- 20. Sept.
Fremdschämen oder Mit-Leiden? „Hallimasch“ ist das schmerzhaft komische Porträt einer ganz gewöhnlichen Lebensmitte

Oha. Das hier ist sehr, sehr gut.
Nicht für alle, doch für viel mehr als man denkt. Ich sag mal: Feuchtenberger meets Stromberg. Und wenn Sie grad im Laden stehen: die ersten sechs Seiten reichen, um rauszufinden, ob Sie „Hallimasch“ von Max Baitinger mögen.
Oberlehrer trifft nassen Sack
Erste Doppelseite: Ein Judo-Studio, zwei junge Kämpfer stehen sich gegenüber. Krakelig, aber die japanische Wandtapete ist präzise. Der Kampf: Die Krakel-Figuren verschmelzen, aber trotzdem erkennt man alles superklar, das typische Ziehen, Zerren, Schieben. Judofans sehen's gleich, alle anderen drei Panels später: Der Coach trennt die zwei und oberlehrert auf sie ein. Wie er sie am Kragen zieht, wie sie kindertrotzig zum nassen Sack werden, wie er er seine abgedroschen rhetorischen Fragen stellt, wie sie kaum leserlich die xmal geübte Antwort nuscheln, das ist sehr, sehr komisch – und das perfekte Intro für den Trainer: Dieter.

Den muss man sich so vorstellen: Vollbart, zu große Brille, geradezu atemberaubend unwitzig. Baitinger zeigt ihn als nächstes beim Telefonieren, superlässig die Hand in der Hosentasche, drunter diese Plastikpantoffeln, endlos sülzt er auf der Terrasse vor Einfamilienhaus und Grill und Trampolin, bis wir merken, dass er nur einen AB vollquarkt. Er wird „den Volker abholen“ und dann werden sie ihren alten Kumpel Acki in Leipzig besuchen. Das klingt alles nach wenig, aber vor allem eines: phänomenal cringe!
Grusel-Gesten an der Kaffeemaschine
Dieters Grusel-Gesten (das Bedienen der Kaffeemaschine, Trommeln auf dem Lenkrad), die präzise abgelauschten Phrasen, das ist irrsinnig gut, lustig, bitter und wird nur noch von Baitingers zeichnerischer Sparsamkeit übertroffen. Wo andere zwei Linien setzen, reicht Baitinger eine halbe, wenn er sie nicht weglässt und durch ein bisschen wässrige Grauschattierung ersetzt. Was wiederum Baitingers finsteren Humor ideal stützt: Die Kargheit vermittelt den Eindruck, als hätte man Details und Pointen in einem Suchbild selbst entdeckt. Kann natürlich nicht stimmen, wirkt so aber doppelt überraschend.
War’s das?
Noch lang nicht.

Ich hab noch nicht von seiner munteren Kameraführung gesprochen, Draufsicht, Untersicht – alles vorhanden, aber nie übertrieben, stets szenendienlich. Actionpassagen, obwohl die ganze Handlung null Action hergibt. Die grandiose Charakterkombination, denn der abzuholende Volker ist ein passend wortkarger Frontalstoffel, die ideale Ergänzung, zu Dieter, der in seiner Abwaschbarkeit verzweifelt versucht, mit dem Spitznamen „der Dietz“ Profil zu gewinnen.
Das vorgefertigte Leben
Wie Baitinger diese Figur zeichnet, die alles gekauft hat, was man kaufen muss, und die trotz Frau und zwei Töchtern ein deprimierend hohles, vorgefertigtes Leben absolviert, das ist zum Heulen komisch. Weil Baitinger eine Sache konsequent richtig macht.

Baitinger wirft Dieter sein Lebensmodell nicht vor. Aber er zeigt, wie „der Dietz“ selbst darunter leidet. Wie er sich sein Leben selbst zulärmt, weil er den stillen Momenten ausweichen will. Wie er Gesprächspausen zuquatscht, seine Familie inhaltslos anruft, sich einsam betrinkt, ewig und fortwährend die ollsten Kamellen reproduziert, wie er sogar dankbar ist, wenn plötzlich sein Chef am Handy ist. Wie er überhaupt den ganzen Trip zu Acki nach Leipzig offenkundig nur anleiert, weil das normale Leben…? Denn der legendäre Acki hat sich auf seine Anrufe und seine AB-Sermone praktisch noch nie zurückgemeldet.
Ich hab „Hallimasch“ eingesaugt. Gott, war das gut!
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- 9. Aug.
Französische Ernte (II): Wie ein großes Comicangebot übersehenen Perlen zur zweiten Chance verhilft – etwa der bittersüßen Zauberwelt des Cyril Pedrosa

Was hat ein Comicfreund vom Frankreichurlaub, wenn er die Sprache nicht complètement connait? Wie (hust) immer noch ich? Beispiel 2: Er flipperkugelt in der Pariser Rue Saint Jacques von einem Comicshop in den nächsten. Die nicht nur bestimmte Themen abgrasen, sondern überhaupt von allen Autoren auch noch die komplette Backlist bereithalten. Weshalb man sich fragt: Warum hab ich nicht mehr von Cyril Pedrosa gelesen? Der sieht doch geradezu unverschämt gut aus!
Null Action, sanfter Witz
Pedrosas „Jäger und Sammler“ ist eine Herzenssache. Als der Titel 2016 auf deutsch erschien, hab ich ihn ignoriert, weil er „irgendwie anstrengend“ aussah. Und dem Leser so wenig entgegenkommt: Er erzählt von verschiedenen Menschen, man weiß nicht, was sie miteinander zu tun haben, es gibt null Action, nur sanften Witz. Was den Comic vorm Weglegen rettete, waren die Figuren und die Bilder.

Wie Pedrosa Menschen beobachtet und sich bewegen lässt, macht große Freude. Die Körperhaltung beim Rauchen, Streiten, In-der-Handtasche-kramen, da ist es völlig egal, worüber sie gerade reden, weil das Gespräch durch die Zeichnungen so viel Leben gewinnt. Obendrein inszeniert Pedrosa Szenen und Dialoge so vielseitig und ideenreich, dass man völlig vergisst, wie unscheinbar die Gesprächsthemen sind.
Die richtige Pose im richtigen Moment
Er wechselt nicht nur die Perspektive, die Panelgröße, er wechselt das Licht, die Farben, den Fokus. Er reduziert etwa in berührenden Momenten die Schärfe, bis nur noch die Gesichter klar sind. Er entfernt die Konturen, tönt Doppelseiten in blaugrau oder auch in pink, Pedrosa öffnet ein regelrechtes Füllhorn der Optionen, dessen Output er aber auch passend dosiert. Als er beispielsweise zwei Doppelseiten Ex-Ehestreit an Weihnachten abfeuert, verzichtet er auf jeden Zusatz, weil ja der Zoff die Szene trägt. Ich brauchte bis zu diesem Streit, um endlich Zugang zu finden.

Denn alle Charaktere sind gleichwertig, und weil sie wenig miteinander zu tun haben, sitzt man anfangs da wie vor einem Haufen Puzzleteile. Man muss sich über die Ecken und Ränder reintasten. Und ich vermute: Je älter man ist, desto lohnender wird’s. Pedrosas Charaktere sind fast alle 40 aufwärts, sie rätseln über das Leben und seine Endlichkeit, ohne dafür alleingültige Wahrheiten liefern zu können.
Muss. Mehr. Pedrosa. Lesen.
Mit 20 hätte ich vermutlich gegähnt. Aber ich bin nicht mehr 20. Vielleicht sollten aber auch nur eine Menge Comics dem Leser einfach im richtigen Alter begegnen. Oder im richtigen Moment. Oder in Paris. Muss. Mehr. Pedrosa. Lesen.

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- 14. Juni
Früh muss man starten, um sich die ersten Blasen zu erlesen: Sieben Comic-Tipps für Kinder - mal sachlich, mal fantastisch, mal sogar tödlich

Ich hab ein gar nicht mehr so kleines Problem mit dem Kinderthema: Mein Testkind ist zu groß und zu alt. Trotzdem hat sich hier seit dem letzten Mal allerhand gesammelt, das ich von mittel bis gut finde. Ich kann bloß nicht mehr sagen, es sei kindgetestet. Also: Los geht's!
Die Dschungelbuchung

Nicht verkehrt, aber auch nicht superbesonders: In der Serie „Herr Elefant & Frau Grau“ reist das gleichnamige Liebespaar aus Elefant und Gazelle nach Deutschland. Das ist nur mittelabsurd, weil Szenarist Martin Baltscheit das ungleiche Paar und die afrikanische Herkunft lediglich für Reisehindernisse nutzt, ansonsten könnte da genausogut Dackel und Wiesel von Australien einreisen. Soviel genörgelt, aber das war's auch schon, denn kindertauglich ist es allemal. Weil Baltscheit superroutiniert Drolligkeiten und Kleingefahren einbaut. Max Fiedler zeichnet einen munteren Sfar-Stil, insofern: ordentliches Produkt, das auch beim zweiten Teil in der Qualität nicht nachlässt.
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Kristallblaue Riesenschlange

Luke Pearsons Serie „Hilda und Hörnchen“ gehört mit zum Empfehlenswertesten, was ich so als Kindercomic kenne, und zwar für alle: Kind(er), Eltern, Unbeteiligte. Der Grund ist, dass Pearson nicht nur einen schönen lakonischen Humor hat, sondern auch eine sympathische Distanz zu seiner kleinen Heldin bewahrt, die gerne mal sehr von sich überzeugt ist und damit ihrer Umwelt auf die Nerven geht. Das Personal ist gleich: Hilda lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter in irgendeinem britischen Hochland oder so, geht mit ihrem Hirschfuchs Hörnchen spielen und findet meist leicht übernatürliche Wesen, In „Das Regenversteck“ ist es eine bezaubernd kristallblaue Riesenschlange. Was Pearson nicht nur zu allen Erzählvarianten von Grusel über Action bis Magie nutzt, sondern auch optisch ungemein attraktiv ausreizt. Jede Mange Panels in Posterqualität, reichlich Slapstick, und Mutter-Tochter-Gespräche – da fällt mir einfach nichts zu quengeln ein.
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Luke Pearson, Matthias Wieland (Üs.), Hilda und Hörnchen – Das Regenversteck, Reprodukt, 18 Euro
Künstlicher Kaiser

Neues aus Aachen: Karl der Kleine ist wieder unterwegs, aber ich weiß nicht genau, ob Kinder das diesmal gut finden. Denn noch nie war Karl so düster. Sein Kumpel Granus hat ihn grob gezeichnet und der KI zur Ausarbeitung überlassen. Also gibt’s Karl bald nicht nur doppelt, sondern auch in 3-D, schicker, und die Rechte des Zeichners Neufred lassen sich mit billigsten Namenstricks aushebeln. Diese Härte hält Neufred natürlich bzw. sinnvollerweise nicht durch, es kommt zu serienüblichen Zeitreise, wir lernen über den Nachrichtendienst-Erfinder Reuter und den Historienmaler Alfred Rethel kennen, und auch Neufreds Schluss ist versöhnlich (auch wenn der Grund für diesen Optimismus nicht ganz klar ist). Doch tatsächlich ist diesmal die launig erzählte Lokalgeschichte ein bisschen zum Fürchten. Interessant. Â
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Freche Frau Franz: Die Strip-Serie „Drei aus der Zukunft“ aus „ZEIT LEO“ ist mir aus (obacht, Gag!) Zeit-Mangel durch die Lappen geschliddert. Gemerkt hab ich’s weil’s die Abenteuer jetzt auch gebunden und im anderen Format gibt – und ich muss sagen: ich hab schon mal weniger gelacht. Franz’ angeniedlichter, Max-und-Moritz-Preis-gekrönter Stil wirkt hier munter retrohaft, fix+foxi-like, die Gags sind schön dreist, dabei angenehm digitalkritisch, und so geht das Ergebnis in Richtung einer jugendverträglichen Variante von Fil und Klaus Cornfield. Könnte gut ankommen, sag ich mal, ich hab bloß kein Kind, an dem ich’s ausprobieren könnte.
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Wenn Freund Hein mitermittelt

Der Tod hat Zeit. Sein Job ist, den Menschen im Augenblick des Sterbens zu erscheinen, die ihn erwarten. Aber weil der Tod heute oft verdrängt wird, langweilt er sich - und erscheint in seiner reichlichen Freizeit dem jungen Lukas. Warum? Weil Lukas nicht vor ihm wegläuft, denn wie der Tod sehr richtig feststellt: "Es ist schwer, sich mit jemandem zu unterhalten, der wegläuft." Der Viel-Szenarist Patrick Wirbeleit macht aus diesem Szenario einen sehr soliden Kinderkrimi, der nebenbei das Thema Trauer so kindgerecht wie einfühlsam in Szene setzt. Das von Matthias Lehmann gezeichnete Ergebnis ist nicht der Überhammer, aber ich habe mich absolut nicht gelangweilt. Und den Täter hab ich auch nicht erraten, aber darin bin ich sowieso immer mies.
Die neben dem Ork sitzt

Fun-Fantasy, diesmal für Kinder (aber nicht nur): Lewis Trondheim startet mit „Aurora und der Ork“ eine neue Serie. Der Inhalt: Aufgrund von Magie bekommt Schülerin Aurora einen neuen Sitznachbarn und Mitschüler – eben den Ork. Was aufgrund derselben Magie keiner seltsam findet, außer Aurora. Pro Seite gibt es eine Kurz-Episode auf sechs Panels, samt Pointe zum Schluss, Trondheim bespielt das Format allerdings so routiniert, dass der Ork nicht mal den niedlichen Hund fressen darf. Vermutlich, weil das Kinder nicht verkraften. Nett, solide (und Peng-Preis-nominiert!), aber für mich auch etwas schade, denn Trondheim kann unangepasster… Doch Kinder sehen das womöglich anders.
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Hexenwerk, zurechtgesödert

„Grüna“ lässt mich etwas ratlos zurück: Die Geschichte ist Teil der Serie „Hexenkram“, ausgesprochen munter gezeichnet und, wenn nicht alles täuscht, geradezu erzkonservativ. Grüna ist elf und Tochter einer Hexe, also wird sie selber auch eine, nämlich irgendwann so mit elf, zwölf, soviel zur tiefen Symbolik. Grüna will aber keine Hexe werden, weil sie Angst hat, „anders als die anderen Mädchen“ zu werden. Sie will „einen Jungen kennenlernen, mich verloben und später heiraten“. Die alleinerziehende Mutti verzweifelt, die coole Oma verspricht, das Problem zu lösen. Sie zeigt Grüna ein paar Hexentricks, erklärt Grüna, sie habe nur deshalb keinen Vater, weil Mama ein „Sturkopf“ sei und „eines Tages“ beschlossen hat „ihn loszuwerden“. Und so lernt Grüna einen netten Jungen kennen, der Fußball spielt, bringt den Papa wieder zurück und dann ist auch die verbiesterte Mama wieder lieb – du lieber Himmel! Nichts gegen traditionelle Familienwelten, aber deswegen muss man ja nicht gleich die Botschaft senden, dass das Teenie-Leben einfacher und schöner wird, sobald man es mehrheitsfähig zurechtsödert. Und genaugenommen erfüllt das sogar alle wesentlichen Tatbestandteile vorsätzlicher Täuschung.
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