top of page

Verbogen wie das ganze Land

  • Autorenbild: Timur Vermes
    Timur Vermes
  • 18. Mai
  • 3 Min. Lesezeit

Ein Schiff voller Leichen, eine Nation vor dem Neuanfang: „Aale und Gespenster“ erzählt urlaubsfrisch von einer zwielichtigen Vergangenheit

Illustration: Marius Schmidt - avant verlag
Illustration: Marius Schmidt - avant verlag

Es weht ein frischer Wind durch die Vergangenheitsbewältigung. Erst kürzlich hat Hannah Brinkmann die Opferperspektive durch die mindestens genauso spannende Täterperspektive fruchtbar ergänzt, jetzt verlässt mit „Aale und Gespenster“ schon wieder ein Titel die so ausgetretenen Pfade der allgemein üblichen Standard-NS-Berichterstattung. Schön!


Debüt vor starkem Hintergrund

Der Band stammt vom Berliner Graphic-Novel-Debütanten Marius Schmidt. Der 42-Jährige strickt rund um ein historisches Ereignis einen Krimi, aber der Krimi bringt es grade mal zur Rahmenhandlung – Gottseidank. Denn das Eingerahmte ist viel besser.

Illustration: Marius Schmidt - avant verlag
Illustration: Marius Schmidt - avant verlag

1945 wird in der Lübecker Bucht das ehemalige Kreuzfahrtschiff „Cap Arcona“ bombardiert und versenkt. Das Schiff ist vollgestopft mit Tausenden von KZ-Häftlingen. Die Rettungswege und Rettungsboote sind von den Deutschen unbrauchbar gemacht, denn die ahnen oder hoffen, dass die Engländer ihnen mit einem Bombardement die Arbeit abnähmen, die unliebsamen Zeugen des Massenmords selbst versenken zu müssen. Genau weiß man’s nicht, zum Zeitpunkt des Untergangs sind jedoch erstaunlich wenige Deutsche an Bord. Aber das ist nur der Hintergrund der eigentlichen Geschichte, die direkt nach dem Krieg spielt.


Plünderfahrten zum Gespensterschiff


Casimir ist um die 20, aus Danzig geflohen, er arbeitet als Fischer und freundet sich mit dem ehemaligen Zwangsarbeiter Rimsky an. Gemeinsam beginnen sie, mit dem Boot zum nur halb versunkenen Wrack der „Cap Arcona“ zu fahren und sie auszuplündern. Trotz Gefahr und Gespenstergrusel ernten sie gut verkäufliches Blech, Besteck, Drähte, Kupfer – Schmidt breitet ein lebensnahes Bild von Deutschland unmittelbar nach dem Krieg aus.

Illustration: Marius Schmidt - avant verlag
Illustration: Marius Schmidt - avant verlag

Denn der ist noch überall gegenwärtig. In den Kriegsversehrten mit den Einschussnarben, in den Bildern vom Afrikakorps. Immer wieder tauchen Knochen im Boden auf, gibt es traumatisierte Veteranen. Jeder dreht was, jeder macht was, jeder nutzt seine Kontakte, alles ist halb illegal, halb geduldet, und von Hitlerporträts nutzt man nur noch den Rahmen. Selbstverständlich verlieben sich auch die beiden jungen Männer. Casimir in die Tochter seiner Vermieter, die erst spitzkriegt, womit die beiden Jungs ihr Geld verdienen – und dann mit an Bord will.


Schöne Legende statt Massenmord


Sie will ihren Vater reinwaschen, denn die Altnazis streuen bereits eine Legende, die viel schöner ist als die Sache mit den ermordungsbereit eingedosten KZ-Häftlingen: Die ganze Regierung hätte mit viel Nazigold nach Norwegen fliehen wollen, um den Kampf fortzusetzen – und die KZ-Häftlinge hätte man dort ja zum Festungsbau noch dringend gebraucht…

Illustration: Marius Schmidt - avant verlag
Illustration: Marius Schmidt - avant verlag

Vieles ist erfreulich an diesen munter-düsteren 200 Seiten. Die frische Erzählung mit den vielen Neuanfängen der Verliebten und Verlierer, die eigenwillig formbare Nachkriegswelt, die vielen kleinen und großen Lügen und Geheimnisse. Schön ist auch, dass Schmidt weder moralinsauer predigt noch irgendwen reinwäscht. Seine Optik unterstützt das: Obwohl sein Meer oft düster ist, zwischen blauschwarz und feldgrau, bläst Schmidt die Szenen mit jeder Menge Sandgelb und vor allem viel Weiß geradezu urlaubsfrisch auf. Scheinbar schludrige Linien, sorglose Farbflächen – im ganzen Band ist kein einziger gerader Strich, die Welt erscheint so gründlich verbogen wie das ganze Land nach zwölf Jahren selbstgewählter NS-Diktatur. Weshalb sich die Frage von selbst stellt: Wurden die Fehler 1945 gemacht? Oder nicht eher doch schon 1933?






Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:







Schlagwörter
Kategorien

Keinen Beitrag mehr verpassen!

Gute Entscheidung! Du wirst keinen Beitrag mehr verpassen.

Empfehlenswert
Katrin Parmentiers Minzweb
Heiner Lünstedts Highlightzone
Tillmann Courth
News
Schlagwörter
Suchwortvorschläge
Kategorie
Kategorien
bottom of page