Weiterlesen auf eigene Gefahr – heute: „Die Lesereise“, „Corto Maltese – Nacht in Berlin“ und „Der Mann im Pyjama“
Der Mann mit der Ersatzmütze

Ein Geständnis: Ich kannte Corto Maltese nicht. Den Klassiker von Hugo Pratt. Ehrlich. Daher habe ich mir – um den neuen Corto Maltese-Band von Juan Díaz Canales und Rubén Pellejero einschätzen zu können, aus der Münchner Stadtbibliothek eine Originalgeschichte besorgt. Das Resultat war ernüchternd: Eine Menge hübscher Bilder mit einem noch hübscheren Segelschiff, und dazu: eine sterbenslangsame Handlung. Und endloses Geschwafel. Das soll eine Abenteuerserie sein? Aber gut: Neuer Szenarist, neuer Zeichner, viel langweiliger kann's nicht werden, oder?
Optisch nicht: Den titelgebenden Abenteurer verschlägt es nach Berlin, und Pellejero holt soviel Babylon Berlin-Atmosphäre raus, wie's nur geht. Inhaltlich rumpelt das Ganze jedoch auf vertrauten Pfaden. Maltese muss einen Mord aufklären, und das geht ja bekanntlich im Brandenburgischen am unauffälligsten in einer Kapitänsuniform, für die offenbar auch noch beliebig viele Ersatzmützen im Seesack stecken. Naja. Augen auf und durch.
Gelassen in die Abwärtsspirale

Der Schaltzeit-Verlag macht gerade eine Menge spannender Sachen wie „Dragman“ und die Kinderserie „Alldine“. Andi Watsons „Die Lesereise“ fällt verglichen damit leider etwas ab. Obwohl der Band viele gute Ansätze hat: Ein Autor soll auf einer Reise sein Buch vorstellen, aber eine Signierstunde nach der anderen entpuppt sich als völlige Pleite. Niemand kommt, die Hotels werden immer schäbiger, die Reise mündet in einer geradezu kafkaesken Abwärtsspirale mit absurden Dialogen, die zarten Schwarz-Weiß-Zeichnungen illustrieren schön die Verlassenheit in einer fremden Stadt, aber – nichts eskaliert. Auch, weil (anders als bei Kafka) Watsons reisender Autor nicht aufbegehrt, sondern alles eher duldsam hinnimmt. Ich finde: Irgendwer sollte sich schon aufregen, damit’s aufregend wird.
Andererseits: Der Tagesspiegel hat sich daran nicht gestört und „Die Lesereise“ zum Comic des Jahres erklärt.
Andi Watson/Ruth Keen (Üs.), Die Lesereise, Schaltzeit Verlag, 25 Euro
Schlaf im Anzug

Ich war neugierig auf Paco Roca, weil ich bereits zwei seiner Comics außerordentlich mochte. Jetzt erscheint mit „Der Mann im Pyjama“ eine Sammlung seiner ganzseitigen Cartoon-Strips aus der Zeitung „Las Provincias“, und da muss man schon mal sagen: Cartoons sind nicht seine Stärke. Dass jemand zu vielem „Ja“ sagt, weil ihm das Ablehnen so schwer fällt, dass er gerne im Schlafanzug daheim sitzt und arbeitet, das mag in Vor-Corona-Zeiten mal skurril gewesen sein, aber ganz ehrlich: Hin und wieder eine Pointe wäre schon nett.
Paco Roca, André Höchemer (Üs.), Der Mann im Pyjama, Reprodukt, 29 Euro.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Die „Katzenjammer Kids“ in Prachtband-Qualität: Alexander Braun feiert den Strip-Pionier Rudolph Dirks mit seiner unvergleichlich einladenden Form des Comic-Infotainment

Dieses Buch ist gut. Richtig gut. So gut, dass man kaum entscheiden kann, wo man mit dem Lob anfangen soll. Vielleicht mit dem Namen: Es heißt „Katzenjammer“ und ist von Alexander Braun, den ich hier schon mal erwähnt habe. Und allmählich muss man wohl davon ausgehen, dass der Band nicht deshalb so gut ist, weil Braun wieder mal ein gutes Buch gelungen ist. Sondern dass das Buch deshalb gut ist, weil es von Braun ist.
Die Gefahr: Detailhuberei und Sammelwut
„Katzenjammer“ ist ein Buch über Comic-Geschichte, vor allem natürlich über den legendären Strip „Katzenjammer Kids“ von Rudolph Dirks, eine der großen und ersten Serien der Comic-Geschichte. Was den Reiz, aber auch die Gefahr eines solchen Buches ausmacht: Je nach Nerdgrad kann die historische Bedeutung des 1897 erstmals erschienenen Strips zu unangenehmen Nebenwirkungen führen. Sammelwut, blödsinnige Detailhuberei, Haarspaltereien, Kaiserbartdebatten, gigantoschnarch. Aber: Nicht so in einem Braunbuch.
Braun kombiniert mehrere seltene Talente: ein journalistischer Blick für erzählenswerte Elemente – und die Fähigkeit sie zu schildern. Analytisches Denken. Akribisches Forschen und Wühlen. Ganz abgesehen vom Organisieren des immensen Bildmaterials. Was dazu führt, dass er den Comic erstmal Comic sein lässt, und das Potential des Kopfs dahinter ausschöpft.
Ein Auge für Fakten, eins für süffige Details

Dirks ist ein deutsches Auswandererkind, Papa Dirks wagt als erstes den Schritt in die USA und holt später seine Familie nach. Braun beleuchtet die Lage in Deutschland, die gigantische Aussiedler-Industrie, ihre Schiffe, die Ankunft, die Unterbringung. „Titanic“-reif bebildert, und mit süffigen Details wie dem reaktionären Arbeiterparadies der Pullman-Siedlung oder der Anhebung der gesamten Stadt Chicago um zwei Meter.
Genau das macht ein Braunbuch aus: Der immens offene Blick, gepaart mit einem sachlich-flüssigen Schreibstil, bei dem immer wieder auch Brauns eigenes Staunen angenehm spürbar bleibt. Mit eben diesem offenen Blick sieht Braun in vielen Details günstige Erzähl-Gelegenheiten. Dass Dirks mit Anfang 20 einer der Profiteure des New Yorker Zeitungskriegs zwischen William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer war, dass er mit seinem Comic immens reich wurde, das ist bekannt. Aber Braun stellt die wichtigen Fragen: Warum war der Jungspund schon so früh erfolgreich? Weil er ein Genie war?
Das Schlachtfeld des Entertainment
Die Antworten liefern für ihn die nächsten Perlen, die er munter plaudernd aneinanderreiht. Braun erweckt eine erwachende Epoche der Bilder zum Leben: Ein frisch besiedelter Kontinent muss versorgt werden, der Versandhandel braucht daher Bilder, Bilder, Bilder. Wer naturalistisch zeichnen kann, kann Geld verdienen, selbst wenn er erst 16 ist. Gleichzeitig macht Pulitzer Boulevardzeitungen zum Erfolg, und Bilder sind eines der Erfolgsrezepte.
Vor allem am Sonntag, weil die Arbeiter mehr Freizeit haben und unterhalten werden möchten. Und weil auch Hearst in den Markt drängt, werden die Comicseiten der Sonntagszeitungen das bunteste, spannendste, lebhafteste Schlachtfeld des Entertainment, das man sich denken kann. All das liest sich so farbenfroh wie es aussieht, und deshalb kann Braun hier auch noch die wissenschaftliche Analyse und das Nerdfutter verführerisch verpackt verabreichen.
Analyse mit Augenzucker
Er verfolgt, wer die Sprechblase zuerst verwendet hat und seziert dann messerscharf, das es darauf gar nicht ankommt: Die große Pionierleistung war die Erfindung der wiederkehrenden Figur, der Serie. Dass es Figuren gab, die nicht nur was erlebten und zugleich ein Versprechen abgaben: Dass man sie nächstes Wochenende wieder treffen würde. Dass man auf sie warten konnte. Ohne Serienfigur kein Donald Duck, kein Laurel & Hardy, kein Harry Potter, kein Game of Thrones. Sowas saugt man aus einem Braunbuch, aus einer Menge einfallsreich bebilderter und layouteter Seiten, eine hübscher als die andere. Erst Augenzucker, dann Analyse.
Wer Schwächen finden will, muss lange suchen: Braun beginnt diesmal manche Kapitel mit szenischen Einstiegen, weshalb der flotte, faktensichere Text öfter mal kurz, aber unvermittelt gegen eine eher fragwürdige Form der Vermutungskolportage eingetauscht wird. Kommt nicht zu oft vor, muss man nicht haben, und hat man in bisherigen Braunbüchern auch nicht, die ich samt und sonders empfehlen kann.
Empfehlen will.
Empfehlen muss!
Alexander Braun (mit Tim Eckhorst), Katzenjammer Kids, avant-verlag, 59 Euro
Alexander Braun, Horror im Comic, avant-verlag, 49 Euro
Alexander Braun, Winsor McCay. The Complete Little Nemo, Taschen Verlag, 60 Euro
Alexander Braun, Anime fantastisch, riva verlag, 29,99 Euro
Alexander Braun, Will Eisner, avant-verlag, (vergriffen).
Ein junger Mieter in einem bizarren Haus: Daniel Hulets „L'état morbide“ kriegt nach 30 Jahren eine Neuauflage. Besteht die Gruseltrilogie den "Test of time"?

Es hat was Bestätigendes: Der Splitter-Verlag hat die drei Bände von „L’état Morbide“ wieder ausgegraben. Dahinter verbirgt sich eine Grusel-Serie des 2011 verstorbenen Belgiers Daniel Hulet, deren ersten Teil ich so um 1990 in die Finger bekam und ziemlich gut fand - aber, wie die Neuauflage zeigt, eben nicht nur ich. Schön!
Die Story: Der junge Comic-Zeichner Charles Haegeman zieht in ein merkwürdiges altes Haus mit seltsamen Mietern, die Atmosphäre ähnelte sehr der in „Rosemarys Baby“, wenn auch das Haus etwas moderner wirkt. Und das Ganze endete auch nicht sauber aufgeräumt, sondern mit einer gruselig-verwirrenden Schlusspointe, nach der man sich die Teile zwei und drei kaum noch vorstellen konnte.
Diese Teile fand ich aber lange nicht.
Das heißt: Teil drei schon, irgendwann mal in einer Ramschkiste. Aber den hab ich nie genauer angesehen, weil ich ja Teil zwei noch nicht hatte. Jetzt also gibt’s bei Splitter alle drei auf einmal. Und ich erfahre endlich wie’s ausgeht!
Der Anfang: beunruhigend gut
Aber irgendwie ist diese Begegnung mit der Vergangenheit ziemlich zwiespältig. Anfangs ist noch alles im grünen Bereich. Hulet lässt Charles das alte Haus mit der eigenwillig modernen Fassade entdecken (das es übrigens tatsächlich gibt, am Boulevard d’Ypres 34 in Brüssel). Hulet hat es in ein anderes Viertel versetzt, zeigt es an einem düsteren blaugrüngrauen Nachmittag, und das Bewerbungsgespräch bei der Hausverwalterin mit ihren Katzen, der Gang durch die finstere Bude, das alles funktioniert heute schon immer noch so bedrückend gut, wie ich es in Erinnerung habe.

Aber schon beim Besuch von Charles‘ Freundin zeigen sich erste Mängel, die sich garnicht mehr so mit meiner Erinnerung decken: Der Dialog ist arg mau. Da reden nicht zwei miteinander, sondern halten sich Vorträge. Die Sprechblasen sind gigantisch und randvoll gestopft, weil sich die beiden ständig alles erklären müssen – und trotzdem leuchtet nicht ein, warum Charles in ein derart ungemütliches Haus zieht und die Freundin mit ihm in einem Zimmer schläft, in dem die Kakerlaken aus der Wand kommen. Viel stärker als das Gelaber wirken Hulets Bilder, die Unbehaglichkeit des Zimmers und immer wieder der Blick auf die Hausfassade mit der großen, stehengebliebenen Uhr.
Ab hier versinkt Charles zunehmend in diesem düsteren Haus, es hätte genügt, das alles zu zeigen – aber stattdessen denkt er endlose Selbstgespräche und liest dann auch noch das Tagebuch eines geheimnisvollen Selbstmörders vor. Wir erfahren Mysteriöses aus der Brüsseler Vergangenheit, aber es wirkt nicht so aberwitzig wie William Gulls London-Führung in Alan Moores „From Hell“, sondern ziemlich geschwätzig. Als auch noch Charles‘ Kumpels dazukommen, wird wieder im XXXL-Format geschwafelt. Doch wegen dreier nach wie vor sehr überzeugend funktionierender Elemente breche ich den nostalgischen Horror-Trip nicht vorzeitig ab.
Manches floppt: drei Elemente bleiben wirksam
Element Nummer eins ist das Entdecken des Hauses von innen: Die alten Wohnungen in schwarzgrünlicher Finsternis, das Forschen nach den anderen Mietern ist schön spooky, vor allem auch deshalb, weil hier alle einfach mal die Klappe halten und Hulet stattdessen die Augen des Lesers im verunsichernden Halbdunkel unkommentiert herumführt.
Element Nummer Zwei ist die Bild-Aufteilung. Es gibt auf den kompletten 140 Seiten praktisch kein einziges rechtwinklig angelegtes Panel, permanent wechselt der Ausschnitt, jede Doppelseite ist zersplittert wie ein heruntergefallener Spiegel, der noch dazu sehr unorthodox zerbrochen ist. Und der permanente Zwang, sich neu orientieren zu müssen, unterstützt tatsächlich das Unheimliche der Geschichte.
Element drei ist natürlich die Neugier auf Band zwei.
Das Unerklärliche bekommt eine Erklärung
Der wechselt etwas die Richtung: Hulet liefert einen Verantwortlichen für die Vorgänge im Haus, der weiterhin sein Unwesen treibt. Hulet fallen dazu auch viele einschüchternde Momente und Varianten ein. Leider bestätigt sich auch diesmal, dass die Ungewissheit vorher erschreckender war. Was Hulet wiederum zwingt, in Teil drei immer mehr fantastische Elemente aufzufahren, und das alles wird wieder gründlich erklärt und ist nur noch sehr, sehr mittelgut. Schade.
Aber ein guter Anfang ist besser als nix. Und wer bei Dialogen nicht so empfindlich ist wie ich, hat vermutlich nicht nur mit dem ersten Band auch heute noch seine dunkle Freude.