Comeback für Robert Deutschs „Turing“ und Robert Crumbs „Mr. Natural“. Doch beide Bände haben ihre Tücken – ein Beipackzettel

Alan Turing kennen Sie, oder? Vom Hollywood-Blockbuster mit Benedict Cumberbatch? Der britische Mathematiker, der im Zweiten Weltkrieg die legendäre deutsche Chiffriermaschine „Enigma“ geknackt hat? Der zu einer Zeit schwul war, in der man es nicht sein durfte? Der sich dann dieser grauenhaften Hormontherapie unterzog? Großes Dramamaterial, aus dem Robert Deutsch 2017 eine sehenswerte Graphic Novel machte.
Drama für Genuss-Seher
Wunderschöne Farbkombinationen, ganzseitige Splashes, da will das Auge drin gewälzt sein wie ein Schnitzel in der Panade. Deutsch kommt auf diesen Seiten immer wieder ganz nahe an Brecht Evens ran, da ist es kein Wunder, dass die (sehr oft erfreulich gut orientierte) Berthold Leibinger Stiftung ihn förderte. Zwei Designpreise hat er auch noch abgeräumt, völlig zu Recht.
Aber.

Deutsch ist kein Erzähler. Oder will keiner sein: Dass Turings Homosexualität mehr im Focus steht, ist okay – aber die Story, die auch mit dieser Betonung mindestens voller Ängste, Heimlichkeiten, Lüste sein könnte, ist oft so langsam, fast dröge, dass man sich angesichts der wunderbaren Bilder die Augen reibt und zurückblättert, ob man nicht irgendwo was übersehen hat. Hat man leider nicht.
Andererseits: Wer den Film unnötig unterhaltsam fand, empfindet den Comic womöglich als erfrischend todernst.
Robert Deutsch, Turing, avant-verlag, 30 Euro
Anti-Gags vom Rauschebart

Bei Robert Crumb gibt’s immer wieder Missverständnisse. Die gehen so: Crumb – „Fritz The Cat“ – haha, alles klar. Aber: eben nicht! Gerade auch bei „Mr. Natural“. Der Guru in Toga und Rauschebart ist eine Parodie, die aber erstaunlich wenig Wert auf ausgearbeitete Pointen legt. Manches aus dieser ausgesprochen erfreulichen Sammlung stammt aus Crumbs Sketchbooks, anderes wurde in den 60er/70er Jahren in Underground-Magazinen veröffentlicht. Skeptiker und Misanthrop Crumb parodiert hier folgerichtig nicht nur Gurus, Sekten und den Traum vom weisen Welterklärer, sondern genauso den Comicmarkt selbst.
So trifft Mr. Natural etwa von Beginn an auf seinen alten Gegenspieler/Schüler/Kunden Flakey Foont. Crumb führt ihn genauso brachial ein wie eine neue Figur in einer Soap, indem Mr. Natural laut denkt: „Jede Wette, dass er mir wieder einen seiner ollen Streiche spielen will!“ Wer denkt, er hätte was verpasst: Diese Streiche gab's nie , und es werden auch keine stattfinden.

Ebenso auffallend: Alle Abenteuer von Mr. Natural, seien sie eine halbe, ganze oder mehrere Seiten lang, beginnen halbwegs seriös, wie eine Episode mit Donald Duck, wirken aber bald improvisiert. Sie halten sich mit Nebensächlichkeiten auf, wechseln unvermittelt die Erzählrichtung und hören gerne mal einfach auf. Und zwar so abrupt, dass man als Hauptgrund vermuten muss, dass die verabredete Seitenzahl vollgezeichnet war. Das Ende sieht gerne so aus: Mr. Natural schläft ein oder geht weg, Crumb serviert dazu einen absichtlich lieblosen Schlusssatz, das war’s.
Nostalgie mit Leck-mich-am-Arsch-Qualität
All das macht „Mr. Natural“ zu einem merkwürdigen Genuss in einer eigenwillig-herzhaften Leck-mich-am Arsch-Qualität, der zugleich immer wieder in reizvollem Kontrast zu den liebevoll nostalgischen Zeichnungen steht. Wer allerdings seine Cartoons gerne mundgerecht zubereitet genießt, wird mit Enttäuschungen rechnen müssen. Ein, zwei Mitschüler von mir hätten anno Tobak wohl gesagt: „Reiß mir ein Bein raus, damit ich lachen kann.“
Ich schaff's aber auch zweibeinig.
Robert Crumb, Andreas Knigge (Üs.), Mr. Natural, Reprodukt, 39 Euro
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Fünf Mangas in fünf Minuten (IV): Vier Titel sind zwischen absurd und obszön, doch dann liefert ein guter Bekannter einen echten Volltreffer
Es ist tatsächlich viel Unsinn im Umlauf in Mangaland - was auch eine Chance ist: Was ich für blöd-absurd halte, können andere schon wieder witzig-absurd finden. Aber in einem Fall dürfte sich die Empfehlung für alle lohnen...

Zombie-Katzen
Wer glaubt, er habe schon alles gesehen: Jetzt kommen Katzen als Zombies. Wer in „Night Of The Living Cat“ gebissen wird, verwandelt sich in eine Katze. Das Resultat soll „süßen Katzenhorror“ ergeben, mit, logisch, Humor. Der darin besteht, dass ausgerechnet der Katzenfreund Kunagi die Monstermiezen bekämpfen muss. Indem er sie tötet? Nein, Humor hier ist nicht schwarz, sondern tantig: Kunagi bespritzt sie mit Wasser. Maunz.
Dann wird lang und breit erklärt, warum Katzen kein Wasser mögen. Weshalb sich die Parodie plötzlich liest, als hätte sie einen „Was ist was“-Band gefrühstückt. Und Kunagi, der Katzenfreund, jammert unablässig, wie schwer ihm das fällt. Weil er Katzen ja eigentlich mag. Er ist nämlich ein Katzenfreund. Sie verstehen, ja? Ausgerechnet! Er! Mag Katzen trocken! Macht Katzen nass! Heul! Oder auch: zum Katzen.
Rettung aus der Luft

Also, diesen Namen muss man sich wirklich merken: Naoki Urasawa. Bereits die schön mysteriösen „20th Century Boys“ waren sehr lesbar. Jetzt habe ich seinen ersten Band „Asadora“ durch und bin schon wieder angetan: Erneut schlägt Urasawa einen Zeitbogen von einer nicht klar erkennbaren Katastrophe 2020 ins Jahr 1959. Dort überrascht das Mädchen Asadora während eines Taifuns einen Einbrecher. Beide fliehen vor dem Sturm in einen Container. Als sie den wieder verlassen, ist das ganze Stadtviertel weg: Überflutet von Wasser und Tausenden schwerer Baumstämme.
So arbeitet Urasawa offenbar gern: Er bietet sehr kleine, stille Szenen (Dialog Asadora/Dieb) und langt dann richtig fett hin. Die (historische) Flutkatastrophe breitet er in beeindruckenden Totalen aus. Und anschließend lässt er das unwahrscheinliche Team aus Mädchen und Dieb eine spontane Hilfsaktion per Flugzeug organisieren. Was das mit der Katastrophe 2020 zu tun hat? Keine Ahnung, aber am Ende des Bandes hänge ich schon so an der pfiffigen Asa, dass ich sogar auf die Katastrophe verzichten könnte.
Naoki Urasawa, Miyuki Tsuji (Üs.), Asadora!, Carlsen Manga, 12 Euro
Bubenstück

Das ist für Manga-Anfänger leichter zu lesen: normale Leserichtung. Warum? Offenbar weil „BJ Alex“ aus Korea kommt. Damit enden aber schon die Vorteile. Es geht um Boys Love, also Männersex, Jungmännersex, alles inklusive (ja, auch herumspritzendes Sperma), nur die Penisse werden unscharf ausgeblendet (Ältere kennen das vom Grauen Star, Jüngere wissen jetzt, was sie später erwartet). Die Zeichnungen sind benutzerfreundlich realistisch, die Geschichte ist so hölzern, dass man schreien möchte, aber nicht vor Lust: Junge onaniert vorm Livestream eines fremden Jungen, dann treffen sie sich zufällig an der Schule, finden zueinander, blablabla. Die Schlüsselstellen „Unsicherheit“, „Annäherung“, die manche Mangas so clever ausreizen, kriegt die Leserschaft hier geradezu einlaufartig eingetrichtert. Bzw. so lieblos-funktional verabreicht wie die Soundwords „VERBEUG“, „ALLEINGELASSEN“ und „HARMONIE“.
Mingwa, Miriam Holz (Üs.), BJ Alex, altraverse, 16 Euro
Vokabeln abfragen

Also, aufgepasst: Wir sind in einer Welt, in der große und kleine Lateinvokabeln herumlaufen. Alle staunen über die Lateinvokabeln und sind ganz begeistert, und alle lernen alle Lateinvokabeln auswendig. Dazwischen finden Lateinvokabel-Wettkämpfe statt. Es gibt außerdem einen uralten Weisen, der noch ganze andere Lateinvokabeln kennt. Und er weiß von früher, wo die Leute noch Etruskisch geredet haben. OMFG! Eines Tages kommt Doofi in die Stadt, der viele Lateinvokabeln noch nicht kennt. Eieiei, das kann ja was werden! So, jetzt tauschen Sie „Lateinvokabeln“ gegen Pokémon, dann wissen Sie alles über „Pokemon - Schwert und Schild“. Na, Lust gekriegt?
Niedlichbub und Süßygirl

Das hier ist Fließbandware in Industriequalität: „Miraculous“ ist eine französische TV-Serie aus dem großen Disney-Fresskorb, Giganto-Franchise inzwischen längst inklusive. Zielgruppenorientiert. Letztlich geht es um zwei Teenies (Niedlichbub/Süßygirl) aus derselben Schulklasse, die nicht wissen, dass sie beide nebenher auch die Superhelden Cat Noir bzw. Ladybug sind. Und jetzt: Niedlichbub liebt Ladybug, aber nicht Süßygirl, Süßygirl liebt Niedlichbub, aber nicht Cat Noir. Irrungen, Wirrungen. Das Ganze radikal jugendfrei, das walte Disney, und die südkoreanische Animation füllt die Spaßromantiksuppe praktisch noch sendewarm in den Manga ab. Ist das gut? Schlecht? Prinzip Zuckerkette: Ab einem gewissen Alter nur noch im Freibad genießbar.
Zag, Dorothea Klapper (Üs.) Miraculous – Abenteuer von Ladybug und Cat Noir, panini manga, 7,99 Euro
... wird natürlich fortgesetzt
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Mann? Frau? Trans? Die Comics „In der Haut eines Mannes“ und „Dragman“ greifen das Thema attraktiv und unterhaltsam auf. Trotzdem bleiben Wünsche offen

Diese Mann-Frau-Trans-Angelegenheit schwappt gerade in die Comics, und ich kann das nicht schlecht finden. Leider werde ich mit den Resultaten nicht so ganz warm. Liegt's an mir? Möglich, ist aber nicht schlimm, weil diese beiden Titel es ihrer Leserschaft leicht machen, sie zu mögen. Kann also gut sein, dass meine Mäkelei hier auf taube Augen stößt, und das ist ja dann auch wieder okay.
Wohlgefühl in fremder Haut
Geschichte Nummer Eins ist ein Märchen. Es spielt in einer mittelalterlichen Stadt, in Italien. Die hübsche, junge Bianca soll verheiratet werden, mit Giovanni, den sie nie zuvor gesehen hat. Ihre Patin nimmt die künftige Braut unter ihre Fittiche und verrät ihr ein Geheimnis: Die Familie besitzt eine Mannshaut namens "Lorenzo", die man sich überstreifen kann und mit der man zum Mann wird. So getarnt könnte Bianca ihrem künftigen Gemahl auf den Zahn fühlen.

Bianca tarnt sich also als Lorenzo, trifft ihren Mann im Gasthaus und ist zunächst geschockt, wie Männer so untereinander sind. Dann allerdings freundet sie sich mit Giovanni an, der Lorenzo erst bekumpelt und dann in eine Schwulenkneipe schleppt, weil: Giovanni steht mehr auf Jungs als auf Mädels. Die beiden beginnen prompt eine sehr befriedigende Beziehung, die, wie Bianca nach der Ehe feststellen muss, für Bianca weit weniger befriedigend ist als für Lorenzo. Klingt drollig, oder?
Hübsche Optik, reizvolle Ausgangslage
Sieht auch drollig aus: Zeichner Zanzim (hinter dem sich Frédéric Leutelier verbirgt) hat eine hübsche Stadt zwischen Siena und San Gimignano entworfen, seine Figuren lehnt er stark an die von Christophe Blain an, seinen Bildaufbau stibitzt er sich aus dem Mittelalter und bei Cyril Pedrosas Goldenem Zeitalter zusammen, aber das Ergebnis wirkt trotzdem sehr ansehnlich und unterhaltsam. Genau beim Unterhaltsamen aber beginnt mein Problem .
Denn die Geschichte ist ziemlich bierernst, und je länger sie dauert, desto steifer wird sie.
Der Ortsmönch, der gegen die Fleischeslust hetzt, ist verklemmt und notgeil. Die Bösen sind böse, die Guten gut. Jede Debatte darüber, was Männer dürfen und Frauen nicht, wird wortwörtlich so geführt, mehrfach und zwar mit der Schlagfertigkeit und Spritzigkeit eines Holzhammers. Hinterher wird durch den tollen Lorenzo alles repariert, aber halt arg schlicht: Die Bösen werden bestraft, die Guten gerettet, Ende, aus, Applaus.
Genau wie im Märchen? Ja, stimmt schon. Aber trotzdem kommen mir die Zutaten besser vor als das Ergebnis.
Hubert/Zanzim, Ulrich Pröfrock (Üs.), In der Haut eines Mannes, Reprodukt, 29 Euro
Der erste echte Transheld

Bei diesem Titel liegt die Sache etwas anders. Es geht um „Dragman“, dem sie immerhin in Erlangen im Sommer den Max-und-Moritz-Preis umgehängt haben. Und ich gebe gern zu: An „Dragman“ herum zu quengeln ist noch eine Spur schwerer.
Der Held dieser Geschichte ist August Crimp. Ein mittelalter Mann, der fliegen kann, sobald er Frauenkleider trägt. Als er bei einem Unfall ein herabfallendes Mädchen rettet, wird er berühmt als „Dragman“, der Superheld. Leider brauchen Superhelden eine Lizenz, und die gibt’s nur im Superheldenclub. Der aber ist komplett transhomoundwasweißichphob.
Das klingt zunächst mal gut und ist es ziemlich lange auch.
Cleverer Genremix
Also, erstmal die Parallele: Superhelden verstecken ihr Heldentum im Alltag genauso panisch wie viele Leute sexuelle Vorlieben. Dann: Gerade in dieser Vorliebe steckt die besondere Kraft. Die Dialoge sind flink und gewitzt, sie stammen wie die Story aus der Feder des britischen Cartoonisten Steven Appleby. Deshalb sind auch die Superhelden schön angeschrägt: Der Believer, der alles kann – aber nur, wenn er selber dran glaubt. Oder Hindsight, der Mann der nicht die Zukunft sieht, sondern die Vergangenheit.
Die weitere Story ist klar, oder? Weil: Ab hier geht es normal weiter: Dragman muss die Welt retten und dabei seine Rolle finden im Umgang mit sich, der Welt, seinen Kräften, das übliche Superhero-Programm, aber mit unüblichen Elementen – so macht man Komödie. Ergänzt wird das durch Applebys immer wieder erstaunlich gut funktionierenden Krakelstil, was gibt es also hier zu mäkeln?
Weitergedreht oder überdreht?
Ich habe Dragman mit viel Spaß gelesen. Aber je länger ich las, desto mehr dachte ich: Wozu die Parodie? Warum stößt Dragman nicht auf ernstzunehmende Superhelden? Dadurch kriegt man einen Gegenspieler Fist, der einfach nur gemein und brutal ist – aber Dragman argumentativ komplett unterfordert. Weshalb Fist auch für die Leser mehr Witzfigur ist als Bedrohung.
Der Grund heißt vermutlich: Humoristenberuf plus Selbstironie. Appleby, 66, ist bekennender Crossdresser mit Trans-Tendenz. Das Thema beschäftigt ihn zwar so sehr, dass er dem Buch ein (eher unnötiges) Kapitel zu seinem Lebenswandel angehängt hat. Aber Appleby wagt sich nicht erst jetzt nervös ans Licht. Er gibt seit 2007 Interviews in Frauenkleidung, ohne jede Spur von Scheu und so wohltuend selbstverständlich, dass man überhaupt nicht auf die Idee kommt, seine Erscheinung für etwas anderes zu halten als: normal. Bei soviel Souveränität kann man sich selbst auch mal weniger wichtig nehmen.
Angenehmer lesbar mit weniger scharf?
Meine Befürchtung ist: „Dragman“ entschärft sich dadurch ein wenig selbst. Der Comic kommt in seinen besten Momenten viel weiter, als man es für möglich hält, doch der angenehme Ritt auf der „Guck mal, die doofen Superhelden“-Welle macht zugleich die Einsicht weniger zwingend, dass eben nicht nur dämliche Grobiane an allem schuld sind, sondern auch und vor allem die Normalen, die denen das durchgehen lassen.
Doch wer weiß: Was soll man schon von einem Kritiker halten, der meint, der eine Comic sei hübsch, aber nicht witzig genug, der andere sei sehr gut, aber sofort wieder zu witzig? Weiß der denn selber noch, was er will?
Steven Appleby, Ruth Keen (Üs.), Dragman, Schaltzeit Verlag, 29 Euro