Kleine Geschichten, enormer Suchtfaktor: Taiyo Matsumotos Manga-Mirakel über Kummerkinder und Tischtennis-Teens

Furchtbar an Mangas ist oft, dass sie oft so furchtbar sind. Aber das Tolle an Mangas ist auch, dass sie dermaßen irrsinnig viel Erfolg haben, dass dort auf der Suche nach einer Nische Themen eine Chance bekommen, die im Mainstream nie erste Wahl wären. Und das bringt uns zur eigenwilligen Comicwelt des Taiyo Matsumoto.
Deutschland-Start mit Kindergangstern
Erstmals aufgefallen ist er mir vor längerem , mit der aberwitzig-brutalen Kindergangster-Ballade Tekkon Kinkreet. Dann ist er mir fünf Jahre aus dem Blickfeld geraten, und als ich wieder hinsehe, hat er zwei Serien am Laufen. Und die sind prompt beide sehr empfehlenswert, aber auf unterschiedliche Art.

Die handelsüblichere Serie heißt: „Ping Pong“. Es geht um, logisch, Tischtennis, und die Serie greift den Zweikampf-Mechanismus auf, den man aus anderen Mangas bis zum Erbrechen kennt: Wer hat welche Kampftechnik, und dann das Duell, und danach das nächste Duell, blablabla Pikachu Donnerschock. Aber die Versetzung ins Tischtennis ersetzt den Videospiel-Level-Blödsinn plötzlich durch reale, analoge Grundlagen: Wie hält wer den Schläger, welcher Belag wird draufgeklebt, wer schneidet Bälle wie an? Auf diesem Teppich breitet Matsumoto aber dann sein eigentliches Anliegen aus: Kinder.
Dramen in der Schläger-Truppe
Seine Helden sind allesamt jung, irgendwo zwischen neun und 13, 14, mitsamt ihren Ängsten und Talenten. Der nachdenkliche Smile, der lieber schön spielt als zu gewinnen. Der quirlige, aber disziplinlose Peko. Matsumoto schubst sie alle in die Mühlen des Leistungssports, und mehr noch als ihre Siege verfolgt er die Niederlagen seiner jungen Schläger-Truppe. Das Schöne daran sind zwei Elemente: Matsumoto weiß, dass es gerade das Drama dazwischen ist, das die Duelle an der Platte so richtig emotional auflädt. Und er weiß auch, dass Drama nicht alles ist, sondern dass man die Duelle dann auch optisch richtig ausspielen muss. Mit extremen Blickwinkeln, rasanten Bildschnitten, cleveren Details, all dem Zeug, das auch die Quatschmangas für ihre Quatschkämpfe benutzen, das aber im Pingpong zigfach authentischer und fesselnder wirkt.

Möglicherweise lag es auch an dieser Erfahrung, dass Matsumoto sich in „Sunny“ erlaubt, komplett auf Action zu verzichten: Die Serie spielt in einem japanischen Kinderheim in den 70er Jahren. Die Kinder sind unterschiedlich alt, unterschiedlich nett. Sie sind keineswegs alle Waisen, sondern oft scheinen die Eltern überfordert. Wie bei Haruo, weißhaarig, arrogant, laut – der davon träumt, wieder bei seiner Mutter leben zu dürfen (Fun Fact: am liebsten spielt er mit den in Deutschland nie recht erfolgreichen Micronauts). Der stille Sei. Der geistig behinderte Taro. Matsumoto, selbst ehemaliges Heimkind, lässt sie streiten, davonlaufen, zeigt sie wütend, obszön, anhänglich, im Kampf um Selbstbewusstsein und gegen ihre Enttäuschungen. Für ihre ehrlich bemühten Erzieher bleiben da nur die Nebenrollen.
Sonnig ist es nur in der Schrottkarre
Matsumoto arbeitet zwar mit einer festen Gruppe von Charakteren, erzählt aber immer wieder neue, oft melancholische Episoden. Etwa, wenn Sei einem neuen Kind beibringt, es sei besser, sich keine Hoffnungen zu machen, dass man wieder nach Hause dürfte. Und wenn dann der Neuankömmling Seis Tipp endlich akzeptiert und dann plötzlich doch wieder heim darf, bleibt Matsumoto natürlich bei Sei, dessen Schutzmechanismus zugleich widerlegt ist und doppelt nötig wäre.

Es passt zu diesem Reigen süchtig machender Miniaturen, dass die Serie ihren Namen von einem kaputten Auto, einem Nissan Sunny, der hinter dem Heim steht. Denn immer, wenn die Heimkinder traurig sind oder die Schnauze so richtig voll haben, dann fliehen sie in das kleine kaputte Auto, kotzen sich so richtig aus oder träumen von Autorennen.
Eine Serie über enttäuschte Kinder.
Eine Serie über Pingpong.
Wer würde sowas drucken?
Deshalb ist es so gut, dass es Mangas gibt.
Taiyo Matsumoto, Daniel Büchner (Üs.), Ping Pong, Reprodukt, Bd.1-3, je 14,90 Euro
Taiyo Matsumoto, Martin Gericke (Üs.), Sunny, Carlsen, Bd.1-6, je 16 Euro
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Ein Markt für Millionen muss auch Gutes produzieren, oder? Wer sucht, der findet: Drei Manga-Tipps vom Skeptiker – Lesestoff über Maschinen, Mystery und Mini-Gangster
Also, inzwischen weiß ich ja, was ich an Mangas nicht mag: Diese vorgefertigten Schablonengesichter und auch diese Form von Slapstick, bei der die Protagonisten immer furchtbar übertrieben erschrecken, schüchtern werden, sich mit der Hand im Nacken kratzen und so zuckrig grinsen, dass alles zu spät ist. Der Vorteil dabei ist: Man kann gezielter suchen. Gibt es Mangas, die auf diesen Humbug verzichten, aber immer noch eine schöne Geschichte hinlegen? Die gibt’s, und drei davon haben mir in letzter Zeit richtig gut gefallen.
Kalter Comic für heiße Sommer

Eine Serie davon ist mir leider etwas zu spät aufgefallen, die wäre ideal für diesen heißen Sommer gewesen (aber davon sollen ja demnächst noch mehr kommen): „Blame!“ von Tsutomu Nihei, mit das Kälteste was ich bisher als Comic gesehen habe. Also, nicht von der Raumtemperatur her, die lässt sich nicht recht bestimmen, aber die Fantasiezukunft, in die „Blame“ entführt, ist emotional derart frostig, das hält man ab Frühherbst nur aus, wenn man beim Lesen unter eine Decke kriecht.
Wir befinden uns in einem gigantischen maschinenartigen Gebäude, es gibt riesige Wände, ursprünglich glatt verkleidet, inzwischen aber völlig verrottet, überspannt von fassdicken Kabelsträngen, angenagt von elefantengroßen Beton-Asseln. In dieser Industriemechanikwelt ist Killy unterwegs, ein junger Mann mit einer kleinen, extrem wirksamen Knarre, der nach Überresten der Menschheit sucht – und gegen Roboter und Androiden kämpft, die dasselbe tun. Für wen Killy arbeitet? Wie lange schon? All das wird nicht verraten und zwischen ausgeklügelt choreografierten Schießereien in homöopathischen Dosen allenfalls angedeutet. Killy erfährt von einem bewohnten Gebiet, „3000 Levels entfernt“, und selten hat etwas derart Freudloses vielversprechender gewirkt: Die Aussicht, ihn noch länger in dieser faszinierend verfallenen Welt begleiten zu können. Mit aufregenden Perspektiven, harten, schnellen Schnitten, betäubenden Explosionen und einem bemerkenswert klug eingesetzten Minimum an Text und Dialog. Mehr! Mehr!
Tsutomu Nihei, Blame!, Band 1-5, Cross Cult, je 28 Euro
Zwei kleine Arschlöcher, die zu Herzen gehen

Deutlich schwerer fällt die Eingewöhnung bei „Tekkon Kinkreet“ von Taiyo Matsumoto. Nicht nur, weil Gangster-Großstadtballaden per se schon deutlich weniger knallig daherkommen. Da ist zunächst schon der Zeichenstil, weniger perfektionistisch, überhaupt nicht so supersauber, sondern eher im Indie-Stil von Robert Crumb, die namenlose Stadt mit ihren seltsam aufgequollenen Autos könnte auch den Hintergrund zu den Abenteuern von Fritz the Cat bilden. Und die beiden Antihelden sind zwar extrem gewalttätig, aber Kinder: Shiro und Kuro bilden die Zweier-Gang der Katzen, Straßenkinder, die in einem vermüllten alten Honda hausen.
Shiro ist dabei deutlich langsamer im Kopf, schreit Unschönes wie „Pimmelkackamöpse“, und beim Essen mag man ihm auch nicht zusehen. Kuro mit seiner Pilotenbrille kümmert sich um ihn und gemeinsam verprügeln sie jeden, der ihnen querkommt oder auch nur eine Armbanduhr trägt. Spannend ist, wie Matsumoto einem die zwei kleinen Arschlöcher näherbringt: Wenn sie gerade niemandem den Kopf einschlagen, achten sie geradezu fürsorglich auf einander. Und sie lieben ihre Stadt, weshalb sie ziemlich schnell auch ausgewachsene Gangster krankenhausreif schlagen, die ihre Lieblingsplätze kaputtsanieren wollen – Shiro und Kuro sind nämlich nicht nur todesmutig und völlig hemmungslos, sondern auch unschlagbar.
Es kommt, wie’s kommen muss: Drei stumme Profikiller werden in die Stadt geholt und auf die beiden angesetzt. „Tekkon Kinkreet“ entführt in eine düstere Welt voller guter bis böser Polizisten, geisteskranker bis prinzipienfester Gangster und mit einer angesichts der Härte erstaunlichen Warmherzigkeit.
Taiyo Matsumoto, Tekkon Kinkreet, Cross Cult, 32 Euro.

Jetzt ist ein bisschen Erinnerungsarbeit hilfreich: 1976 sorgte ein Film für ziemlich viel Wirbel, „Im Reich der Sinne“, japanische Erotik, die auf einem wahren Skandal beruhte. Ein Paar, das sich allmählich in immer extremere Sexpraktiken verstrickt, bis sie ihn eines Tages auf seinen Wunsch hin stranguliert und (sensible Gemüter lesen jetzt mal kurz weg) ihm dabei den Penis abtrennt. Kazuo Kamimura hat das im selben Jahr mit dem Autor Hideo Okazaki zu einem Manga verarbeitet, den der Carlsen Verlag dieser Tage rausbringt – und der trotz und wegen der eigenwilligen Geschichte ziemlich prima ist.
„Abe Sada“ begleitet die Geschichte des weiblichen Teils des Pärchens, des frühreifen Mädchens Abe, die „Männer mag“, wie sie selbst sagt, die allerdings zugleich auch ziemlich verstört darüber ist, dass sie sich so anders verhält, so anders empfindet als die übrigen Mädchen und Frauen. Kamimura macht draus eine ziemlich raffinierte Mischung: Zwischen viel Sex lernt man Japans damalige Familienstrukturen, Sitten und Gesellschaft kennen, der Stil ist außerordentlich flexibel, wechselt zwischen historischen Motive und Formensprache, sauberen Zeichnungen und hübschen Aquarellpassagen und obendrein hat Kamimura einen gewitzten Weg gefunden, sehr dreckigen Sex sehr sauber wiederzugeben. Falls Sie dennoch Bedenken haben: Ich kann versichern, am Ende von Band 1 sind alle Körperteile auf jeden Fall noch dort, wo sie hingehören.
Kazuo Kamimura/Hideo Okazaki, Abe Sada, Carlsen Manga!, Band 1
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.