Es geht auch ohne Superhelden-Realismus à la Neal Adams: Karen Hertfelders Boxromanze „Herzschlag“ überwältigt mit faustdicken Wirkungstreffern
Was für ein erstaunlicher kleiner Comic. Obwohl er gleich zwei Genres mischt, für die ich mich immer ein bisschen überwinden muss. Nämlich Boxcomics. Und LGBTQ. Das ist unfair, ich weiß, es gibt in beiden Genres tolle Geschichten. Aber weil Boxcomics oft einen Hang zur depressiven Abstiegsstory haben, weil bei LGBTQ leicht auch mal jede Menge Toleranzpädagogik mitgeliefert wird, denke ich schnell sowas wie: „Doppelstunde Religion-Erdkunde“, weil: boxende Lesben. Aber: Schnell wäre hier vorschnell.
Zwei weibliche Schränke
Tatsächlich ist „Herzschlag“ von Karen Hertfelder ein verblüffendes Beispiel, wie man aus weniger zugänglichen Zutaten einen Top-Comic zaubern kann. Denn erschwerend kommt hinzu: Hertfelders Zeichnungen sind nicht superverkäuflich. Boxcomics etwa von Reinhard Kleist verführen auch durch kommerzielle, expressive, sehr realistische Optik. Wenn man aber bei Hertfelder reinschaut, sieht man zwei weibliche Schränke, die gerade in den actionreichen Momenten etwas klobig wirken. Zu deutsch: Kleist kommt den Erwartungen auf Anhieb entgegen, Hertfelder weniger. Hertfelder kann aber was anderes auf Anhieb: erzählen.
Die Story ist: der Boxkampf eines lesbischen Liebespaars. Das Tolle ist, dass Hertfelder erkennt, dass sowas nicht automatisch der Brüller ist. Also fädelt sie's anders ein: Es startet als normaler Boxkampf der beiden Schrankfrauen in Runde 1 und schwenkt sofort in die Rückblende. Erst in diesen Rückblenden erzählt sie, dass die beiden Boxerinnen sich a) kennen, b) mögen, c) lieben. Und dadurch wird mit jeder Rückblende der Kampf spannender, weil man mit den beiden Frauen plötzlich mehr und mehr verbindet. Wer wird gewinnen? Kisa, die ältere, verschlossenere, auch verletztlichere? Bonnie, die positivere, gutgelaunte, nahbarere? Alles richtig gemacht, weil: viel, viiiiiel bessere Geschichte.
Mut ersetzt Perfektion
Das klappt auch, weil Hertfelder beiden gute Dialoge gibt, die Eigenheiten und Verhältnis zueinander illustrieren. Und weil sie eine mutige Gestalterin ist: Sie verlässt sich nicht nur darauf, dass man mit wachsendem Interesse an beiden Figuren mehr über anatomisch Unrundes hinwegsieht, sie kommt einem auch entgegen, bläst Panels so überraschend wie entschlossen auf. Ihre Protagonistinnen bekommen immer wieder ganze Seiten. Was Kleist mit realistischer Perfektion erreicht, macht Hertfelder mit gestalterischem Mut. Man kann auch sagen: Sie setzt Wirkungstreffer
Besonders gut: Sie lässt wortlos boxen, weder Denk-noch Sprechblasen erklären das Geschehen. Dass eine Taktik etwa darin besteht, den Gegner heranzuziehen und mit den schweren Handschuhen im Nacken ermüdend nach unten zu pressen, das wird gezeigt, man kann es sich vielleicht erschließen, gesagt wird es nicht. Kluge Entscheidung.
Und eben keineswegs die einzige. Keine der beiden Frauen erzählt mir, wie schwierig ihre Sexualität ist und wie lange sie mit irgendwas gerungen hat: Warum auch, die beiden sind Auseinandersetzungen gewohnt, und als sie sich zum ersten Mal küssen, ist das so rührend wie selbstverständlich. So erhält man auf 60 Seiten statt erzieherischem Lesbensport eine explosive, sensible Actionromanze, noch dazu mit einem schönen Schlusspunkt, ausgerechnet auf dem Cover (links) : Dass man die Boxhandschuhe auch als Herz interpretieren kann, ist mir erst nach dem Lesen aufgefallen, und da wurd’s mir dann im Nachhinein gleich nochmal ganz warm ums Herz. So schööön.
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Keine deutsche Comic-Künstlerin traut sich so viel wie Olivia Vieweg. Jetzt veröffentlicht die Jenaerin mit „Fangirl Fantasy“ endlich neuen Lesestoff
Es gibt was Neues von Deutschland bedenkenlosester Comic-Künstlerin, und wenn Sie jetzt fragen, ob das eine gute Nachricht ist: Ja, eindeutig, denn es sollte viel mehr Comics geben wie die von Olivia Vieweg. Die 36-Jährige ist eine absolute Ausnahmeerscheinung, und selten wurde das so deutlich wie bei der Sonderausstellung, die man ihr auf dem Erlanger Comic-Salon gewidmet hat. Übrigens gerade weil mancher da berechtigt fragen konnte: „Was is’n an der ihrem Zeug so toll?“
Kleiner Aufwand, große Wirkung
Da geht’s schon mal los: Optisch ist das eigentlich echt nicht besonders. Vieweg zeichnet bunt, lebendig, aber im Grunde ist es das schon. Vieweg zeichnet nach Bedarf, oft gerade das Nötigste, um ihre Geschichte zu erzählen. Deshalb gibt es auch wenig bis nichts, was man sich als Original ins Zimmer hängen möchte, und nicht wenige haben hinter vorgehaltener Hand gemosert, das sei ja eigentlich keine große Bildkunst. Stimmt, aber dennoch sind es große Comics. Weil bei der Jenaerin die Geschichte alles ist. Dabei bringt sie auch noch das Kunststück fertig, sehr deutsch und undeutsch zugleich zu sein.
Deutsch sind ihre Locations und ihre Vorliebe für die Provinz. Vieweg verstreut ihre Geschichten wie die ARD ihre Krimis, sie spielen an der Nordsee, in einer Kleinstadt, in der deutschen Zukunft oder in Halle an der Saale. Undeutscher sind da schon ihre Themen: Vieweg hat eine Version von Mark Twains Huckleberry Finn gebastelt, eine Liebesgeschichte zwischen einem sehr jungen Mädchen und einem Kutterkapitän, eine Zombie-Apokalypse und einen Rachethriller. Noch undeutscher ist ihr Zeichenstil: zu schlicht, naiv, unvollkommen für ein Land, in dem die Leser bei fehlendem Fotorealismus besonders schnell vermuten, die Künstlerin könne gar nicht zeichnen. Doch am undeutschesten ist Viewegs Entschlossenheit zur unterhaltsamen Geschichte.
Hollywood-Härte in der Provinz
Ihre meist leise beginnenden Erzählungen verführen mit sympathischen Charakteren und stets sehr unterhaltsamen Dialogen. Aber dann dreht sie auf und die Geschichte nimmt meist eine Wendung, die so brachial ist, dass einem der Mund offen bleibt. Weil in deutschen Romanen oder gerade auch im Fernsehen kaum einer so hinlangt wie sie; weil man findet, dass solche Wendungen nur was für Hollywood sind, also fürs richtige, weltweite, große Kino. Man kann sagen: Die Wandlung von Glenn Close in der „Verhängnisvollen Affäre“, DAS wäre ein typischer Vieweg-Twist.
„Antoinette kehrt zurück“ etwa: Eine Top-Werbemanagerin aus L.A., die sich einen Filmstar geangelt hat, besucht wieder ihre deutsche Heimat, wo die Erinnerungen an ihre zermobbte Jugend sie überwältigen. Und dann macht Antoinette – nein, das darf man nicht verraten. Oder: Heidi ist zwölf, und jedesmal steht sie am Kai, wenn der Fischkutter „Seewolf“ in den Hafen einläuft. Die Crew lädt sie ein bisschen spöttisch zum Essen in die Kombüse, wo aus Heidi plötzlich die technischen Details des Kutters purzeln: Motorleistung, Fangquote, Baujahr, alles. Weshalb Heidi von der Crew einen Gutschein für eine Fahrt ins Blaue bekommt. Doch die Fahrt wird nicht stattfinden, denn – nein, das kann ich jetzt nicht schreiben. Und wie in die thüringische Zombie-Einöde plötzlich die Giraffen reinkommen, natürlich auch nicht.
Star Trek, Cartoons und Katzenkram
Woher dieser Mut? Vermutlich daher, dass Vieweg nicht wartet, bis ihr jemand Fördermittel oder Werbeaufträge gibt. Vieweg macht Cartoonbücher mit dicken Katzen, sie verkauft Katzen-Kalender, sie macht Bücher über „Star Trek“, illustriert ärztliche Ratgeber, Mainstreamthemen lösen bei ihr überhaupt keine Berührungsängste aus. Ich meine: Welche namhafte deutsche Comic-Autorin würde sonst für die YouTuberinnen VictoriaSarina die ziemlich schaurig klingende „Rosenhof“-Reihe illustrieren? Die Hörbuchfassungen erstellen? Und wenn Olivia Vieweg das macht: Wie schlimm kann es dann noch sein? Zumal sie selbst 2014 mit „Bin ich blöd, oder was?“ einen pfiffig durchillustrierten und ausgesprochen unterhaltsamen Mädchenroman rausgehauen hat, genregerecht als Schneiderbuch, trashy gestylt, aber tatsächlich garnicht trashy, sondern voll smashy, sowas von!
Das einzige, was Olivia Vieweg nicht sooo gut kann, sind Cartoons. Autobiografisch hingeschmunzelte Bände wie „Zu Erlangen musst du ein Buch machen“ oder „Hingeschlunzt“ überzeugen nicht, weil sie sich nur lesen wie das Gespräch mit einer guten Freundin am Telefon. Also eher was für kostenlos bei Youtube oder aufm persönlichen Tageblog oder so. Humor auf ein Kracherpanel runterdestillieren gelingt ihr eher nicht, sobald sie mehr Platz hat (wie in ihren Tagesspiegel-Strips „Augenfutter“), liest sich’s sofort viel launig-lockerer. Bislang, kann aber alles noch kommen. 36 ist ja kein Alter. Und jetzt: „Fangirl Fantasy“.
Auf die Kundschaft zugeschnitten
Das ist Viewegs neuester Streich, vielleicht sogar ihr bislang persönlichster: Drei Fangirls entführen einen Filmstar, der sich von seinen Kommerzfilmen ins ernste Fach verabschieden will. Sie wollen, dass er für sie ihre Fanfiction-Fantasien nachspielt. Klingt etwas nach „Misery“ und funktioniert leider nur so mittelgut, unter anderem auch, weil den Entführerinnen Annies brutale Entschlossenheit fehlt. Was man Vieweg nur halb verübeln kann, weil sie selbst bekennendes Fangirl ist. Der Schluss liegt nahe, dass sie sich da ein wenig im Weg stand – aber vielleicht ist’s auch genau anders herum: Eben weil Vieweg weiß, wie man einen Markt professionell bedient, liefert sie ein versöhnliches Drama, das sie genau auf sich – und damit ihre Kundschaft zugeschnitten hat. Zu der gehöre ich diesmal nicht, aber nächstes Mal bestimmt wieder!
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