„Willkommen in Oddleigh“ erwischt mit Mysteriösem und mildem Grusel einen Traumstart bei Testerin Julia (11). Aber dann klappt nicht alles...

Es wird übersinnlich und britisch: Im Polizeirevier von Oddleigh in der englischen Provinz kriegen Kater-Polizist Sid und seine Chefin, die Ratte Jessie, von Autorin Tor Freeman vorzugsweise fantastische Fälle zugeschustert. Sie finden eine geheimnisvolle Raupensekte, müssen einen wiederauferstandenen Flugsaurier verfolgen oder eine Nacht in einem Spukhaus verbringen. Gerade diese letzte Episode gibt dem Comic eine angenehme, fast schon edgar-wallace-artig altmodische Note. Oder manchmal auch überraschenderweise nicht.
Die angebetete Dörrpflaume
Schon die zweite Episode ist eine ziemlich bissige Religionssatire: Eine Sekte von Raupen betet einen Kokon an, der eines Tages zum Schmetterling werden und „alle vernichten“ wird. Dafür verzichten die Gläubigen auf ihre eigene Metamorphose mit einer recht brachialen Methode: „Wir defibrillieren unsere Hormonsäcke“. Bei der pathetischen Anbetung stellt sich heraus: Der Kokon ist kein Kokon, sondern nur eine Dörrpflaume – weil der echte Kokon irrtümlich in eine Schüssel mit Kuchenteig fiel und mitgebacken wurde. Skurril, sag‘ ich mal. Nicht der Hammerbrüller, aber es wirft doch einige recht erwachsene Fragen auf, und da frag ich mich schon, was Julia wohl davon hält.
Zunächst: Julia mag das Episodenhafte. Bisher findet sie verschiedene kürzere Geschichten angenehmer als eine längere. Und die Sache mit der Nacht im Spukschloss ist für sie sogar die beste Episode von allen: Die Aufgaben, die die beiden bewältigen müssen – das Rätsel der Krähe lösen oder das wimmernde Wiesel trösten. Aber die Sache mit den Raupen ist ein schwerer Tiefschlag. Was wollen die überhaupt? Wieso wollen die keine Schmetterlinge sein? Was ist „defibrillieren“? Und nicht mal das mit der Dörrpflaume bringt einen Lacher. Die ganze Story lässt Julia erkennbar ratlos zurück – und untergräbt die Unterhaltungsautorität von Sid und Jessie.
„...wie ein bekloppter Stegosaurus“
Dabei haben die beiden eindeutig Unterhaltungswert: Julia löst im Extrateil hinten das Kreuzwörträtsel, sie kichert, als sie den Drohbrief an Popstar Flynn vorliest: „Du Blödian. Du kaust wie ein bekloppter Stegosaurus.“ Und sie mag auch den Limerick über Joe, der sich auf sein Gebiss setzt. Und trotzdem: Die Sympathie scheint weg zu sein.
Die beste (weil lustigste) Stelle: Wie der böse Geist wegen dem drohenden Sonnenaufgang kopfüber in sein Bild zurückspringt - und deshalb so im Bild bleiben muss, dass man immer nur die Unterhose sieht.
Die niedlichste Stelle:
Wie Jessie sich ganz süß bei Sid bedankt
Tor Freeman, Matthias Wieland (Üs.), Willkommen in Oddleigh, Reprodukt, 18 Euro
Julias Entscheidung

„Willkommen in Oddleigh“ ist kein Kandidat für die Tabellenspitze. Also fangen wir von unten an: Vorbei an „Superglitzer“, auch „Karl der Kleine“ wird überholt, der Knackpunkt ist wieder „Boris, Babette“. Die Geisterhaus-Geschichte war offenbar besser, aber die Raupen wiederum sehr deutlich verwirrender. Wie soll man das dann abschließend bewerten?
1. Alldine & die Weltraumpiraten
2. Zack!
3. Boris, Babette und lauter Skelette
4. Willkommen in Oddleigh
5. Karl der Kleine: Printenherz
6. Superglitzer
... wird natürlich fortgesetzt
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Ein junger Mieter in einem bizarren Haus: Daniel Hulets „L'état morbide“ kriegt nach 30 Jahren eine Neuauflage. Besteht die Gruseltrilogie den "Test of time"?

Es hat was Bestätigendes: Der Splitter-Verlag hat die drei Bände von „L’état Morbide“ wieder ausgegraben. Dahinter verbirgt sich eine Grusel-Serie des 2011 verstorbenen Belgiers Daniel Hulet, deren ersten Teil ich so um 1990 in die Finger bekam und ziemlich gut fand - aber, wie die Neuauflage zeigt, eben nicht nur ich. Schön!
Die Story: Der junge Comic-Zeichner Charles Haegeman zieht in ein merkwürdiges altes Haus mit seltsamen Mietern, die Atmosphäre ähnelte sehr der in „Rosemarys Baby“, wenn auch das Haus etwas moderner wirkt. Und das Ganze endete auch nicht sauber aufgeräumt, sondern mit einer gruselig-verwirrenden Schlusspointe, nach der man sich die Teile zwei und drei kaum noch vorstellen konnte.
Diese Teile fand ich aber lange nicht.
Das heißt: Teil drei schon, irgendwann mal in einer Ramschkiste. Aber den hab ich nie genauer angesehen, weil ich ja Teil zwei noch nicht hatte. Jetzt also gibt’s bei Splitter alle drei auf einmal. Und ich erfahre endlich wie’s ausgeht!
Der Anfang: beunruhigend gut
Aber irgendwie ist diese Begegnung mit der Vergangenheit ziemlich zwiespältig. Anfangs ist noch alles im grünen Bereich. Hulet lässt Charles das alte Haus mit der eigenwillig modernen Fassade entdecken (das es übrigens tatsächlich gibt, am Boulevard d’Ypres 34 in Brüssel). Hulet hat es in ein anderes Viertel versetzt, zeigt es an einem düsteren blaugrüngrauen Nachmittag, und das Bewerbungsgespräch bei der Hausverwalterin mit ihren Katzen, der Gang durch die finstere Bude, das alles funktioniert heute schon immer noch so bedrückend gut, wie ich es in Erinnerung habe.

Aber schon beim Besuch von Charles‘ Freundin zeigen sich erste Mängel, die sich garnicht mehr so mit meiner Erinnerung decken: Der Dialog ist arg mau. Da reden nicht zwei miteinander, sondern halten sich Vorträge. Die Sprechblasen sind gigantisch und randvoll gestopft, weil sich die beiden ständig alles erklären müssen – und trotzdem leuchtet nicht ein, warum Charles in ein derart ungemütliches Haus zieht und die Freundin mit ihm in einem Zimmer schläft, in dem die Kakerlaken aus der Wand kommen. Viel stärker als das Gelaber wirken Hulets Bilder, die Unbehaglichkeit des Zimmers und immer wieder der Blick auf die Hausfassade mit der großen, stehengebliebenen Uhr.
Ab hier versinkt Charles zunehmend in diesem düsteren Haus, es hätte genügt, das alles zu zeigen – aber stattdessen denkt er endlose Selbstgespräche und liest dann auch noch das Tagebuch eines geheimnisvollen Selbstmörders vor. Wir erfahren Mysteriöses aus der Brüsseler Vergangenheit, aber es wirkt nicht so aberwitzig wie William Gulls London-Führung in Alan Moores „From Hell“, sondern ziemlich geschwätzig. Als auch noch Charles‘ Kumpels dazukommen, wird wieder im XXXL-Format geschwafelt. Doch wegen dreier nach wie vor sehr überzeugend funktionierender Elemente breche ich den nostalgischen Horror-Trip nicht vorzeitig ab.
Manches floppt: drei Elemente bleiben wirksam
Element Nummer eins ist das Entdecken des Hauses von innen: Die alten Wohnungen in schwarzgrünlicher Finsternis, das Forschen nach den anderen Mietern ist schön spooky, vor allem auch deshalb, weil hier alle einfach mal die Klappe halten und Hulet stattdessen die Augen des Lesers im verunsichernden Halbdunkel unkommentiert herumführt.
Element Nummer Zwei ist die Bild-Aufteilung. Es gibt auf den kompletten 140 Seiten praktisch kein einziges rechtwinklig angelegtes Panel, permanent wechselt der Ausschnitt, jede Doppelseite ist zersplittert wie ein heruntergefallener Spiegel, der noch dazu sehr unorthodox zerbrochen ist. Und der permanente Zwang, sich neu orientieren zu müssen, unterstützt tatsächlich das Unheimliche der Geschichte.
Element drei ist natürlich die Neugier auf Band zwei.
Das Unerklärliche bekommt eine Erklärung
Der wechselt etwas die Richtung: Hulet liefert einen Verantwortlichen für die Vorgänge im Haus, der weiterhin sein Unwesen treibt. Hulet fallen dazu auch viele einschüchternde Momente und Varianten ein. Leider bestätigt sich auch diesmal, dass die Ungewissheit vorher erschreckender war. Was Hulet wiederum zwingt, in Teil drei immer mehr fantastische Elemente aufzufahren, und das alles wird wieder gründlich erklärt und ist nur noch sehr, sehr mittelgut. Schade.
Aber ein guter Anfang ist besser als nix. Und wer bei Dialogen nicht so empfindlich ist wie ich, hat vermutlich nicht nur mit dem ersten Band auch heute noch seine dunkle Freude.
Nick Drnasos Erstling "Sabrina" war hoch gelobt und sterbensfad – um so überraschender ist der Nachfolger "Acting Class": bizarr gruselig, geradezu unheimlich gut

Vorurteile. Hätten mich beinahe einen exzellenten Comic gekostet.
Weil ich ja auch Leute in Schubladen stopfe. Irgendwer macht einen faden Comic, und wenn ich dann seinen zweiten in die Finger kriege, ich voll so: „Ach, noch’n fader Comic.“
Aber: total falsch!
Der gleiche Stil – besser eingesetzt
Obwohl Nick Drnasos großartiger Band „Acting Class“ ähnlich anfängt wie sein enttäuschender Erstling „Sabrina“. Ein Mann trifft eine Frau, sie reden über fünf Seiten, Er-Sie-Er-Sie, der Blickwinkel ändert sich kaum. Aber diesmal hat Drnaso die Szene viel besser gewählt: Ein erstes Date, Mann und Frau versuchen sich kennenzulernen, es läuft superscheiße, dann stellt sich raus – es ist gar kein erstes Date, die beiden sind schon ein Paar und wollten ihre Beziehung mit einem Rollenspiel aufpeppen. Doppelt superscheiße gelaufen, für die zwei – aber für den Leser spannend.
Schnitt: Eine Frau hält ein Kleinkind auf dem Arm. Sie redet in Gedanken mit dem Kind. Über die Zukunft. Wie sie es bedauert, dass das Kind zu schwer zum Tragen wird. Wie ihr eigenes Leben vorbeieilt. Melancholisch, friedlich. Versöhnlich. Plötzlich sagt das Kind: „Mom? Wer ist der Mann da in der Ecke?“
Blick in die Ecke: Da ist – niemand.
Genauso langsam erzählt wie „Sabrina“. Aber diesmal kippt Drnaso die Szene am Schluss gekonnt ins Gruslige.
Schön imitiert: Das Sozio-Feeling der Volkshochschule
Wir werden die Mutter und das Paar wiedersehen, in dem titelgebenden Schauspielkursus, wo sie mit anderen Teilnehmern zusammenfinden, die Drnaso ebenfalls in ungemütlichen Szenen vorgestellt hat. Lou, der in der Teeküche seines Arbeitsplatzes Kekse für die Kollegen hinstellt, von denen kein einziger gegessen wird. Angel, die nach einer Party stumpf sitzen bleibt – zur Verzweiflung der Gastgeber. Die ältere Dame, die mit ihrer erwachsenen Tochter einen Aktzeichenkurs besucht und dort unablässig auf die Tochter einquakt. Dort erzählt auch das Aktmodell vom Schauspielkursus. Und ab da wird es nur noch ungemütlicher.
Dazu trägt die typische Anfangsstimmung solcher Kurse bei: Alle sind unsicher, niemand kennt den anderen, es entstehen diese unbeholfenen Begrüßungsgespräche – und dann kommt ein Kursleiter John Smith, der beim Nachdenken nerdig-doof „denk, denk“ sagt. Oder diese Sätze, die jeder kennt, der schon mal in einem Volkshochschulkurs war: „Schön dass ihr da seid! Seid ihr auch nervös? Mir geht’s genauso.“ Das ist alles so gut gemeint und so verkrampft und Drnaso spielt das geradezu genüsslich aus, es gibt eine Vorstellungsrunde, bei der jeder etwas längeres sagen soll, und hinterher verkündet Smith, wie toll und wie prima das war, und wie wertvoll und wie mutig, ach, man möchte am liebsten davonlaufen.
Fremdschämen statt Feelgood
Wer Feelgood-Comics sucht, klappt spätestens hier den Band zu. Andere können die nächste Kursstunde kaum erwarten, und die fängt genauso verdruckst an: Alle sollen gleichzeitig eine Party spielen, jeder bekommt eine Rolle zugewiesen, es gibt die üblichen Ausflüchte der Verklemmten („Können meine Frau und ich ein Paar spielen?“), dann beginnt das Spiel – aber es ist nicht mehr ganz klar, ob und wo sie wann für wen aufhört. Was nicht nur für die Kursteilnehmer gilt: Drnaso nimmt auch seinem Publikum die Orientierung. Tatsächlich entpuppt sich so ausgerechnet „Acting Class“ als das Gruselig-Verstörendste, was ich seit langem gelesen habe.
Liegt das daran, dass Drnaso sich seit dem letzten Band verbessert hat? Wahrscheinlicher ist, dass diese Geschichte sich einfach mit seiner Art zu erzählen viel, viel besser ergänzt. Und überraschend, dass er nicht früher diese Richtung eingeschlagen hat: In einer Kurzdoku, die sein kanadischer Verlag auf Youtube eingestellt hat, erzählt Drnaso von seinen Erfahrungen in Zeichenkursen, wie unwohl er sich fühlt, wenn er unter Menschen ist und, schlimmer noch, zeichnet. Dann sieht man, wie dieser stille, nicht unfreundliche Kauz geschickt zu jedem seiner Charaktere eine kleine Kopfbüste modelliert, und wie ihn all diese Köpfe mit ihren ausdruckslosen Augen von einem Regalbrett aus beobachten, wie er seitenweise Studien zu jeder Figur zeichnet, aus jedem Winkel, jede Zeichnung mit einer pedantisch geschriebenen Zahl nummeriert.
So lange diese Köpfe da sind, will ich auch mindestens die nächste Geschichte von Nick Drnaso lesen.
Nick Drnaso, Acting Class, Blumenbar