800 Bilder in 18 Monaten: Das fieberhafte Mammutwerk „Leben? oder Theater?“ der in Auschwitz ermordeten Künstlerin Charlotte Salomon - live und online

Besser spät als nie, und es ist ja auch noch etwas hin bis 10. September: Wer in München Zeit hat oder am Hauptbahnhof noch zwei Stunden auf den Anschlusszug warten muss, dem lege ich die aktuelle Charlotte Salomon-Ausstellung ans Herz. Gerade bei Regen: Drei U2-Minuten vom Hauptbahnhof entfernt muss man nämlich nicht mal den Bahnhof „Königsplatz“ verlassen, sondern geht gleich im Zwischengeschoss in den „Kunstbau“, eine gigantische, eigenwillige, unterirdische Beton-Schuhschachtel. Dort findet sich Salomons „Leben? oder Theater?“, eine eindringliche Mischung aus realem Schicksal und sehr, sehr comicartiger Kunst aus den 40er Jahren.
Selbstmord als Familienleiden

Charlotte Salomon studiert 1936 in Berlin Kunst, bis die junge Jüdin 1939 vor den Nazis nach Südfrankreich emigriert, zu ihren geflohenen Großeltern. Im Jahr darauf passiert zweierlei: Die Oma bringt sich um, und Opa enthüllt, dass der Suizid nicht unerwartet kam, es gab zuvor andere Versuche. Zudem verrät er, dass sich Selbstmorde wie ein roter Faden durch die Familie ziehen, bereits seine beiden Töchter (also auch Charlottes Mutter) brachten sich um, dazu noch weitere Familienmitglieder. 1940 überrollt außerdem Nazideutschland Charlottes Asylland Frankreich, sie und ihr Opa werden vorübergehend interniert.
Charlotte fühlt sich doppelt bedroht: von den Nazis und vom Familienwahnsinn. Als eine Art Therapie beginnt sie zu malen. Hektisch, weil sie nicht weiß, wie lange sie in einer Naziwelt noch frei sein wird. Die Angst ist berechtigt: 1943 wird sie verraten, nach Auschwitz deportiert und dort mit ihrem ungeborenen Kind umgebracht. Doch ihr Werk hat sie bereits vollendet. In nur anderthalb Jahren entstand aus ihrer Familiengeschichte ein halbfiktives „Singespiel“, mit über 800 sehenswerten Bildtafeln als einer Art sehr detailliertem Storyboard.
„Sequential Art“ ohne Vorbild

Dabei überraschen vor allem zwei Elemente: Die fieberhafte Geschwindigkeit, in der Salomon gearbeitet haben muss, zwei, drei oder mehr Bilder am Tag fertigstellend – und zugleich die formale Sicherheit. Denn Salomon macht zwar eindeutig „Sequential Art“ im Eisnerschen Sinn, aber offenbar selbstentwickelt und auch noch ungewöhnlich variantenreich. Denn Vorbilder waren in Deutschland weder leicht erhältlich noch weit verbreitet, schon gar nicht in dieser „Graphic-Novel“-Länge. Und die junge französische Comicszene ihres Gastgeberlands fing zwar bereits mit eigenen Stoffen an, erzählte aber eher kommerziell und daher auch konventionell.
Salomons Arbeiten hingegen überwältigen mit einfallsreicher Bildaufteilung, mit kräftigen, lebendigen Farben, mit ungewöhnlichen Perspektiven und gewitzten Bildausschnitten. Und nach etwa 100 Bildern der Ausstellung wandert und mäandert auch zunehmend der Sprechtext in und durch das Bild. Das erinnert heute an die lustvolle Krakeligkeit eines Joann Sfar, wenn Salomon lange Monologe um Porträt-Variationen des Sprechenden windet, kommt Brecht Evens in den Sinn. Aber Salomon ist beiden rund 60 Jahre voraus.
Die Illusion der Sicherheit

Inhaltlich ist „Leben? oder Theater?“ eine Geschichte aus dem assimilierten deutschen Judentum. Über Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die sich akzeptiert wähnen, begeistert Weihnachten feiern, in trügerischer Sicherheit, die mit der Verfolgung durch die Nazis platzt wie eine Seifenblase. Bei Treffen diskutiert man plötzlich statt Kultur und Kunst über Auswanderungsländer. Salomon erzählt das mit fassungslosem Staunen, auch mit ungläubigem Humor.
Doch die Verfolgung ist nicht unbedingt das zentrale Element, die Familie und Beziehungsdramen von Charlottes Alter Ego sind in der Ausstellung durchaus gleichgewichtig. Wer auf der Homepage das Gesamtwerk betrachtet, findet im Verzeichnis unter dem Schlagwort „Nationalsozialismus“ sogar nur 47 von den weit über 900 Bildern und Entwürfen. Aber zu diesem Zeitpunkt war Salomon auch erst Opfer der Vertreibungs-, noch nicht der Mordmaschinerie.
Das Gesamtwerk gibt's online
Der Online-Besuch des Gesamtwerks empfiehlt sich übrigens auch deshalb, weil Salomons Gesamtgeschichte nie komplett gedruckt wurde und im Kunstbau ebenfalls nicht vollständig zu sehen ist – weshalb sich immer wieder neue, idyllische, dramatische, sarkastische Szenen entdecken lassen.

Besondere Eindringlichkeit gewinnt die Geschichte neben dem bitteren Ende Salomons in der Realität auch durch die Überlieferung: Vor ihrer Deportation vertraute sie das Mammutwerk einem Freund an, der es nach dem Krieg der Hauswirtin der Großeltern überreichte, „Leben? oder Theater?“ ist ihr gewidmet. Diese übergab die Kunstwerke Charlottes Eltern, die den Krieg in Holland überlebten, die Eltern vertrauten die Kunst 1971 dem Jüdischen Museum in Amsterdam an. Und wer keine Zeit für einen Abstecher nach München hat (oder diesen Text zu spät liest), kann das Gesamtwerk auf der dortigen Homepage exzellent aufbereitet genießen. Man kann heranzoomen, man kann die Bilder, die Salomon manchmal aus Papiernot beidseitig bemalte, wenden und über manche Seiten transparenten Text legen – was keine Spielerei ist, auch die Transparentseiten sind Teil des Salomonschen Gesamtkonzepts. Ein weiterer Grund, weshalb man die Ausstellung ordentlich durchgenudelt verlässt: überrascht, beeindruckt, bewegt.
Gesamtwerk online: charlotte.jck.nl
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Gewöhnung statt Empörung: bei andauernden Ungerechtigkeiten stumpft man irgendwann ab. Drei Graphic Novels entfachen jetzt die Wut neu – durch die Kinderperspektive
Geht es nur mir so oder wächst einem tatsächlich eine emotionale Hornhaut gegen den ganzen entsetzlichen Mist auf der Welt? Gegen den Nahostkonflikt etwa, oder gegen Donald Trump, oder die Autoindustrie? Ich frage deshalb, weil jetzt innerhalb weniger Tage gleich drei Graphic Novels bei mir durch solche Hornhäute gedrungen sind, und alle drei haben etwas gemeinsam: die Kinderperspektive.
Kanadas entsetzliches Internats-Programm

Nummer eins ist der neue Band von Joe Sacco, dem Comic-Journalisten: In „Wir gehören dem Land“ widmet er sich einer kanadischen First Nation, den Dene, die zwischen Rohstoffabbau, Industrie und eigener Tradition zerrieben werden. Sacco macht, was er immer tut: Er hört allen zu, lässt alle zu Wort kommen und verdichtet seine Recherche zu Bildern – allerdings ist ihm das diesmal ein wenig ausufernd geraten. Doch ein extrem starker Abschnitt schafft’s durch die Hornhaut: der über das kanadische Internatsprogramm. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1996 zwang Kanada die Kinder der Ureinwohner in einer Art staatlichem Kidnapping in erzchristlich geführte Internate, verbot ihnen die eigene Sprache, damit sie tadellose Musterkanadier würden. Diese Kinder verlernten ihre antrainierten Fähigkeiten für das Leben in den Waldregionen, sie waren bei ihrer Rückkehr für ihre Familien keine vollwertigen Mitglieder mehr, sondern ungeschickte, stammelnde Tölpel, und vollwertige Kanadier waren sie am Ende natürlich auch nicht. Sie erlebten Gewalt, unterdrückten sich in den Internaten gegenseitig, und ein Großteil von ihnen war anschließend nur in einer Disziplin allseits anerkannt: Alkoholismus. Wenn man das liest, geht einem das Messer in der Tasche auf.
Aus der Hölle in die neue Heimat

Band zwei kümmert sich um ein Thema, zu dem man gerade in Deutschland leicht mal abstumpft: der Holocaust, verständlicherweise hierzulande besonders oft behandelt, leider auch meist besonders vorhersehbar. Auch „Bald sind wir wieder zu Hause“ erfindet das Rad nicht neu, folgt aber geschickt der Erkenntnis, dass weniger mehr sein kann: Auf unter 100 Seiten lassen Jessica Bab Bonde und Zeichner Peter Bergting sechs jüdische Zeitzeugen erzählen, die den Holocaust als Kinder erlebten und nach dem Krieg Zuflucht in Schweden fanden.
Die Texte sind knapp, nüchtern, sie schildern einfach nur die Beobachtungen der fassungslosen, schockbetäubten Kinder. Und plötzlich bekommen alle Mechanismen, die man schon zigmal gehört hat, wieder Bedeutung: Tolek aus Lodz muss mit seiner Familie ins Ghetto ziehen, sechs Menschen in drei Zimmern – das sind extrem verschärfte Corona-Bedingungen für immer, bei gleichzeitigem Essensentzug vor dem anschließenden Abtransport nach Auschwitz. Den illustriert Bergting auch mit dem Spalt in der hölzernen Waggonwand, durch den Tolek Frischluft bekommt.
Ähnliche Vorgänge, immer neue Erzählwege
Livia lebt in Rumänien, entdeckt per Radio die Welt so wie wir heute per Internet, und wird samt ihrer Stadt 1940 Ungarn zugeschlagen, wo der Holocaust besonders spät und dafür besonders gründlich einsetzt. Feinfühlig finden Bergting/Bonde für vergleichbare Vorgänge immer wieder neue Erzählwege, Text und Bild ergänzen sich geschickt. In Livias Geschichte zeigen sie beispielsweise die Selektion nicht, nur den Bahnhof, weil: „Alles geschah so schnell, als ich mich umdrehte, waren die Männer schon weg.“ Einer der Männer war Livias Vater. Ich habe, nicht nur berufsbedingt, einiges zum Thema gelesen, und ich habe reichlich Holocaust-Hornhaut, aber mehr als zwei Kapitel am Tag habe ich nicht geschafft. Der Band wendet sich übrigens gezielt an junge Leser, es gibt ein Glossar hinten, eine Landkarte mit den Orten der Handlung – dennoch wird hier weder für Kinder entschärft noch vereinfacht.
Empörende Gleichgültigkeit

Dazu passt: Esther Shakines „Exodus“, ein knapp 50seitiger Band, der Shakines Schicksal als Geschichte der kleinen Ticka erzählt. Auch Shakine schildert extrem zurückhaltend, was die Wirkung verstärkt. Tickas Eltern etwa verstecken ihr Kind im Schrank, und als Ticka sich wieder herauswagt, sind die Eltern nicht mehr da (und werden auch nie wieder auftauchen). Die Nachbarn schauen unterdes durch den Türspion und öffnen dem klingelnden Mädchen nicht, die Wohnung wird sich schnell jemand unter den Nagel reißen. Kein Einzelfall, auch im Bergting/Bonde-Band sind immer wieder Episoden, wie Mitbürger die Verfolgung für den eigenen Vorteil nutzen, und all das macht endlich mal wieder so wütend, wie es eigentlich ständig nötig wäre.
Bevor jetzt aber die nächsten 20 Bücher auf die Kinderperspektive setzen: Man wird sich auch wieder was Neues einfallen lassen müssen. Sie wissen schon, wegen der emotionalen Hornhaut.
Esther Shakine, Exodus, Klinkhardt & Biermann/Hirmer, 15 Euro
Jessica Bab Bonde/Peter Bergting, Bald sind wir wieder zu Hause, Cross Cult, 20 Euro
Joe Sacco, Wir gehören dem Land, Edition Moderne, 25 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.