ vorgenommen habe, die Ross am Anfang seiner Karriere lediglich bebildert hat. Beide Szenarien stammen vom Belgier Nicolas Wouters. Taugen sie was? Oder hatte da einfach nur ein Durchschnittstexter einen prima Illustrator entdeckt?
Es scheint eher, als habe der Kontakt zu Wouters Ross gleich auf die richtige Scheine gesetzt. Man merkt auf jeden Fall schon, wo Ross live beobachten konnte, was ein starker Einstieg wert ist. Und dass Kinder/Jugendliche hervorragende Protagonisten sind. „Lauter leben“ beginnt mit einer Rückblende, Thomas, irgendwo zwischen neun und elf, besucht seinen Freund Martin. Der hat einen behinderten Bruder, weshalb seine Eltern nicht viel Zeit für ihn haben. Was uns niemand erklärt, wir sehen es selbst: Martin hat sein Zimmer zu einer finsteren Räuberhöhle voller Mutproben umgebaut, das Thomas nur mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung betritt.
Revival für eine Nacht
30 Jahre später begegnen sich die beiden Freunde wieder. Thomas hat eine Familie und ist unglücklich. Martin ist Punk geworden, geblieben und inzwischen so weit unten angekommen, wie’s als Punk nur geht. Für eine Nacht werden sie ihre Freundschaft wieder aufleben lassen. Diese Nacht gibt Ross die Gelegenheit, alle Register zu ziehen.
Schlägereien, großartige Stadt-bei-Nacht-Panels, Strandszenen, Punkkonzerte. Überhaupt sehr schön: Sein Händchen für Musik und Geräusche, eine besondere Herausforderung im lautlosen Medium Comic. Und zwischen Action und Absturz sickern die Details dieser bizarren Freundschaft in den Leserkopf. Schon mal ein richtig guter Band.
Lachflash dank Adrian
Auch „Totem“ startet exzellent: Eine düstere OP-Szene, bei der sofort irritiert, dass der Chirurg mit seinen Gummihandschuhen das Licht ausmacht, und der Raum – ist das eine Besenkammer? Beim zweiten Blick zeigt sich: Das OP-Besteck ist genauso seltsam. Da ist eine Wäscheklammer dabei, und ein Schweizer Taschenmesser. Und der Patient reicht dem Arzt selbst das Klopapier?? Da spielen zwei Jungs Emergency Room, schön durchkonstruiert, mit Tomatensaft und Wiederbelebung durch zwei Bügeleisen, bis Mama zum Essen ruft. Doch obwohl das Spiel vorbei ist, steht plötzlich der Patient nicht mehr auf! Dramatik, Komik, Erleichterung – Schock. Nach fünf Seiten stand mir schon mal der Mund offen.
Während der „Patient“ im Krankenhaus um sein Leben kämpft, wird der „Chirurg“ zur Betreuung ins Ferienlager geschickt. Dort machen dumme Jungs dumme Spiele. Die Älteren zwingen die Neuen, mit der Faust auf Bäume einzudreschen. Dazu muss man laut „Aadriaaan!“ rufen. Es hat etwas gedauert, bis ich geschnallt habe: Wir sind in den 80ern, und die Jungs spielen Rocky nach, Rockys Ruf nach seiner Frau und das Boxtraining sind zu einem superdämlichen Ritual verschmolzen. Lachflash.
Inferno bei Nacht
Erneut gelingt Nicolas Wouters ein starkes Szenario, diesmal mit „Herr der Fliegen“-Touch in den verregneten Ardennen. Die Betreuer kämpfen mit der Jungshorde, die Jungs mit ihrem Mannwerden und den gruselig dunklen Wäldern drumherum. Ross inszeniert infernalische Feuerrituale bei Nacht, entflohene Raubtiere, diesmal mit mehr schwarzem Strich und weniger wässriger Fläche. Dazu kommen starke, witzige, einfühlsame Dialoge, gute Gesichter und ein Schluss, dass es einem vor Rührung die Luft abdrehen kann.
All das wirkt so gut, dass Ross und Wouters eigentlich auch hätten zusammen weiterarbeiten können. Aber der Auftrag für „Der Umfall“ war vermutlich ein One-Man-Job – oder aber für Ross optimal, um sich selbst auszuprobieren. Dass Behinderte kein Tabuthema sind, hatte ja schon „Lauter leben!“ gezeigt. Nicolas Wouters wurde seither nur noch auf dem französischen Markt veröffentlicht, und da enden meine Lesefähigkeiten...
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Die Outtakes (20): Ein Gruß vom Altmeister, eine Ebbe im Altmärchens und eine Mixtur mit Alt-Dichtung
Abschied mit Frankenstein
Das also ist das Abschiedswerk des 2017 kurz vor Fertigstellung verstorbenen Grusel-Altmeisters Bernie Wrightson: „Frankenstein Alive, Alive!“. Traditionalisten werden sich wohl dran stören, dass das sonst gut verschraubte, klobige Monster diesmal als eine Mischung aus einem sehr verschlankten Swamp Thing und Iron Maidens Maskottchen Eddie daherkommt. Mir ist die Geschichte der weiteren Karriere des Monsters etwas zu rührselig geraten, aber dafür kommt sie recht opulent daher. Wrightson gönnt sich viele Splashes, und die sind nicht nur einfach aufgeblasen, sondern akribisch zugezeichnet, wie sich’s bei Laboratorien und Bibliotheken anbietet. Effektstark ausgeleuchtet, in düsterem schwarz-weiß, das wirkt schon sehr gut, aber der Story des Kurzgrusel-Experte tut der viele Platz nicht gut. Dass die Erzählerrolle mit dem oft wenig eloquenten Monster auch ein bisschen arg gegen den Typ besetzt ist, ist zwar vorlagengetreuer als manche andere Version, macht die Sache nicht unbedingt einfacher. Trotzdem: Atmosphäre satt.
Bilder-Buch
Da hab‘ ich aber mehr erwartet: Rébecca Dautremer hat zuletzt mit einer fantastischen Version von John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ überzeugt: Sie hat den kompletten Roman illustriert und damit brillant erweitert. Und das erhoffte ich mir auch von „Alice im Wunderland“ – aber diesmal ist’s tatsächlich nur ein bebildertes Buch geworden. Schön bebildert, gewiss, aber eben nur ein bisschen bebildert und, noch viel schader: äußerst konventionell. Während sie in den „Mäusen“ durch eine wahre Bilderflut die Gedankenwelt der Protagonisten frei ausbreitete und zeigte, was ein illustrierter Roman zu leisten imstande ist, sind’s hier erwartbare Illustrationen in einer Bilderebbe. Wer „Alice“ noch nicht im Schrank hat, mag zugreifen, ansonsten entsteht hier leider kein Zusatznutzen.
Mehrdeutig oder orientierungslos?
Ambivalenz ist oft gut. Aber Maren Aminis Berthold-Leibinger-prämiertes Einwanderer-Epos „Ahmadjan und der Wiedehopf“ fabriziert eindeutig so viel des Guten, das geht schon Richtung Orientierungslosigkeit. Ahmadjan (der Vater der Autorin) lernt im Kabul der 70er westliche Lebensart kennen und wandert nach Deutschland aus. In Berlin malt er, entdeckt noch mehr Kunst, all das ist optisch sehr hübsch, karikaturistisch an Sempé angelehnt. Das Problem ist hier schon der Humor, der so niedlich-lieb und schmerzfrei ist, dass er praktisch nicht mehr stattfindet. Was fatal ist, sobald Ahmadjan ausgewiesen und nach Afghanistan zurückgeschickt wird: Amiri schafft es nicht, den harmlosen Tonfall der verfinsterten Story anzupassen, und das beeinträchtigt Pointen und Betroffenheit zugleich. Alles mit einer alten persischen Dichtung zu überlagern/unterfüttern macht den Stoff zudem nicht beherrschbarer. Das Resultat: Viel Gutgemeintes, immerhin sehr oft von ansehnlichen Seiten aufgelockert. Und: Wer Probleme gern watteweich verpackt mag, liegt hier richtig.