Frech, vorlaut, bedroht von Politik und Religion: Ersin Karabuluts Autobiografie ist ein erfrischender Zugang zur streitbaren Comic-Szene in Erdogans Reich

Was wissen Sie über das Comic-Land Türkei? Geht mir genauso. Das einzige, was ich wusste, ist, dass „die da unten“ öfter mal so knallige Witzblätter am Kiosk haben, aber wie witzig kann das schon sein? Und dann ist ja alles auch noch auf türkisch! Jetzt gewährt Ersin Karabuluts autobiografisches „Tagebuch der Unruhe“ einen unterhaltsamen, informativen und extrem zugänglichen Einblick. Marjane Satrapis „Persepolis“ ist als Vergleich nicht zu hoch gegriffen, und das nicht nur wegen der Kinderperspektive.
Blick in die Verwurstfabrik
Vor allem überzeugt, auf wie vielen Ebenen Karabuluts Erzählung funktioniert. Er wächst in Istanbul auf, liebt Comics. Weil sein Vater Grafiker ist, geht Klein-Ersin davon aus, dass wohl alle Eltern Zeichner wären – da kämen dann ja wohl auch all diese Comics her. Tatsächlich ist die Comic-Szene gar nicht so groß, und viele Serien werden auch einfach nur abgepaust und billig nachgedruckt oder (darin Deutschland nicht unähnlich) für neue Heftformate verwurstet und verhackstückt.

Parallel schildert Karabulut die ganz normale Türkei in den 80ern. Seine Eltern sind kemalistisch, liberal und westlich orientiert, aber das gilt bereits damals längst nicht mehr für alle Türken. Wenn Ersin für seinen Vater Bier holt, muss er wegen der Nachbarn darauf achten, dass es keiner merkt: die Flaschen dürfen nicht verräterisch klirren. Seltsamerweise existiert allerdings gleichzeitig eine extrem streitlustige Satireszene.
Charlie Hebdo auf türkisch
Schon in der Schule liest Ersin eine Vielzahl von satirischen Cartoon- und Comicmagazinen, viele davon sind entschieden politisch und meinungsfreudig, extrem boshaft, vergleichbar etwa Charlie Hebdo in Frankreich. Diese Hefte sind frech, direkt, voller fieser Politikerkarikaturen. Ihre Redaktionen sitzen im Istanbuler Beyoglu-Viertel, das Ersin so erstmals kennenlernt, als er sich zaghaft bei ihnen anwanzt: Ein Stadtteil voller ungewohnt junger, lässiger Menschen, die ihr Selbstbewusstsein nicht daraus ziehen, dass sie wissen wie man den Koran befolgt, sondern daraus, dass sie sich in der modernen Welt behaupten und durchsetzen – eben auch als Comic-Künstler oder Cartoonist.

Ersin beschließt fasziniert, einer von ihnen zu werden und schafft es schließlich mit einer Serie über sein alltägliches Leben. Seiner Autobiografie sieht man diese innig geliebte Arbeit an: Bei Bedarf (und den hat er oft) zeichnet Karabulut Mitschüler oder Mitbürger derart entlarvend, hasserfüllt, engstirnig, begriffsstutzig, dass man spontan an Manfred Deix‘ Österreicher denkt oder Jean-Marc Reisers Franzosen.
Erdogans Weg zur Macht
Nebenbei erfährt man etwas über die türkische politische Entwicklung, die blutigen Kämpfe zwischen Kommunisten und Nationalisten, und wie sich aus alldem ein Politiker namens Recep Tayyip Erdogan herausschält. Ein Mann, der Cartoonisten vor Gericht zerrt, wenn sie ihn als Katze zeichnen, und der aus Religiosität und Nationalismus eine Droge rührt, deren Junkies Demokratie bestenfalls als notwendiges Übel zur Machtergreifung betrachten.

Es liegt in der Natur der Erzählung, dass sich die bedrückenden Elemente der türkischen Realität umso weniger mit Humor abfedern lassen, je näher sie der Gegenwart kommen. Wenn Karabulut plötzlich Besuch von bärtigen Herren bekommt, die ihn wissen lassen, dass sie seine Adresse kennen und die seiner Familie, ist kein Spielraum mehr für Späße. Und man ahnt, warum er heute vor allem in Los Angeles lebt.
Zwischen geistigem Auf- und Abbruch
Dennoch liest sich seine Geschichte eingängig und facettenreich: Gerade seine Comic-Liebe ermöglicht immer wieder skurril-rührende Momente, während das gesellschaftliche Schwanken des Landes zwischen geistiger Aufbruch- und Abbruchstimmung einen in den Wahnsinn treiben kann. Und immer wieder staunt man, wovon Erdogans Traum von der stumpf-religiösen Türkentümelei auch heute noch in erster Linie gebremst wird: Von Kemal Atatürk, einem gutaussehenden Charismatiker, der vor rund 100 Jahren die gesamte Nation hinter sich her in die Moderne schleifte. Rücksichtslos, aber mit Smoking, Zigarette und Schnapsglas.
Ersin Karabulut, Christoph Haas (Üs.), Das Tagebuch der Unruhe, Carlsen Comics, 25 Euro
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Leben undercover
Bitter, aber nicht bitter genug – und das ist gleich ein drittes Mal bitter: Eigentlich ist „I’m still alive“ von Roberto Saviano ein glaubhaft autobiografisches Porträt des italienischen Autors, der seit 15 Jahren von der Mafia bedroht wird. Er führt ein Leben unter Personenschutz, reist undercover, wohnt in Hotelzimmern oder Polizeistationen, nicht unähnlich wie der Autorenkollege Salman Rushdie. Das Leben ist ermüdend, entnervend, aber auch sehr wenig abwechslungsreich. Und das ist auch im Comic spürbar: Was auf den ersten 30 Seiten noch empört, fängt rasch an sich zu wiederholen. Weshalb man beginnt, diese Langeweile ausgerechnet Saviano vorzuwerfen, dem sie ja von der Mafia aufgezwungen wurde. Oft hilft hier Zeichner Asaf Hanuka, der immer wieder ungewöhnliche Bilder für Savianos unfreiwillige Routine findet. Aber alles kann auch er nicht aufpeppen.
Perspektivwechsel

Uli Oesterles „Vatermilch“ war 2020 ein richtiger Volltreffer: der schaurig-schöne Absturz des Markisenvertreters und Vorstadtcasanovas Rufus Himmelstoss im München der 70er Jahre. Als vierbändige Serie ist die Geschichte angelegt, recht ehrgeizig, weil der obdachlose Antiheld eigentlich kaum noch tiefer sinken kann als am Ende von Teil 1. Doch Oesterle kann sich's nicht ganz frei aussuchen, weil die Handlung von der Geschichte seines Vaters inspiriert ist. Die Perspektive hätte man deswegen allerdings nicht ändern müssen: Himmelstoss ist jetzt Ich-Erzähler, der meist wortreich schildert, was die Leser eigentlich erleben sollten. Zudem muss Himmelstoss hinter Oesterles Vater her nun auf den dramatisch unattraktiveren Weg der Läuterung einbiegen, den er lang und breit mit Pennerkollegen diskutiert. Weshalb man statt der Kälte der Straße (Band 1) oft eher die Lauwärme eines Priesterseminars spürt. Für Münchner bleibt der Band allerdings Pflicht: Denn optisch ist Oesterle nach wie vor eine Klasse für sich, und was er aus Vierteln, Straßen, Brücken und Gebäuden der Stadt herausholt, ist Zeitreise und Stadtporträt in einem.
Uli Oesterle, Vatermilch 2: Unter der Oberfläche, Carlsen, 25 Euro
Arme Kühe

Man hätte mehr Brisanz erwartet: In einer Zeit, in der Ukrainer oder Palästinenser auf der Flucht vor der Fackel des Krieges ihre Heimat verlassen müssen, könnte ein Comic wie „Kannas“ Verständnis wecken, warnen, mahnen, wasweiß ich. Denn „Kannas“ widmet sich der Flucht der Karelier 1944 vor der Roten Armee. Und der bereits 2016 erschienene Band dürfte seinen Import nach Deutschland sieben Jahre später natürlich auch der Entwicklung in der Ukraine verdanken. Aber letztlich verheddert sich hier Vieles: So erliegt das Projekt oft der faszinierenden Authentizität zeitgenössischer Fotografien, die großzügig eingebunden werden. Es richtet viel Augenmerk (wegen der vorhandenen Bilder?) auf die Kühe. Und es ignoriert komplett den geschichtlichen Hintergrund, der durchaus ambivalent ist: Ja, erst überfiel die Sowjetunion 1939 Finnland, aber mit Hitlers Überfall auf die Russen ergriffen die Finnen die Chance zur Revanche eben an der unseligen Seite der Nazis. „Kannas“ bleibt im Ungefähren und wird zu einem Mix aus „Harte Zeiten“ und „Ach, die armen Kühe“, eine Art „Ein Kessel Unschönes“. Was bei allem Leid und Elend eben nur halbbetroffen und eher ratlos zurücklässt.
Hanneriina Moisseinen, Stefan Moster (Üs.), Kannas, avant-verlag, 28 Euro
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Die Outtakes (6): Hörnerhelme, bodenlose Löcher und das eigenwillige Frühwerk einer Comic-Legende

Hägar, der nicht ganz so Schreckliche
Geschichten von Wilfried Lupano sind immer einen Blick wert. Die Hägar-Alternative „Wikinger im Nebel“ hat jedoch ihre Tücken. Aus unerfindlichen Gründen hat sich Lupano entschlossen, die Geschichte in halbseitigen Einzelstrips zu erzählen, vergleichbar den Sonntagsstrips in Zeitungen. Diese Form schadet hier mehr als sie nutzt: Einzelstrips brauchen extrem starke Gags, weil ihre Pointe geradezu fahrplanmäßig im vor-/letzten Panel erwartbar ist. Lupanos Gags funktionieren aber meistens, weil er sie überraschend im Vorübergehen fallen lässt. Ergebnis: Ich sage zuverlässig zweimal pro Seite „Naja.“
Vielleicht habe ich aber auch nur einen blöden Humor. Wem Hägar nicht genügt, der möge also vielleicht hier mal reinsehen.
Grusel mit Shutter-Island-Dressing

Gute Gruselstories sind was Feines. Jeff Lemire (der einen schon bei „Black Hammer“ angenehm lang im Ungewissen ließ) als Autor: verheißungsvoll. Und „Die Passage“ geht exzellent los: Ein Geologe kommt auf eine Leuchtturminsel, weil's dort auf einmal ein unabsehbar tiefes Loch gibt. Die Insel ist abgeschnitten von der Außenwelt, windumtost, die Wärterin verschroben, der Fährmann ein Arsch: Doch das „Shutter Island“-Dressing von Lemire und Zeichner Andrea Sorrentino überzeugt nur bis zur Hälfte. Dann wird's wirr. Das Problem ist nicht der Mix aus Illusion und Realität, sondern dass dem Leser kaum noch klar ist, was unser Geologe eigentlich grade durchmacht. Und ohne Angst um den Hauptdarsteller wird der Grusel zu oft zum „Hä?“
Die Quasselbande

Ich komme mehr und mehr zu dem Schluss, dass Hugo Pratt gerade zu Anfang seiner Karriere weit weniger gut schrieb als zeichnete. Schon „Corto Maltese“ fällt mir immer wieder als abenteuerlose Abenteuerserie ermüdend auf. Jetzt erscheint „Fort Wheeling“ neu, entstanden Anfang der 60er Jahre, und wieder quatschen sich die Helden den Mund fusselig und sagen am besten auch gleich nochmal dasselbe, was im Textkasten drübersteht, da wird der Leder- zum Laberstrumpf. Wenn man Glück hat, ist's wenigstens unfreiwillig komisch wie in der Antwort auf die Frage: „Waren es Indianer, die deine Eltern getötet haben?“ - „Ich glaube, ja. Die Indianer waren immer gut zu mir.“
Geschichten aus dieser Epoche hatte Pratt damals schon in „Ticonderoga“ erfolgreich erzählt, da hat ihm aber Hector Oesterheld das Szenario geschrieben, ein Unterschied wie Tag und Nacht. In „Ein indianischer Sommer“ hat Pratt dann für Milo Manara das sehr gute Skript geliefert, dafür kam „Fort Wheeling“ 20 Jahre zu früh. Doch: zum Serienstart gibt es knapp 20 Seiten mit zusätzlichen, für Pratt ungewöhnlich farbigen Zeichnungen, aus denen der Verlag verständlicherweise auch gleich das Covermotiv nahm. Das entschädigt ein bisschen für die Quasselei.
Hugo Pratt, Resel Rebiersch (Üs.), Fort Wheeling, Schreiber & Leser, 29,80 Euro