Ein Wumms aus dem Nichts
- Timur Vermes

- 18. Okt.
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Okt.
Ausbeutung, Armut ohne Ausweg: Scheinbar schäbige Fäden verwebt der Iraner Mana Neyestani zum raffiniertesten Action-Spektakel seit langem

Sagen wir’s offen: Es gibt Themen, da hat man von Anfang an keine Lust. Wie Hausaufgaben. Akkordeonstunden. Gymnastik. Rentenpolitik. Nahostscheiß. Doch man kann aus sowas auch irrsinnig gute Comics machen. Und nur, damit Sie das richtig einsportieren können: Das kommt jetzt nicht von Mutti, die Ihnen zerkochtes Gemüse als supergesund anpreist. Sondern von mir, dem Freund aller fetten Bratwürste!
Was höre ich da? Dann können die Themen nicht so schlimm sein? Aber sicher sind die furchtbar! Wie hier. Sehen Sie selbst!
Habenichtse mit Hungerlohn
Ich sag nur: Grenzgebiet zwischen Iran und Irak. Geht schon scheiße los, oder? Interessiert doch keine Sau. Wird aber noch scheißer: die Leute, die da an der Grenze schmuggeln. Irgendwie so Kurden. Haben nix, arbeiten für einen Hungerlohn. Und wenn wir schon dabei sind, der Comic ist auch noch schwarz-weiß. Das kann nichts mehr werden, oder? Hab ich auch gedacht. Und ich lag sowas von daneben.

Denn Neyestani entwickelt hier ein Spektakel, wie ich es seit der brasilianischen Slum-Sensation „City of God“ nicht mehr gesehen habe. In „Papiervögel“ trifft sich die Schmugglertruppe eines Dorfs für einen Auftrag. Wir lernen sie alle kennen: Den kleinen Dicken, den Lustigen, den Alten, den Frechen, den Studierten. Und den Chef, der den Auftrag ranholt. Und dafür auch noch einen Jungen aufs Auge gedrückt kriegt. Sein Vater wurde von den Grenzern erschossen, und die Mafia ist so fürsorglich, dem Jungen die Arbeit seines Vaters aufzuhalsen. Der Junge ist, das nur nebenbei: gerade mal zwölf.
Ausbeutung mit Bartpflege
Schon bis hier schlägt sich Autor Mana Nayestani ausgezeichnet. Mit dem zähen Humor der Habenichtse entschärft er die drohende Depri-Stimmung. Doch schon dem Mafioso verleiht er eine Eiseskälte, indem er ihn beim Verteilen der Aufträge mit etwas noch Wichtigerem beschäftigt: Er kämmt im Auto-Rückspiegel seinen Bart.

Dann zeigt er die aberwitzige großen Pakete, die die Männer sich im Kampf um jeden zusätzlichen Groschen aufhalsen. Um sofort den Irrsinn zu toppen: Die Standardroute wird von Grenzern überwacht. Die Ausweichroute geht über einen verschneiten Berggipfel und ist sogar ohne Grenzer lebensgefährlich.
Nahost-Alltag goes Survivalthriller
Die Spannung, die Mana Nayestani jetzt herausholt, den Survivalthriller, den er entwickelt und so souverän wie mitreißend abbrennt, ist unglaublich. Doppelt sogar, denn sein Zeichenstil wirkt so harmlos, erinnert an Quino („Mafalda“), an Jules Stauber, wer erwartet hier schnell geschnittene Action, tödlich zugespitztes Drama? Aber das ist nur eine Seite der Goldmedaille: Mindestens ebenso gekonnt verwebt Nayestani die Schicksale, im Wortsinn.

Denn zuhause wartet die Tochter des Chefschmugglers, teppichwebend will sie sich die Freiheit verdienen, mit einem Schmugglerkollegen, den sie heiraten will – anstelle des für sie vorgesehenen Bartpflegemafiosos.
Mal brutal-nüchtern, mal herzzerreißend
Spoilern mag ich hier nicht, aber ich war am Schluss absolut platt. Kluge Details, exakt getrimmte Dialoge, die Performance ist mal brutal-nüchtern, mal so herzzerreißend, dass der Atem stockt – und hinterher hat man auch noch allerhand gelernt. Zum Beispiel auch, was diese armen Schweine in dieser Nische der Weltwirtschaft da so irrsinnig Profitables schmuggeln. Sie werden’s nicht glauben.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
