Drei neue Comic-Bände greifen das Migrationsthema auf: Zwei von ihnen geben sich mit Betroffenheit zufrieden – aber einer ist dafür richtig, richtig gut
Jetzt ist es soweit: Das Flüchtlingsthema kommt im Comic an. Gleich drei Bände sind gerade zum Thema erschienen – da kann man nebenbei auch Rückschlüsse auf die Produktionszyklen der Branche ziehen. Viel spannender ist allerdings die Frage: Was taugen sie? Oder: Was nehmen sie sich vor – und erreichen sie ihr Ziel?
Eines vorweg: zwei der drei Bände sind blasenkonform. Wer Flüchtlingsfreund ist, wird darin bestätigt, umgekehrt können sie Flüchtlingsphobie keinen Deut lindern – denn sie machen sich mit der Sache gemein. In „Dem Krieg entronnen“ liegt es in der Natur der Geschichte: Olivier Kugler besucht syrische Flüchtlinge in Kurdistan, Griechenland und Frankreich, und zwar im Auftrag von Ärzte ohne Grenzen (MSF) – da muss man beinahe von Öffentlichkeitsarbeit reden. Und für „Liebe deinen Nächsten“ haben sich Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer auf einem Rettungskreuzer eingeschifft. Auch hier war der Helfer-Impuls von Anfang an dabei, aber man darf vermuten, dass sie (und jeder halbwegs fühlende Mensch) die Distanz auch dann verloren hätten, wenn sie einigermaßen neutral an Bord gegangen wären. Leider führt die Nähe zu erzählerischen Defiziten.
band 1: Sturheil nach Schema F
Beide Bände halten ihr Anliegen für so toll, dass den Leser alles interessieren muss und/oder wird, was man ihm gibt. Daher prügelt auch Olivier Kugler seine einzige grafische Idee durch das Buch wie einen altersschwachen Esel: Seine Interviews bereitet er zu ganzseitigen Bildern auf, die er mit nummerierten Textkästen, Anmerkungen und Sprechblasen zustopft. Das ist anfangs noch erträglich, aber ab Nummer fünf oder sechs fällt auf, dass man die Schicksale nur noch abarbeitet. Jedes Kapitel beschließt dann ein Interview mit MSF, das sagt, dass das grade geschilderte Elend wirklich scheiße ist und man müsste schnarch. Dass man sich dennoch weiter zum Durchforsten der Seiten überwindet, liegt an der akribischen Beobachtung Kuglers, der immer wieder Details unterbringt, die den Flüchtlingsalltag in seiner Unzumutbarkeit stark illustrieren.
Band 2: Wie Rettung funktioniert
Auch von Borstel/Eickmeyer muten ihrem Leser arge Längen zu, aber sie kriegen die Kurve recht überraschend besser. Nach 40 Seiten Schiffsbeschreibung, Interviews, Maschinenraum, Grillabend mit Crew kommt: der erste Rettungseinsatz, ein informatives und ergreifendes Stück Comic-Journalismus. Weil man Zusammenhänge versteht: Die Rettungsschiffe fahren nämlich nicht planlos durch die Gegend, sie erfahren wann und wo die Flüchtlinge unterwegs sind. Nur deshalb haben sie eine Chance zu helfen, weil man so ein Boot ansonsten im Meer praktisch nicht findet.
Also sucht das Rettungsschiff die Nadel im Heuhaufen. Und einmal auch mitten in der Nacht, wo die Trefferquote dann vollends jenseits von Gut und Böse ist. Hier kombiniert Eickmeyer hinter die Doppelseite des treibenden, überfüllten Bootes im nassen Schwarz eine Doppelseite mit nichts als einem geretteten Säugling im tröstlichen Goldgelb der Rettungswesten. Wer dabei nichts fühlt, heißt wohl schon Gauland.
Man kann natürlich quengeln, dass man so den Leser manipuliert. Was doppelt stimmt: Eickmeyer wechselt in der zweiten Hälfte vom Computerkolorieren zur analogen Aquarelltechnik, liefert wesentlich emotionalere Bilder, die meistens sogar komplett ohne die sonst recht trocken-therapeutischen Texte auskommen. Was erneut die Frage aufwirft, warum der Anfang so zäh werden musste. Das Hauptproblem beider Bände ist freilich nicht die Optik, sondern dass man mit Recht fragen kann, ob Betroffenheit ein weiterführender Ansatz ist – weshalb Band drei so viel besser abschneidet: „Der Riss“, von den spanischen Journalisten Carlos Spottorno und Guillermo Abril.
Band 3: Die Wurzel des Problems - und viele Scheinlösungen
„Der Riss“ beginnt als Foto-Reportagen-Serie entlang der EU-Grenze. Sie starten in der spanischen Exklave Melilla in Afrika, sie zeigen den enormen Aufwand der Grenzsicherung – und die Ursache des Problems: der irrsinnige Sicherheits- und Wohlstandsgegensatz. Sie besuchen die Grenzen zwischen Bulgarien und der Türkei, begegnen erneut der Zaunbaufirma aus Melilla – und demselben Gegensatz zwischen denen drinnen und denen draußen.
Sie begleiten eine (erstaunlich ähnliche) Schiffsrettungsaktion im Mittelmeer, den Flüchtlingssommer 2015, der jetzt völlig normal wirkt, weil der Leser die Motivation dahinter konstant im Hinterkopf hat. Nicht ganz so gut fügen sich die Ausflüge nach Osteuropa ein, aber spätestens in Finnland schließt sich der Kreis: Dort fahren regelmäßig Pkw über die Grenze, marode und überladen wie die Flüchtlingsboote im Mittelmeer. Hinter der Grenze entsteigen ihnen Flüchtlinge aus Afghanistan, Kamerun, sonst wo. Und wie es auf Lampedusa einen Friedhof für abgewrackte Flüchtlingsboote gibt, befindet sich hier einer für Schrottkarren, der vor allem eines bestätigt: Dass Europa auf der Welt derzeit das sinnvollste Ziel ist.
Die Fassungslosigkeit der Autoren darüber, dass große Teile der Europäer die Attraktivität der eigenen Situation derzeit nicht mehr erkennen, ist auf jeder Seite greifbar – und verhilft „Der Riss“ zu einer wesentlich präziseren Forderung als den Konkurrenten: Wer Europa und seinen Wohlstand bewahren will, muss den auslösenden Gegensatz abbauen. Zu deutsch: Er muss mehr Menschen an diesem Wohlstand beteiligen.
Olivier Kugler, Dem Krieg entronnen, Edition Moderne, 24,80 Euro
Gaby von Borstel, Peter Eickmeyer, Liebe deinen Nächsten, 24,80 Euro
Carlos Spottorno/Guillermo Aril, Der Riss, Avant Verlag, 32 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei Spiegel Online.
Ist Donald Trump mit Satire beizukommen? Zwei Comic-Bände nehmen den Kampf auf - das Resultat ist zwar unterhaltsam, doch leider auch ernüchternd
Gern wird ja darüber diskutiert, was Satire darf. Wesentlich sinnvoller könnte jedoch die Antwort auf die Frage sein, was Satire überhaupt kann, also: bewirken kann, und ob angesichts dessen die Diskussion über ihre Befugnisse überhaupt den Aufwand wert sind. Zum Beispiel: Trump.
Zwei Beispiele sind jetzt im Comic-Bereich auf dem Markt, beide auf ihre Weise renommiert, sie geben unterschiedliche Antworten, aber richtig Zuversicht können sie alle beide nicht verbreiten, leider.
Das erste Beispiel ist eine schöne Gelegenheit wieder mal bei einem alten Bekannten vorbeizugucken: MAD hat ein Trump-Special herausgegeben, inklusive Minicartoons am Seitenrand, „nur noch“-Preis und Faltblatt ganz hinten. Trump ist eine umfangreiche Aufgabe, und gerade für MAD eine harte Nuss.
MAD-Leser sind keine News-Junkies
MAD hat ein junges Publikum, die Standardzielscheiben sind neben Popstars und Konsumwelt vor allem Eltern und Lehrer, Politiker sind es allenfalls als Eltern-Lehrer-Verlängerung. Helmut Kohl etwa war in diesem Raster der alte Doofe, Strauß der alte Nazi und Schmidt der alte Spießer.
Da liegt denn auch die Haupthürde für MAD: Mehr aus Trump zu machen als 50 Seiten Donald-ist-doof – für Leser, bei denen man ein breites Wissen aus dem US-Politikbetrieb nicht voraussetzen kann. Das gelingt gelegentlich gut, wie auf drei Seiten Bibelzitate vs. Trumpzitate: Da entlarvt ein ziemlich anständiges altes Buch einen abgrundtief unanständigen Menschen. Oder wie Trump sämtliche vier Präsidentenköpfe des Mount Rushmore gegen vier Versionen seinen eigenen austauscht.
Peinlicher Rundumschlag
Meist geht’s allerdings in die Hose: Trump steht zwar als Rüpel da, der jedoch – was besonders kontraproduktiv ist – gerade dadurch Erfolg hat. Besonders ärgerlich: ein deutscher Beitrag, bei dem Medien, Trump, AfD, CSU und SPD letztlich alle gleich unzumutbar wirken. Genau dieser Anstrich der Normalität (und damit seriöser Wählbarkeit) würde Trump, AfD & Co. so passen.
Umgekehrt fehlen viele ergiebige Ansatzpunkte: Die kurzsichtige Gefälligkeitspolitik. Die rüssellangen Krawatten. Die Umweltpolitik, die zu Industrieprodukten führt, die international noch weniger gefragt sind. Die Idee, reaktionäre Trump-Wähler mit freiwerdenden Immigranten-Jobs zu beglücken: als Bulettenbrater (ächz), Erntehelfer (stöhn) und Tellerwäscher (kotz). Chance verpasst, könnte man sagen – wenn sicher wäre, ob es die Chance je gab. Denn das passiert auch den Polit-Profis.
Eine Präsident gewordene Dreckschleuder
Der zweite Satire-Band vom Splitter-Verlag, er heißt „Trump!“ Er beinhaltet sämtliche Strips, die der vielfach preisgekrönte Cartoonist Garry Trudeau in seiner Serie „Doonesbury“ über Donald Trump gezeichnet hat. Und das sind bestürzend viele.
„Doonesbury“ erscheint seit 1970 täglich in zahlreichen US-Tageszeitungen, auch in der Washington Post. Vier Panels, als fortlaufende Erzählung, mit einer aberwitzigen Vielzahl unterschiedlicher Charaktere. Das erste Mal taucht Trump im Strip des Pulitzer-Preisträgers 1987 auf. Und tatsächlich ist schon damals der komplette Irrsinn dieser Präsident gewordenen Dreckschleuder vorhanden.
Skandale sind sein Standard
Es beginnt mit Trumps Manie, Reichtum vorzuzeigen, was daran liegt, dass er „gut“ und „teuer“ gleichsetzt. Schon 1988 lässt Trump Wohnungen zwangsräumen, bedient sich schmierigster Charaktere, verachtet Menschen ohne Geld und Macht. Der Band lässt 30 Jahre Trump im Zeitraffer aufblitzen, seine Pleiten, seine vorgebliche Universität, seine schaufensterpuppenartigen Vorzeigefrauen vom Typ „vergoldeter Wasserhahn mit Brüsten“. Wer Doonesbury verfolgt hat, kann von dem Wahlkampfskandal unter vielen („Grab them by the pussy“) nicht überrascht gewesen sein, es ist alles da, wirklich alles.
Trudeau hat sein Bestes getan um Trump als das zu präsentieren, was er ist, inklusive des bizarren Konstrukts, mit dem er vollen Haarwuchs nachzuweisen versucht, weil ihm volles Haar wichtiger ist als die Fähigkeit zu einer Gesundheitsreform. Trudeau hat es versucht, indem er Trump zitierte und dabei wenig bis nicht übertrieb. Trumps winziger Wortschatz, die Wiederholungen von „sehr“, „großartig“, „unglaublich“, man mag es einfach nicht fassen, wie lange ausgerechnet dieser Körperklops und Mentalfladen schon Gegenspieler und ganz normale Menschen diskreditiert, indem er behauptet, sie würden schwitzen, stinken, wären krank oder zu dick.
Die Tweets enthüllen nichts
Geholfen hat es nicht. Cross-Cult wird Ende August sein Glück mit gesammelten Original-Tweets versuchen, tapfer angereichert um Cartoons, aber es gibt einfach nichts zu entdecken. Dieser Mann, der sich bei nüchterner Betrachtung zu nichts weiter eignet als zum Geteert-und-gefedert-werden, ist heute US-Präsident. Und er ist noch nicht mal das Hauptproblem: In den USA (und offenbar auch in Polen, Ungarn oder der Türkei) gibt es inzwischen eine mehrheitsfähige Wählerschaft für rücksichtsloses Gesindel.
Ob Satire dagegen die wirksamste Waffe ist, muss man angesichts der Bestandsaufnahme wohl anzweifeln. In letzter Zeit ertappe ich mich öfter beim Wunsch nach schlichten Signalen, sagen wir: Die Waltons haben Donald Trump zu Gast. Bis es Oma reicht: „Mr. Trump, bitte essen Sie jetzt auf und verlassen Sie unser Haus.“ Wer sich bis dahin über das Ausmaß der Katastrophe informieren möchte: beide Bände zeigen auf ihre Weise ein durchaus zutreffendes Bild davon.
MAD Trump Special, Panini Verlag, nur noch 3,99 Euro Garry Trudeau, Trump!, Splitter, 18,80 Euro Shannon Wheeler, Tump twittert, Cross-Cult, 15 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.
Guy Delisle, der Meister des skurrilen Auslandsberichts, wird bitterernst: eine Entführung, ein Raum, ein Gefangener. Die Graphic Novel „Geisel“ macht aus Isolation, Monotonie und Angst eine empfehlenswerte Selbsterfahrung
„Nichts passiert. Keiner kommt, keiner geht. Es ist schrecklich.“ Samuel Beckett hat aus der Prämisse ein absurdes Theaterstück gemacht, und das war schwer genug. Jetzt hat sich der Kanadier Guy Delisle etwas Ähnliches vorgenommen, allerdings mit einem deutlich ernsteren Hintergrund. „Geisel“ heißt sein neuer telefonbuchdicker Band – und man kann jetzt schon sagen: Das Experiment gelingt, aber der Leser muss schon auch wollen. Und das ist neu für Delisle.
Der Meister der leichten Hand
Der 51-Jährige ist Bestsellerautor, zuverlässig, seit Jahren, und nicht nur unter Comic-Maßstäben: er verkauft sogar in Deutschland fünfstellige Auflagen, was soviel ist, dass man Bände wie „Jerusalem“ oder „Pjöngjang“ häufig auch in comicfernen Buchläden auf attraktiven Verkaufsplätzen findet. Sein Erfolgsrezept ist eine leichte Herangehensweise an eher schwere Stoffe. Delisles Frau arbeitet für Ärzte ohne Grenzen, in ihrem Schlepptau kommt er in ungewöhnliche Regionen, und dort hat er – als freiberuflicher Comiczeichner und als Aufpasser für das/die Kind/er – relativ viel frei verfügbare Zeit, mit der er sich das jeweilige Land ansieht.
Seine skurrilen, meist sehr treffenden Beobachtungen verwertet er zu angenehmen Häppchen, selten länger als zehn Seiten, erzählt in einem lakonischen Stil, in dem er selbst – optisch stark an ein dickliches HB-Männchen erinnernd – scheinbar naiv durch die Welt tappt. Das Ergebnis ist erhellender als mancher Reiseführer, weitaus lustiger sowieso, und wenn man ihm dabei einen Vorwurf machen will, dann den, dass er gerade auch in Jerusalem oder Pjöngjang selten dorthin geht, wo es richtig weh tut. Aber das ist, zugegeben, auch nie sein Ansatz: Delisle sieht sich weniger als zeichnender Journalist denn als normalreisender Comiczeichner.
Stilwechsel – auch optisch
Zuletzt hat Delisle dann allerdings nachhaltig enttäuscht, mich wenigstens: Er hat drei „Ratgeber für schlechte Väter“ gezeichnet, und das Unschöne daran war nicht, dass er reichlich abgenudelte Elterngags geliefert hätte oder praktisch gar keinen Nutzwert, sondern beides. Dazu gab es noch heiter Gemeintes über seinen Sohn („Louis am Strand“, „Louis fährt Ski“, Louis gähn!). Um so überraschender ist jetzt „Geisel“, weil: ganz anders, und das fängt schon beim Stil an.
Clever erzählte Eintönigkeit
Die Geschichte selbst ist schnell erzählt: Ein Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen wird 1997 in Tschetschenien entführt. Und dann schildert Delisle die Geschichte dieser Gefangenschaft, so wie sie der Mitarbeiter wiederum ihm berichtet hat. Das Frustrierende ist: Es gibt nicht viel und wenig Besonderes zu erzählen. Die Entführer sind weder grausam noch freundlich, sie betrachten ihn als Geldquelle. Er bekommt zu essen (immer dasselbe), er darf aufs Klo, manchmal darf er sich waschen, und die Zeit dazwischen verbringt er in verschlossenen Räumen, meist mit einer Handschelle an den Boden gefesselt oder an ein Heizungsrohr. Das ist’s schon. Und obwohl man denken könnte, dass alle Beteiligten an einer raschen Abwicklung interessiert wären, sitzt die Geisel nach zwei Monaten immer noch in einem Raum mit einer schmuddeligen Matratze und sonst nichts.
Delisle reagiert auf das für ihn ungewohnte Thema, indem er seine Zeichnungen ernster werden lässt, letztlich reduziert er all seine (ohnehin nicht stark) cartoonhaften Übertreibungen Richtung Null. Dann schildert er jedes Detail. Und dessen Wiederholungen. Stunden im leeren Raum lesen sich tatsächlich wie Stunden. Der Blick zur Decke, der Blick an die Wand, der Blick auf den Heizkörper. Die immer wiederkehrenden Tagträume von der Flucht, die immer wieder gleichen erträumten Begrüßungen zuhause, die Mühe, überhaupt die Tage und das Datum nicht aus den Augen zu verlieren, all das in schwarz-weiß mit Grautönen. Zu Lachen gibt es diesmal nichts außer ganz, ganz wenig bitterem Galgenhumor.
Der Held ist kein Held - sondern normal ängstlich
Erschwerend hinzu kommt zweierlei: Erstens ist der Entführte kein Held, der Tag und Nacht über Fluchtmöglichkeiten nachdenkt und sich mit etwas Zwirn und Wandputz aus seiner Notlage herausmacgyvern könnte. Es gibt keine Bewegungsfreiheit, Handgelenk-Handschelle-Heizungsrohr, das ist es eigentlich schon. Und zweitens scheint der Entführte auch weder sonderlich aufgeweckt noch sonderlich kontaktfreudig oder gar diplomatisch.
Es gibt kein Stockholm-Syndrom, es gibt keine Form der Annäherung an die (auch das noch: schlichten bis stoffeligen) Bewacher. Angesichts der Sprachschwierigkeiten verständlich, aber er unternimmt nicht einmal Versuche mit Handzeichen, nichts. Die Stunden im Keller vertreibt sich der immer robinsonartiger aussehende Entführte mit seinem Hobby: der Rekapitulation von napoleonischen Schlachten.
Authentischer geht's kaum
Es ist kaum zu glauben, wie gut Delisles Arbeitsweise funktioniert, und wie allmählich auch der Leser jede Abwechslung dankbar als Sensation wahrnimmt. Wenn das Versteck gewechselt wird, wenn der Entführte einmal die Wohnung seiner Bewacher sieht, wenn einmal ein Kind in das Zimmer blickt oder die Frau eines Entführers. Der einzige, der diese Erfahrung zerstören kann, ist der Leser selbst – indem er enttäuscht von der Handlungsarmut weiterblättert. Denn weiterblättern wird er, man will ja wissen wie die Entführung endet, obwohl das Finale nie so stark sein kann wie die gedehnte Zeit dazwischen – immerhin ist ja klar, dass die Geisel überlebt. Wer also weiß, dass er für Ungeduld anfällig ist, sollte sich den Band lieber aus der Stadtbibliothek holen, er wird wenig Freude haben – wer sich allerdings dem Comic vertrauensvoll in die Hände gibt, bekommt die vermutlich authentischste Entführungserfahrung, die man kriegen kann ohne tatsächlich Opfer zu werden.
Guy Delisle, Geisel, Reprodukt, 2017, 29 Euro
Guy Delisle, Shenzhen, Reprodukt, 2006, 20 Euro
Guy Delisle, Pjöngjang, Reprodukt, 2007, 20 Euro
Guy Delisle, Aufzeichnungen aus Birma, Reprodukt, 2009, 24 Euro
Guy Delisle, Aufzeichungen aus Jerusalem, Reprodukt, 2012, 29 Euro
Guy Delisle, Ratgeber für schlechte Väter, 1-3, 2013, Reprodukt, je zwölf Euro
Guy Delisle, Louis am Strand, Reprodukt, zwölf Euro
Guy Delisle, Louis fährt Ski, Reprodukt, zwölf Euro
Dieser Text erschien zuerst bei SPIEGEL Online.