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Comicverfuehrer

Sehnsüchtig, halbtraurig und verträumt: Mariko und Jillian Tamakis sensibles Teenie-Ferienabenteuer „Ein Sommer am See“

Illustration: Mariko Tamaki/Jillian Tamaki - Reprodukt
Illustration: Mariko Tamaki/Jillian Tamaki - Reprodukt

Schon Lust auf Sommer? Noch ist's da ein bisschen hin, aber einen Vorgeschmack hätte ich schon: „Ein Sommer am See“. Berührend und bezaubernd. Nicht ganz neu (aber dafür günstig, s.u.!). Und wie so oft findet man sowas, indem man nach der Vergangenheit von Leuten guckt, die was auffallend Gutes gemacht haben, in diesem Fall einmal mehr Mariko und Jillian Tamaki.


Der Sommer scheint durchs Fenster


Es ist Sommer. Rose (zwölf? dreizehn?) fährt mit ihren Eltern ins Ferienhaus am See. Rose sitzt auf dem Rücksitz des Autos, blättert in Comics, sieht außen die ersten vertrauten Gebäude. Man hört die Reifen förmlich über den Kies knirschen, sieht die Dorfkids (winkt, um nicht arrogant zu wirken/wird für arrogant gehalten, weil man winkt). Rose lässt sich beglückt auf ihr vertrautes Ferienbett fallen, der Sommer scheint durchs Fenster. Dann nimmt sie ihr Rad und fährt zu ihrer Freundin Windy, die zwei Häuser weiter ebenfalls Ferien macht – ebenfalls wie immer.

Illustration: Mariko Tamaki/Jillian Tamaki - Reprodukt
Illustration: Mariko Tamaki/Jillian Tamaki - Reprodukt

All das ist saugeschickt umgesetzt: abwechslungsreiche Kameraführung, mit vielen glaubwürdigen Details. Das Fahrrad steht im Schuppen mit Vorhängeschloss, Roses Zimmer ist zurückhaltend ferienhausgerecht eingerichtet. Und wie sie aufs Bett plumpst: endlich angekommen. Dazu Rose selbst: harmlos-hübsch, blond, bohnendünn, Windy dagegen etwas jünger, rundlich, dunkle Haare. So viel Idylle, soviel Hoffnungen auf so viel Sommer, dass man beinahe vergisst, dass doch bestimmt irgendwas passieren muss, weil man ja sonst keine Geschichte zu erzählen hätte. Aber was?


Heimlicher Horror


Mariko Tamaki wählt wie schon in Roaming das Unscheinbare: Die Mädchen reden erstmals über Titten, ein wenig ratlos. Sie haben keine Lust mehr auf Zeichentrickfilme, und überhaupt geschehen in ihrem Leben auf einmal seltsame Dinge. Roses Eltern verstehen sich nicht gut. Und in dem Dorfladen, in dem Rose und Windy erstmals heimlich Horrorvideos leihen, reden die Jungs merkwürdige Sache über die Mädchen. Übrigens tatsächlich das perfekte Setting für einen Horrorfilm.

Illustration: Mariko Tamaki/Jillian Tamaki - Reprodukt
Illustration: Mariko Tamaki/Jillian Tamaki - Reprodukt

Aber Mariko Tamaki arbeitet viel eleganter, ohne Auflösung: Rose versucht ihre eigenen Gefühle einzusortieren. Warum ist ihr der Typ vom DVD-Verleih so wichtig, warum will sie wissen was mit seiner Freundin ist? Warum ist Mama so eine Spaßbremse? Praktisch nichts wird ausdiskutiert, stattdessen sehen wir eine zunehmend überforderte Rose, die sich wundert, wo die unkomplizierte Vergangenheit hin ist. Was wiederum genau die Frage ist, die man sich als erwachsen(d)er Leser selbst stellt, sehnsüchtig, halb traurig, halb träumerisch.


Chaos hinter der Oberfläche


Sowas funktioniert aber nur, wenn man auch die richtigen Bilder hat, und die zeichnet Jullian Tamaki en masse. Schön eskalierende Szenen wie der Nachmittag am Strand, kleine Einstellungen wie ein nackter Mädchenfuß, der gelangweilt ein Sektglas umschubst, oder auch die verwirrte Rose von oben, wie sie an einem ordentlichen Holzzaun vorbeigeht, hinter dem das White-Trash-Müllchaos lagert. Wir sehen, was hinter der Zaunoberfläche liegt, Rose sieht es nicht, weil sie nicht groß genug ist. Sinnbild? Zufall?

Illustration: Mariko Tamaki/Jillian Tamaki - Reprodukt
Illustration: Mariko Tamaki/Jillian Tamaki - Reprodukt

Die Tamakis werden’s bestimmt nicht aufklären, und eben dieses Selbstentdecken, Nachfühlen und -denken macht an ihrem Comic so unglaublich viel Spaß. Den es übrigens für wenig Geld gibt, 9,90 Euro als Taschenbuch, das ist eigentlich schon Mangatarif. Aber wenn Sie vor lauter Blödwinter den Sommer nochmal richtig genießen wollen, nehmen Sie die größere, gebundene Version.

 




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Drogen, Dödel, Dämlichkeit: Alessandro Tota erkundet mit munterem Sarkasmus die hässliche Seite des Stiefels

Illustration: Alessandro Tota - Reprodukt
Illustration: Alessandro Tota - Reprodukt

Ich mag ja Italien. Und diese Liebe steckt viel weg: Schlimme Filme von Adriano Celentano genauso wie den Neorealismus von De Sica oder Giorgia Meloni. Nichts davon kann je verdrängen, dass in diesem Land jederzeit eine Pizza Margherita erhältlich ist. Und deshalb mag ich auch Comics wie die von Gipi, wie „Die Stadt der drei Heiligen“ oder „Der Schleuser“ und jetzt eben auch Alessandro Totas „Fratelli“.


Schaurig-schöne Realität


Von Tota habe ich grade „Die große Illusion“ empfohlen und daher ein bisschen gestöbert, was er (immer dem Autor folgen!) bisher so geschrieben hat. „Fratelli“, sein Durchbruch, reiht sich nahtlos ein in die großen schaurig-schönen Erzählungen der italienischer Realität.

Illustration:  Alessandro Tota - Reprodukt
Illustration: Alessandro Tota - Reprodukt

Diesmal sind wir im Bari der 90er Jahre. Zwei träge und erschütternd dämliche Brüder leben zusammen, und zwar mehr oder weniger vom Verkauf von Teilen aus der Familienwohnung. Ja, sie sind ein bisschen drogensüchtig (Gras, Koks), vor allem aber faul. Beiden ist klar, dass nach dem Verkauf der nächste Verkauf ansteht, bis nichts mehr da ist. Beide wissen, dass sie im tadellos arbeitsfähigen Alter sind, und – naja, verkaufen wir erst mal Muttis Lieblingsbild, ohne ihr was zu sagen.


Mit Muttis Doggy-Bag aufm Klo


Den Abend verbringen sie mit Abhängen in der Clique von Freunden, wobei: Was, um Gottes willen, sind das für Freunde?? Jeder ist halb heruntergekommen, noch irgendwie funktionsfähig, aber jederzeit bereit, jeden zu bescheißen, Geld zu behalten, Drogen zu verstecken oder heimlich wegzurauchen, die bescheuerten Brüder futtern sich sogar heimlich auf dem Klo Muttis Doggy-Bag weg. Große Bewunderung haben alle nur für den seltsamen Claudio, der Heroin nimmt, wundersamer Weise aber dennoch arbeiten geht und in seiner Freizeit Flugblätter mit Aphorismen verteilt, einfach so, aus Spaß (!) und Interesse (!!) an Literatur (!!!).

Illustration:  Alessandro Tota - Reprodukt
Illustration: Alessandro Tota - Reprodukt

Tota fängt all das in nüchtern-naivem Schwarz-Weiß ein, mit sehr guten, flotten Dialogen, aber auch atmosphärischen Szenen, womit er die Freudlosigkeit zugleich sehr genießbar macht. Es gibt immer wieder nächtliche Blicke in die laternenbeleuchteten Parks, wo die Clique abhängt. Verwaiste steinerne Bänke, bekritzelt, verschmiert, leere Schnapsflaschen, Zigarettenkippen, Bierdosen, gelegentlich eine Spritze. Der Tourist kennt das von Spaziergängen in italienischen Großstädten, es müsste eigentlich so trostlos sein wie die Frankfurter Bahnhofszene und ist es eigenwilliger Weise doch immer wieder nicht ganz. „Fratelli“ ist ein bittersüßes tja, nennen wir’s mal: Vergnügen. Liegt’s an der Sonne, liegt’s daran, dass man hier halt nicht lebt – oder liegt’s an der Pizza Margherita?

 


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Wie organisiert man eine Niederlage? Pascal Rabatés beleuchtet die Absurdität des Kriegs in der Groteske „Zusammenbruch“

Illustration: Pascal Rabaté - Reprodukt
Illustration: Pascal Rabaté - Reprodukt

Ein Kleinod mit Verspätung: Pascal Rabatés „Zusammenbruch“ stand jahrelang ungelesen bei mir im Regal. Obwohl mir sein „Schwindler“ so gut gefallen hatte. Versteh das, wer will, denn obendrein hat der „Zusammenbruch“ sogar einen vergleichbaren Inhalt.


Chaotische Niederlage


Der „Schwindler“ war ja ein verzeichneter Roman über das grauenhafte russische Revolutionschaos. Der „Zusammenbruch“ greift nun die französische Niederlage in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs auf. Und die Ähnlichkeit im Chaos ist mit Händen zu greifen.

Illustration: Pascal Rabaté - Reprodukt
Illustration: Pascal Rabaté - Reprodukt

Der Soldat Amédée Videgrain wird mit seinem Motorrad von seiner Truppe zurückgelassen, um einen Bombenkrater zu sichern. Das dauert zwar nicht lang, ab da wird Amédée jedoch versuchen, seine Truppe wiederzufinden. Was zu einem Roadtrip durch das völlig konfuse Kriegsgebiet wird: Die von den Deutschen komplett überrannten Franzosen taumeln zwischen geordnetem Rückzug, Kapitulation, Flucht, Drückebergertum und völliger Orientierungslosigkeit, weil diese Deutschen einfach jederzeit überall auftauchen können.


Franzosen und ihr Bettzeug


In seinen irrsinnigen Momenten erinnert der „Zusammenbruch“ denn auch sehr an „Apocalypse Now“. Armeeteile, die ihre Waffen möglichst gründlich unbrauchbar machen. Der Flüchtende, der auf dem Rücken einen Sessel rettet, und auf dem Sessel sitzend (s)eine Frau. Alleingelassene Kühe mitten im Ort. Brennende Ställe und das Mitleid mit den Tieren, leere Häuser und die Freude an einer richtigen Toilette, aber leider nicht an einem richtigen Bett, denn die Matratzen haben die Einwohner als erstes mitgenommen: „Was“, rätselt Amédée, „haben die Franzosen bloß mit ihrem Bettzeug?“

Illustration: Pascal Rabaté - Reprodukt
Illustration: Pascal Rabaté - Reprodukt

Spannend wird die Story auch durch die Auswahl des Protagonisten: Amédée ist kein Fanatiker, er ist kein Drückeberger, er ist kein Jammerer. Duldsam und mit mildem Sarkasmus stiefelt er durch die Landschaft der bevorstehenden Niederlage. In dieser bizarren Atmosphäre aus Entsetzen und letztem Schultag sucht er pflichtbewusst, aber ohne besondere Eile seine Truppe, dazwischen überkommen ihn Erinnerungen an Zuhause.


Stell dich der Geschichte, Schatz!


Auch sehr selten: Seine gegen den üblichen Strich gebürstete Frau/Freundin. Die am letzten Tag vor der Einberufung nicht vor Angst in Tränen ausbricht, sondern nüchtern auf seine Verteidigungs-Verantwortung verweist: „Man muss sich der Geschichte stellen.“ Um kurz darauf Liebe einzufordern „als wär’s das erste Mal!“

Illustration: Pascal Rabaté - Reprodukt
Illustration: Pascal Rabaté - Reprodukt

Knapp 200 eher kleine Seiten hat die Geschichte, jede Menge Überraschungen und ungeahnte Wendungen, mit feinen Linien und kräftigen Flächen elegant gezeichnet und mit souveräner Bildregie inszeniert. Und noch eine reizvolle Eigenheit bringt sie mit sich: Sie ergreift kaum Partei, verteilt Vorwürfe und Sympathien so sparsam, dass man fast glaubt, Rabaté ließe all das kalt. Dabei lässt er nur seine Protagonisten (und uns) mit ihren Taten und deren Konsequenzen allein – und das nun mal ist was ganz Anderes.

 





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