„Shunas Reise“ erscheint nach 40 Jahren erstmals auf deutsch. Der Klassiker ist so attraktiv, so verführerisch, dass man sich vor allem wundert: Wieso erst jetzt?

Das ist eine Premiere, wenn ich's recht sehe: Der erste Manga, der hier eine ganze Empfehlungsgeschichte für sich alleine bekommt. Und zu recht: Er heißt „Shunas Reise“, ist von Hayao Miyazaki und tatsächlich etwas ganz Eigenes, Besonderes – nicht nur, weil er durchgehend farbig ist. Die Geschichte selbst ist bereits knapp 40 Jahre alt, Anime- und Mangafans kennen den Autor gut: Miyazaki ist Trickfilmer und Mitbegründer des berühmten Studios Ghibli. Zum Genießen ist dieses Vorwissen aber nicht nötig.
Ein Holzschiff in der Wüste
Vom Design her erinnert die Geschichte stark an die typischen Trickfilme der späten 70er, frühen 80er, aber die Ausführung ist untypisch und wirkt sofort weniger industriell: Bleistiftzeichnung, Aquarellfarben, das schaut alles eine deutliche Spur handwerklicher, handgemachter, gemütlicher aus. Obwohl die Gegend der Handlung eher ungemütlich ist: Die Geschichte spielt offenbar in einem asiatischen Hochgebirge. Genau kann man’s nicht sagen, vieles ist rätselhaft.

Shuna, der Held und Thronfolger des namenlosen kleinen Königreichs, hat ein altmodisches Repetiergewehr, das spricht für unsere Welt in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Aber er reitet auf Lamas mit Geweih, und die gibt’s nicht. Um eine bessere Getreidesorte zu finden, zieht er nach Westen. Er kommt an eigenwilligen Statuen vorbei, einem gigantischen Holzschiff in der Wüste, an menschenfressenden Frauen, all das ist sehr real und sehr fantasyhaft zugleich. Ist „märchenhaft“ vielleicht eine passende Bezeichnung?
Zwischen Idylle und Barbarei
Ja und nein, weil Miyazaki auch von ungewöhnlicher Barbarei erzählt: Shuna begegnet merkwürdigen Gefängniskutschen, von zehn büffelartigen Tieren gezogen, die wie viele andere ähnliche Wagen Hunderte, Tausende Menschen zu einem riesigen Sklavenmarkt in einer enormen Stadt transportieren. Der einzige Grund dafür, dass Shuna nicht in den Transporten endet, ist: Er hat ein Gewehr, er ist erkennbar eine andere, wehrhafte Sorte Mensch. Das ist nicht der übliche Märchenstoff (auch wenn Miyazaki sich an ein tibetisches Volksmärchen anlehnt), es ist auch nicht der Stoff nordischer Sagen wie Beowulf und Grendel.

Genauso ungewöhnlich ist die Bildaufteilung: Die Panels sind großzügig, nichts vom häufigen, hektischen Manga-Gehäcksel. Und sie nutzen oft die Breite der Doppelseite, sie zwingen den Blick über den Bundsteg (da, wo die Seiten zusammenstoßen), sie nutzen die gesamte obere oder untere Hälfte der Doppelseite, und das auch noch außergewöhnlich attraktiv: mit transparenten und dennoch kräftigen Farben, für weite Blicke in eine verführerische Natur, mal wüstenhaft heiß und trocken, mal üppig blühend, mal polarkaltblau.
Echter Genusscomic
Zur Geschichte mag ich gar nicht viel mehr verraten: Eine Abenteuergeschichte, aber in einer ganz eigenwilligen Mischung, stellenweise geradezu kindgerecht, dann aber wieder von rücksichtsloser Härte, dabei jederzeit ungemein ansehnlich.
Was „Shunas Reise“ zu einem echten Genusscomic macht.
Hayao Miyazaki, Nora Bierich (Üs.), Shunas Reise, Reprodukt, 20 Euro
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Nacktes provoziert heute anders: Wie schlägt sich die Neuausgabe des Klassikers „Bianca“ gegen Stjepan Sejics deftige SM-Romanze „Sonnenstein“?

Wer hätte gedacht, dass Nackerte so anstrengend sein können? Vor mir liegt Guido Crepax‘ Klassiker „Bianca“, und so sehr Crepax meine Augen weidet, so sehr muss ich mich zum Weiterlesen geradezu zwingen. Weil ich keine Ahnung habe, was der ganze Unfug soll und wo er hinführt. Dabei sieht der Unfug grandios aus.
Unglaublich originell, unglaublich witzlos
Bianca ist hübsch, dunkelhaarig und praktisch dauernd nackt unterwegs. Sie taumelt durch eine Fantasiewelt, sehr ähnlich wie „Alice im Wunderland“, sehr ähnlich wie „Little Nemo“ – das heißt, in dieser Traumwunderwelt ist praktisch alles möglich. Bianca wird von einem Wal verschluckt und begegnet im Wal dem Kapitän Ahab. Der (einer der seltenen lustigen Momente) findet, sie sollte sich erstmal was anziehen, und ihr dann ein spärliches Korsett aus seinem Fundus aussucht. Von dort bringt sie ein gestiefelter Kater zu einem Dompteur mit Monokel, der sie mit der Peitsche für eine Zirkusvorführung abrichtet und so weiter und so fort, anything goes. Unglaublich ästhetische SM-Fantasien, aber das unglaublichste ist, dass sie so unglaublich originell sind und doch so unglaublich witzlos.

Das ist freilich etwas unfair, weil man die Entstehungszeit bedenken muss: Wir befinden uns am Ende der 60er, und da funktioniert die erotische Provokation noch ganz anders. Die Wirkung der Nacktheit ist neu und modern, aufgeschlossen, und dann auch noch mit Fetisch – das war mal wow, Avantgarde. Das Problem ist, dass ausgerechnet diese nackte Aufregung das entscheidende Bindeglied war, das den ganzen Laden zusammenhielt. Noch immer überrascht „Bianca“ mit einfallsreichem Seitenlayout und aberwitzigen Zeichnungen, aber ich blättere nur noch durch, weil das Interessanteste von damals heute uninteressant geworden ist.
Überholt vom Mangamaterial
Vielleicht liegt es auch daran, dass mir gerade passend dazu „Sonnenstein“ vorliegt: clever und gut gemachte moderne Kommerz-Erotik von Stjepan Sejic. Die Geschichte ist im Grunde Mangamaterial: Frau A erzählt, wie es zu ihrer (klar: obendrein lesbischen) SM-Beziehung zu Frau B kam. Anders als „Bianca“ ist „Sonnenstein“ aber weniger Angebot Nackte anzugucken als eine deutlich zeitgemäßere Einladung, sich in dieser Fantasie gemütlich umzusehen und vielleicht auch ein bisschen mitzuspielen. Kaum jemand kann das derzeit so gut wie Sejic.

Er lässt beide Frauen zögern, sich finden, als Anfängerinnen gibt er beiden eine schön identifikationsfreundliche Unsicherheit mit, aber natürlich klappt alles beim Sex dann traumhaft gut, mit kurzen heiteren Irritationen, aber dann so richtig… Sejic nutzt das große Albumformat, er layoutet einladend, schwelgerisch, und er packt auch noch ungewöhnlich viel Text dazu, weil er den Leser, der sicher auch oft eine Leserin ist, in seinen opulenten Bildern halten will. Und, ja, in seinen Texten steht eben NICHT das, was man sowieso schon im Bild sieht.

Geschickt nutzt er dabei Gefühle gleichwertig wie Gefummel: Wenn die zwei, die sich im Netz kennenlernen, das erste echte Date ausmachen, dann haben sie vor lauter erregter Angst schon drei Tage vorher Bauchweh, und das will auch auf je einer ganzen Seite schön ausgebreitet sein.
Ja, hier steckt in Sejics Eroticomikunst schon sehr viel Kundendienst. Aber so anspruchsvoll Crepax‘ „Bianca“ auch sein mag, deutlich genießbarer ist „Sonnenstein“. Und anders als bei der (auch auf meine Nachfrage nicht näher bekannten) Auswahl unseres comiclesenden Bundeskanzlers bleibt hinterher kein Gefühl des „guilty pleasure“. Sondern eines des „expertly done pleasure“.
Guido Crepax, Salvador Denario (Üs.), Bianca, avant verlag, 39 Euro
Stjepan Sejic, Sandra Kentopf (Üs.), Sonnenstein, Panini Comics, 25 Euro
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Erotik-Fantasy mit einem Schuss Humor: Was klingt wie ein ungenießbarer Mix, macht Stjepan Sejic zu einer sehenswerten Lesenswürdigkeit

Heute hab ich mal was ganz anderes im Angebot: erstaunlich gute Kommerzkacke. Soft-Erotik, wohl vorwiegend an Frauen gerichtet, optisch extrem zugänglich, mit Fantasy-Elementen, kurz – eigentlich so gar nicht meine Baustelle. Aber wie gesagt: gut gemacht. „Fineprint“ heißt der Band, getextet vom Kroaten Stjepan Sejic, gezeichnet auch. Und zwar so attraktiv, dass ich anfangs extrem skeptisch war.
Graumaus trifft Fickmichs
Ich meine: Schon im Vorsatz (fachdeutsch für die Doppelseite direkt hinterm Buchdeckel) ist eine Tante im Bikini mit hüfthohen Fickmichstiefeln und Spockohren, ein Typ im String-Tanga mit Fickmichauchstiefeln und Hörnern. Über beiden eine junge Frau mit Graumausbrille, die erst gar nicht hinsehen mag, dann aber hinsehen muss und staunt, und – hoppla! Da ist schon was Gutes: Der Gesichtsausdruck von Graumaus.

Erst ist sie erschrocken, abgestoßen und hält den Unterarm verkrampft vor die Augen. Dann lässt sie den Arm sinken, die Hand öffnet sich, ihre Augen sind groß und überrascht. Das ist gut getroffen. Und die Anatomie der Fickmichleute ist auch tadellos. Und jetzt erkenne ich: Das ist der Gegenschuss der Szene mit den zwei Fickmichs. Denn Graumaus ist im Bild unten zwischen den Fickmichs, aber mit dem Rücken zu mir, die beiden Gesichter von ihr sind ihre Reaktion, das ist clever gemacht.
Also gut, schauen wir rein!
Als erstes treffen wir Graumaus wieder. In einem Meer von pinkfarbenen Schmetterlingen. Graumaus läuft Blut aus Nase und Mund. Graumaus wird sterben. Ein dramatischer Anfang mit guter Optik: Nicht nur wegen der Pinkflut, auch der Bildschnitt ist wirklich überzeugend. Aber Graumaus ist nicht allein: Neben ihr kniet eine engelartige Frau und eine teufelartige Frau, beide streiten über irgendwas, das wir geschickterweise nicht lesen können. Dann erzählt uns Graumaus ihre ziemlich unverständliche Geschichte.
Dialoge wie bei Terry Moore
Im Himmel tobt offenbar ein Kampf zwischen den Cupids (die Leute mit Liebe infizieren) und irgendwelchen Succuben (die für die Geilheit sorgen). Die Menschen geraten irgendwie dazwischen, aber über all das kann ich hinwegsehen, weil Seijic den unverständlichen Unsinn in Dialogen ausbreitet, die allem Quatsch zum Trotz sehens- und lesenswert sind. Da passt das Gesagte, da passt jede Reaktion, die Gestik, die Mimik, als Vergleich fällt mir dazu am ehesten noch Terry Moore („Strangers in Paradise“) ein. Verstehen tu ich zwar noch immer nichts, aber ich kann mich jedesmal auf die Seite der Ahnungslosen schlagen und fühle mich trotzdem gut unterhalten.

Für eine Atempause sorgt eine (sehr verständliche) Liebesgeschichte einer jungen Dame mit Zahnspange, die Sejic geduldig und gewitzt einfädelt, und dann packt Seijic allmählich den Sex aus. Der spielt zwar wieder mal bei den verquasten Göttern, wird aber anregend und humorvoll inszeniert, was nochmal Bonuspunkte geben muss, weil Sex und Humor sich leicht gegenseitig die Wirkung nehmen können.
Tja, und da wären dann noch die Bilder.
Viel Platz, viel Farbe - beides gut genutzt
Das Schöne ist nicht nur, dass die Story statt im schwarz-weiß-kleinen Mangaformat albumgroß und bunt erscheint, sondern dass Seijic mit dem Platz und der Farbe auch was anfangen kann. Er gibt seinen Szenen Platz und Zeit, den Protagonisten seitengroße Splashes (auf denen sie auch was zu sagen haben, das man minutenlang ansehen möchte). Er arbeitet überzeugend mit Licht und Schatten, wodurch die hellen Farben auch immer wieder verführerisch glühen, strahlen, glitzern. Er wechselt Perspektiven, dass es nicht nur beim Sex eine Freude ist.
Und das ganze Wunder vollbringt er, wohlgemerkt, mit einer Story, bei der vermutlich nicht nur Fantasy-Laien häufig rätseln, ob es sich hier um komplettes Chaos handelt oder eher um groben Unfug. Und die man trotzdem eben nicht nur anschaut, sondern, noch größeres Wunder, sogar liest. Was anstrengend werden kann: Seijic ist seit über 15 Jahren im Geschäft – wem „Fineprint“ gefällt, der findet allerhand zum Weiterprobieren.
Stjepan Stejic, Sandra Kentopf (Üs.), Fineprint, Panini Comics, 29 Euro