Dem Autor folgen (2): „Maltempo“-Mastermind Alfred kann alles – und gibt sich dennoch manchmal mit weniger zufrieden
Nach dem schönen Alfred-Band „Maltempo“ hab ich mich sofort auf den Weg nach älteren Alfred-Werken gemacht. Muss ja mindestens zwei geben, denn „Maltempo“ ist der Abschluss einer italienischen Trilogie. Die Vorgängerbände heißen „Senso“ und „Come Prima“, und ich stelle fest: Selten lagen zwei Werke derart auseinander. Oder: Nach „Senso“ hatte ich auf „Come Prima“ eigentlich schon keine rechte Lust mehr.
Dabei ist „Senso“ alles in allem sogar richtig hübsch.
Versonnen in den Freitagabend
Alfred erzählt hier die Geschichte des Rundfünfzigers Germano, den es in ein italienisches Landhotel verschlägt, wo zufällig eine Hochzeit stattfindet. Er trifft dann die liebreizende Spätvierzigerin Elena, das ist ansehnlich illustriert, aber letztlich nicht mehr als nett. Was wohl auch an der Konstruktion liegt.
Da wird zu viel zusammengezwungen, damit die gefällige Liebelei gefälligst aufgeht, es wird waltertriermäßig illustriert, aber ohne Triers typische Chuzpe. Das Ergebnis sieht aus, als bräuchte man es nur noch mit Diane Lane zu verfilmen und fertig wäre die perfekte Freitagabendfüllung für die ARD, 20.15 Uhr.
Welcher Comic war der Ausrutscher?
Klingt nörgelig? Mag sein, aber der Freitagabend sieht im Ersten eben genau so aus wie er aussieht, weil das offenbar viele Leute mögen – die demzufolge auch mit „Senso“ gut bedient wären. Die Frage ist also: War „Maltempo“ ein einfühlsam melancholischer Ausrutscher eines Fachmanns fürs Seichte – oder hat sich nur ein exzellenter Erzähler mal ins Knöcheltiefe verirrt? Die Antwort findet sich schon auf der ersten Seite von „Come Prima“.
Denn die ist ein Hingucker. Ein ganz anderer Stil, nur drei Farben, keine Linien, anthrazitgrau, rostbraun, ocker auf pastellgelbem Papier. Stadtansichten, in einer Art 50er-Jahre-Design, eine Rückblende. Dann der vertraut heimelige Alfred-Stil, aber sofort interessanter abgeschmeckt dank einer deutlichen Bitternote im Plot: Ein Mann trifft im Frankreich der 50er Jahre seinen älteren Bruder nach dessen Boxkampf. Sie haben sich lange nicht gesehen, sie mögen sich nicht, aber der Mann will den Bruder mitnehmen nach Italien. Er hat eine Urne dabei: die Asche des Vaters soll ins Heimatland. Kann man da Nein sagen? Der Boxer kann.
Grobian mit feinen Nuancen
Natürlich wird er doch mitfahren: Aber nur weil ihm zuhause die Schuldner auf die Pelle rücken. Und ab da beginnt ein klassisches Road Movie. Zwei verfeindete Brüder unterwegs nach Italien, natürlich im kleinstmöglichen Auto, einem Fiat 500. Der Box-Bruder: Ein Faschist, der das Land mit in die Katastrophe geritten und sich dann aus dem Staub gemacht hat. Der Abholer: Einer derjenigen, die hinterher den Dreck wegmachen mussten. Und wie Alfred das entfaltet, wie er diesen groben Charakterisierungen lauter feine Nuancen angedeihen lässt, das ist einfach erstaunlich.
Noch erstaunlicher ist seine optische Vielseitigkeit: Er beherrscht die unwirtliche Großstadt genauso wie das sonnige Italien oder heiße Sommernächte, er hat großartige Bildideen für stille Porträts oder eindringliche Dialogszenen. Meine Lieblingsstelle: ein Gespräch mit einer Frau an den Wäscheleinen, zwischen lauter strahlend gewaschenen Laken, wie frisch aus einem Werbeclip für den „Weißen Riesen“.
Dialog in weißen Laken
Alfred erfindet glaubhaft absurde Typen, entwickelt neben dem 50-er Design noch einen weiteren Stil für eine Mondnacht, einen vierten für einen Dialog mit einem Hund, sprüht vor optischen Ideen und zeigt sich als derart variabel, dass man zu dem Schluss kommen muss, er hätte das simple „Senso“ vermutlich eher nebenbei runtergezeichnet, weil: Ausgelastet haben kann es ihn eigentlich nicht. Aber: So ganz falsch liegt man auch mit dem sonnigen „Senso“ nicht. Gerade jetzt, wo’s draußen so kalt ist.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Solingen, Hanau, München: Der gemeinsame Nenner heißt nicht Migration, sondern – junge Männer. Ein Comic zeigt jetzt die Gründe besser als jeder Soziologe
Okay, Solingen. Was ist die Ursache?
Messer? Nein. Ohne Messer nimmt man halt was anderes.
Migranten? Damit ignoriert man München 2016 oder Hanau 2020. Den Toten ist aber wurscht, ob man sie völkisch oder islamistisch umgebracht hat. Was hingegen haben alle ähnlichen Taten gemein? Die Täter sind junge oder halbjunge Männer. Stimmt das? Oh ja: Wie viele vergleichbare Taten kennen wir von Frauen um die 50? *
Na also. Erfreulicher Weise erscheint zur Tätergruppe passend grad ein irrsinnig guter Comic.
Faszinierend, abstoßend, trostlos
Der Band heißt „Geschichten aus der Provinz“, ist vom ausgezeichneten Gipi und besteht zum größten Teil aus der Parabel „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“. Diese Parabel enthält so gut wie alles, was man über junge Männer wissen muss. Und das Beste: Sie ist faszinierend, zugänglich, abstoßend und trostlos zugleich.
Es ist Krieg, irgendwo in Europa. Die Orte klingen italienisch, was 2004, als die Story entstand, noch genauso absurd war wie ukrainisch. Christian, Giuliano und Stefano sind von zuhause abgehauen. Drei Jungs zwischen 16 und 18, mit Schnurrbartversuchen auf der Oberlippe. Sie wissen nicht mal, was man am besten klaut, schlagen sich von Unterkunft zu Unterkunft durch, und ihr größtes Glück seit langem ist, dass sie ein unzerstörtes einsames Haus finden. Am nächsten Morgen erscheint die „Miliz“, um das Haus zu sprengen. Wer zusieht, wie verzweifelt der Waise Christian dieses Haus zu retten versucht, weiß danach alles über Christians Träume, seine Sehnsüchte.
Hündische Loyalität als Dank für Fake-Respekt
Was macht man, wenn alles unsicher ist? Man sucht Sicherheit: Das Trio schlägt sich durch zum örtlichen Milizführer Felix, der in einer leeren Discothek Hof hält. Der coole Macho Felix durchschaut die drei so schnell, dass man ahnt, dass es zu seiner Jobbeschreibung gehört: Christian und Giuliano dürfen mitkommen, aber Stefano, den kleinsten und zähesten von allen, wird er zum Chef der Dreiertruppe machen. Stefano wird etwas bekommen, das er für Respekt und Anerkennung hält. Und er wird beides mit bedingungsloser, fast hündischer Loyalität zurückzahlen. Zu dritt werden sie Laufburschen, Geldeintreiber, Kindersoldaten.
So nachvollziehbar kann das kein Soziologe oder Terror-Experte schildern: Giuliano, Sohn reicher Eltern, gewinnt Freunde. Christian gewinnt Geborgenheit. Stefano gewinnt eine Perspektive: Er kann organisieren, anführen. Und all das ernten die drei Jungs in einer Welt voller Trostlosigkeit, Zerstörung, Gleichgültigkeit. Gipis Kriegslandschaft unterstützt dies kongenial: So lieblos hat man Italien selten gesehen, voller leerstehender, zerbombter Industriebauten, schneisenartiger Straßen und Autobahnen, Gipi findet immer wieder Landschaften und Stadtansichten von beeindruckender Hässlichkeit. Und genau diese Kälte lässt die menschlichen Beziehungen, die Freundschaften und die Felixe, so verlockend warm wirken. Die zusätzliche Kälte des Kriegs verstärkt das.
Was uns wieder zu Solingen bringt.
Der bessere Ansatz
Es stimmt, Solingen ist kein Kriegsgebiet. Aber all diese jungen Massenmörder fanden und erhofften bei und von felixartigen Figuren und Organisationen Geborgenheit, Anerkennung, Respekt, Freundschaft, Perspektive, Aufmerksamkeit. Manche treffen ihren Felix noch analog, vielen genügt längst das Internet. Wer hier ansetzt, handelt sinnvoll, wer sich dagegen auf Messer oder Migration versteift, ändert nur die Todesart der Opfer oder die ethnische Zugehörigkeit der Täter (was übrigens nicht ausschließt, bei großen Feiern die Leute mal auf Messer etc. zu kontrollieren). Wie sollte dieser Ansatz dann aussehen?
Na, wie wohl? Man muss betreuen, ausbilden, bis ihnen die Integration und/oder Fort-/Ausbildung aus den Ohren kommt. Das ist teuer, aber es rettet Leben und bringt langfristig eine bessere Rendite: Lohnsteuer statt Mehrfachmörder. Und wer dann trotz viel, viel staatlichem Aufwand nicht mitspielt, den darf der Staat auch hart anpacken.
Was übrigens auch für den NSU und ähnlich Verwahrloste gilt: Von Nazis ermordet werden ist keinen Deut besser. Warum schickt man diese Gestalten eigentlich nicht genauso nach Afghanistan?
Rarität in neuem Gewand
So, genug ausgekotzt. Schön ist, dass Gipis Story gerade jetzt wieder auf den Markt kommt. Der Verlag hat noch vier exzellente Geschichten dazu gepackt (zwei bisher unveröffentlicht). Aber wie dringend fällig die Neuauflage war, kann man mit einem Blick in den gedruckten „Comicverführer“ sehen: Damals musste ich die Story noch zu den Outtakes packen, weil man sie nicht einmal mehr gebraucht kaufen konnte.
Gipi, Myriam Alfano (Üs.), Giovanni Peduto (Üs.), Geschichten aus der Provinz, avant-verlag, 35 Euro
* Muss man den Text wegen Siegen umschreiben? Oder wenn ein 90-jähriger Schwede mit Sprachfehler Amok läuft? Ich denke: nein. Denn die ganz normalen Standard-Irren, die bleiben jeder Gesellschaft erhalten. Und auf die muss man so oder so gesondert aufpassen.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Gut abgeschmeckte Zeitreise: Alfred entzuckert seine sommerheiße Süditalien-Nostalgie „Maltempo“ mit einer gaaanz leichten Bitternote
Ist es Realitätsflucht? Nostalgie? Gerade erst erschien die (eher mäßige) Zwei-Jungs-in-einem-Citroen-in-den-80ern Geschichte „Transit Visa“, jetzt erscheint mit „Maltempo“ von Alfred eine ähnlich gelagerte, aber dafür deutlich bessere Variante, die fast nur hauchdünn am Wohlfühl-Comic vorbeischrammt. Zu deutsch: Das Ding macht einfach Spaß!
Sonnendurchglüht und handyfrei
Weil: Es spielt schon mal in Süditalien, in einer Kleinstadt. Auch das kann man sehr düster anlegen, wie in der „Stadt der drei Heiligen“. Aber Alfred (bürgerlich Lionel Papagelli, Franzose) wählt die sonnige, leicht naive Variante, die kürzlich schon in „Atlan von den Kykladen“ so angenehm nach Urlaub aussah. Und Alfreds Geschichte handelt auch von Dingen, die weit erholsamer sind als Klima oder Trump: Ob’s die 80er sind, ist nicht ganz klar, aber es gibt keine Handys, kein Internet, die Jungs fahren mit Motorrollern über die sonnendurchglühten Pisten, und ihre Musikinstrumente sind zu neu für die 60/70er. Mimmo heißt der 15-jährige Held, der für einen Talentwettbewerb seine alte Band wieder zusammenholt. Den arroganten Cesare, den schlichten Mortadella, den Frauenhelden Guido. Klingt bis jetzt ein bisschen fad, oder?
Nostalgie mit sanfter Bitternote
Alfreds geheime Zutat ist eine zarte Bitternote, die sich durch den ganzen Band zieht. Denn eigentlich ist der ganze Scheiß von heute schon vorhanden: Es gibt mysteriöse Anschläge auf Hotelneubauten: Touristenkritik. Die Kinder spielen „Chef schlägt Arbeiter“. Und obwohl dem Teen Ciro die Mussolini-Büsten vom Lastendreirad purzeln, ist man von Migranten nur genervt, wählt aber deshalb noch nicht gleich naziartig. Und außerdem sind ja andere Dinge viel wichtiger: die Musik. Und die Mädchen wie Alba und Carla, die so viel mehr über diese Mann-Frau-Sache zu wissen scheinen und in deren Nähe man plötzlich nur Unfug brabbelt.
Sonne und Meer und Rock’n’Roll und Mädchen und das ganze Leben, das vor Mimmo liegt. Verschwitzte Nächte in kühlem Dunkelblau nach der grellweißen Tageshitze. Guido wird nur von den örtlichen Mafiosi gefragt, wann er denn endlich mal was für sie erledigt, aber er ist noch nicht im kriminellen Sumpf verschwunden. Überhaupt ist alles noch nicht so verfahren, lässt sich jedes Problem noch lösen, und genau das lässt einen noch sehnsüchtiger in diese sonnig meerblau grillenverzirpt abgemilderte Vergangenheit eintauchen.
Nicht zu unterschätzen ist übrigens, wie geschickt Alfred die Klischees zwar abruft, aber zugleich auch umgeht: Etwa, indem er statt der Hitze draußen das komplette Gegenteil drinnen zeigt – Mimmo, der an den Gemüsekisten vorbei durch einen Perlenvorhang (!) den düsteren Lebensmittelladen von Mortadellas Vater betritt. Die Würste hängen von der Decke, die Regale sind vollgestopft mit Mehl und Waschmittel, eben molto Alimentari und zero Supermercato. Und ganz nebenbei präsentiert Alfred auch eine sehr hübsche Lösung für das immer wieder knifflige Problem „Musik als Bild“ (s.u.).
Gut, oder? Oder finden Sie das Musikbildproblem nicht so dringlich? Ist auch kein Problem, denn „Maltempo“ lässt sich auch als unschuldiges Sommervergnügen genießen, auf der Liege, im Schatten am Strand oder während Ihnen außen gerade irgendein flussgewordener Bach die Gartenmöbel wegschwemmt – Himmel, vielleicht muss man auch nicht ständig an diese blöde Gegenwart denken...