- 13. Nov.
Die Outtakes (34): Mit 1 attraktiven, aber schiefen Vergleich, 1 rassigen Zweitaufguss und 1 unentschlossenen Paradies

Fliegen an der Windschutzscheibe
Erwarte ich zuviel von Roberto Grossi? Der will in „Die große Verdrängung“ die großen Krisen der Gegenwart auf den Punkt bringen. Weil ihm die Menschheit vorkommt wie ein Schwimmer, auf den ein Hai zurast – und während ihn alle von der Jacht aus warnen, schaut er lieber zu den Luxus-Hochhäusern am Strand. Und es sieht lange gut aus, weil Grossi wirklich überraschende Bilder findet – das Cover ist nur eines davon. Aber dann zeigen sich Mängel. Dass er etwa einen Großteil der Fehler beim Kapitalismus verortet – obwohl sich andere Wirtschaftsformen auch nicht umweltfreundlicher gezeigt haben. Bis auf: Armut (die sich übrigens auch keiner der Armen freiwillig ausgesucht hat). Dann dämmert einem auch langsam, dass das Hai-Bild nur klappt, wenn man den Klimawandel akzeptiert: Den Hai kann man nicht bestreiten, weil er sofort beißt. Das Klima aber beißt weit weniger deutlich. Am stärksten ist der Band daher, wenn er so argumentiert, dass man rational nicht widersprechen kann. Etwa mit der schönen Beobachtung von Windschutzscheiben. Wer in den 80ern im Auto nach Italien rauschte, sah spätestens ab der Po-Ebene vor toten Insekten kaum noch die Straße. Und heute? Aber wer heute um die 20 ist, kann natürlich behaupten, so viele Insekten hätte es nie gegeben.
Haustiere in der Nazigeschichte

Das war’s irgendwie nicht. Dabei hat „Lebenborn“ ein spannendes Thema: die Zuchtprogramme der Nazis. Nicht nur war Hitler der Ansicht, man könne rassisch verbesserungsfähige Gegenden „aufnorden“, indem man ein paar Einheiten notgeiler junger Soldaten, vorzugsweise SS, hinschickt. Sondern man kümmerte sich auch um die auftretenden unehelichen Kinder. „Lebensborn“-Heime sorgten für eine unkomplizierte Geburt. Eines dieser Kinder ist die Mutter von „Lebensborn“-Autorin Isabelle Maroger (welche den Stoff selbst schon als Buch verarbeitet hat). Jetzt wagt die Tochter die Zweitverwertung, wobei sie den brisanten Stoff allerdings häufig entschärft. Etwa durch den niedlichen Stil, bei dem an allen Ecken süße Haustiere durchs Bild springen. Oder durch die Betonung der Familienfindung (die sich jedoch von der herkömmlicher Adoptivkinder wenig unterscheidet). Vor allem aber, weil sie die politische Brisanz kaum erfasst. Denn letztlich haben die Nazis hier exakt das gemacht, was ihre Nachfolger heute der Politik vorwerfen: Bevölkerungsaustausch. Was die ideale Brücke zum Heute gewesen wäre: Dass man nämlich auf so eine absurde Idee vermutlich überhaupt nur dann kommt, wenn man sie selbst insgeheim prima findet.
Schlange im Eintopf

Auch schon wieder 13 Jahre her: Ville Ranta, der Finne, der kürzlich so pointiert wie selbstironisch den französischen Proficomic-Betrieb schilderte, hat 2012 den schmalen Band „Paradies“ herausgegeben. Eine freche Adam-und-Eva-Erzählung, bei der weder Adam noch Eva noch Gott oder Schlange gut wegkommen. Das sieht flott aus, ziemlich joann-sfar-geschult, ist skurril und auch unverschämt, aber eben dadurch auch nicht so ganz schlüssig. Natürlich können alle Beteiligten einen an der Klatsche haben, aber seltsamerweise zündet der Einfalts-Eintopf dann nicht so recht. Wohl, weil man zur Identifikation jemand Halbnormales braucht, um an den Deppen verzweifeln zu können.
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- 2. Apr.
Die Outtakes (26): Mit einem redefreudigen Kater auf Abwegen, einem Werbe-Bestschenker und Blutsaugern vom Lande

Übersehene Geschichte
Er macht es einem wieder einmal nicht leicht, der maxundmoritzbepreiste Joann Sfar: Der inzwischen fünfte Teil der „Katze des Rabbiners“ ist zwar zuverlässig munter und ansehnlich, aber zunehmend nutzt Sfar den kratzbürstigen Kater, um alle Themen abzuhandeln, die ihm so durch den Kopf gehen. In der ersten Hälfte ist das die Suche nach Gott und den Wundern, die ihn beweisen sollen, das wird dann schon sehr theoretisch. In Teil zwei stolpern wir hingegen in einen häufig übersehenen Teil der Geschichte: Nach dem ersten Weltkrieg wurden Teile der französischen Armee nicht in den Frieden entlassen, sondern gleich zur Bekämpfung der russischen Revolution weitergeschickt (und zur Eintreibung der russischen Auslandsschulden). Den barbarisch-blutigen Horror des russischen Revolutionschaos schildert Sfar bizarr, brachial, dämonisch gut, Literaturhinweise inklusive, so dass nicht nur historisch Interessierte was davon haben.
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Vernünftiges von der Versicherung

Nach „Alex der Rabe“ folgt hier ein weiterer Blick in die Werbevergangenheit: „Max & Luzie“ entstand 1983-2002 im Auftrag der Allianz-Versicherung, in tadelloser „Knax“-Qualität – mit allen Vorzügen und Nachteilen. So merkt man durchweg Zeichner Franz Gerg sowie dem Autorentrio Monika Sattrasai/Doris Ertel-Zellner/Reinhold Zellner die Gewissenhaftigkeit und die Liebe zum Produkt an. Doch das Ergebnis ist hm, sehr vernünftig. Die optischen Vorbilder von „Asterix“ bis „Boule & Bill“ schimmern jederzeit auf, die Personenkonstellationen verschrecken weder Leser noch Investor, und der erklärende Textteil sorgt für allgemeines und vor allem erwachsenes Wohlwollen. Bis zu 500.000 Hefte druckte die Allianz, genug, dass sich „Max & Luzie“ offenbar ganzen Generationen ähnlich ins Kindheitsgedächtnis brannten wie das von den Sparkassen spendierte „Knax“. Was in beiden Fällen nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Serien weder mit religiösem Eifer gesammelt wurden noch am Kiosk jemals konkurrenzfähig gewesen wären. Heißt: Nostalgische Erinnerungen machen den Lesespaß vermutlich größer und nicht zuletzt auch wahrscheinlicher.
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Cousine mit Biss

Grusel-Comedy auf dem Level von „Tanz der Vampire“ ist schwer und selten. Daran ändert auch „Vampircousinen“ von Alexandre Fontaine Rousseau und Zeichnerin Cathon nichts. Die geschwätzige Camillia wird von ihrer Cousine Friederike ins Schloss ihrer Jugend eingeladen. Untern im Dorf reden alle finster über das Schloss, im Supermarkt gibt’s nur Knoblauch, aber Camillia glaubt nicht an Vampire – obwohl doch gerade eben jene Friederike (und da kommen Sie nie in diesem und auch nicht im nächsten Leben drauf) selber ein Vampir ist! Ausgerechnet Friedrike! Potzblitz! Und weil man sich den Rest exakt genauso wenig denken kann, erwartet Sie jetzt also ein Füllhorn an Überraschungen oder ein müdes Schmunzelchhrrr.
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- 22. Dez. 2024
Wie Jerusalem-Experte Vincent Lemire 4000 Jahre Stadtgeschichte in einen Comic-Band packt – und die Deutsch-Israelische Gesellschaft verärgert

Was würde sich besser für Weihnachten eignen als Jerusalem? Stimmt, Bethlehem, aber dazu gibt’s grade keinen Comic. Außerdem hat „Jerusalem“ gerade einen schönen Skandal verursacht, und Streit gehört an Weihnachten ja auch dazu, was will man also mehr?
Mild humorgewürzt
Der Band selbst ist groß, schwer, bunt, erinnert optisch ein wenig an die Comicversion von Hararis Bestsellern. Was bedeutet: Nett gezeichnet (von Christophe Gaultier), kommerziell, keinesfalls herausfordernd, was aber gerade bei Sachcomics stets eine plausible, absolut zulässige Option ist. Autor ist der Historiker Vincent Lemire, der vier Jahre lang das französische  Forschungszentrum in Jerusalem leitete, sich auf die Stadt spezialisiert und auch schon einige gut/skandalfrei verkäufliche Bücher zu diesem Thema verfasst hat.

Der Inhalt: 4000 Jahre Stadtgeschichte in zehn Kapiteln, geschildert aus der Perspektive eines langlebigen Ölbaums auf dem Ölberg – was überraschender Weise tatsächlich denkbar ist. Mild humorgewürzt arbeitet Lemire die vier Jahrtausende chronologisch auf, sehr gründlich, sehr detailliert, leicht zugänglich, unterhaltsam – trotzdem ist das Ergebnis nicht unbedingt an einem Tag runterzulesen und damit mehr was für „Über die Feiertage“. Allerdings hat diese Detailtiefe auch Tücken.
Fundgrube für Reliquien
Lemire erzählt viel, oft anhand alter Quellen, Briefe, Dokumente, und diese Anekdotenhaftigkeit hat eindeutig unterhaltsame Vorteile. Die sich inhaltlich jedoch mitunter als Nachteile entpuppen: Sehr oft übernimmt Lemire einfach die Quelleninhalte, ohne Fakten und Legende, Beobachtung und Tatsache deutlich zu unterscheiden. Und, ja: Man könnte denken, Lemire hätte vielleicht einfach dank seines Fachwissens nur Zutreffendes ausgewählt. Aber als dann im 6. Jahrhundert in Jerusalem die Reliquien wundersamer Weise wie Pilze aus dem Boden kommen, sagt er nichts dazu.

Sicher: Der Unsinn des Ganzen lässt sich für jeden Erwachsenen und die meisten Kinder erschließen, aber Lemires Hilfe dazu ist so spärlich, dass bei den folgenden Schilderungen oft nicht sicher ist, ob das jeweilige Mirakel, Massaker oder Memoir zutreffend, erträumt oder übertrieben ist. Zumal gerade im 19. Jahrhundert praktisch jeder, der einen Stift halten konnte, seinen Senf zu der Stadt und ihrem Zustand gegeben zu haben scheint (Melville, Curzon, Chateaubriand, Gogol, Flaubert, Hinz, Kunz). Da habe ich Orientierungshilfen vom Fachmann öfter mal vermisst.
Das irre „Wer war zuerst da?“-Spiel
Trotzdem bleibt einiges hängen: Etwa die Irrsinnigkeit, in diesem jahrtausendealten Brennpunkt ein „Wer war zuerst da?“-Spiel anzufangen. Oder die Erkenntnis, dass es dieser Stadt (und diesem Land) gut tut, wenn jeder sein Ding macht – und schadet, wenn einer oder mehrere die anderen bekämpfen oder gar umbringen. Schon angesichts dessen ist die kürzliche Skandalisierung extrem unangebracht.

Der Comic hätte nämlich Anfang Dezember in Berlin vorgestellt werden sollen. Begleitet von Volker Beck, dem Chef der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Der ließ allerdings dann die Veranstaltung platzen, weil Lemire was angeblich Schlimmes gesagt hat: Dass man nämlich den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Israels Ministerpräsidenten ausführen sollte, wenn Benjamin Netanjahu mal nach Frankreich käme. Eine Meinung, der man sich anschließen kann oder nicht, die jedoch eines mit Sicherheit nicht ist: schlimm. Fürchtet Euch also nicht, jedenfalls weder vor Comic oder Autor, sondern allenfalls davor, dass man nach dieser Lektüre noch die eine oder andere zusätzlich brauchen kann. Ich empfehle ergänzend die nachgerade hinterlustige Comic-Satire „Tunnel“ von Rutu Modan!
Frohes Fest!
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