Nick Drnasos Erstling "Sabrina" war hoch gelobt und sterbensfad – um so überraschender ist der Nachfolger "Acting Class": bizarr gruselig, geradezu unheimlich gut
Vorurteile. Hätten mich beinahe einen exzellenten Comic gekostet.
Weil ich ja auch Leute in Schubladen stopfe. Irgendwer macht einen faden Comic, und wenn ich dann seinen zweiten in die Finger kriege, ich voll so: „Ach, noch’n fader Comic.“
Aber: total falsch!
Der gleiche Stil – besser eingesetzt
Obwohl Nick Drnasos großartiger Band „Acting Class“ ähnlich anfängt wie sein enttäuschender Erstling „Sabrina“. Ein Mann trifft eine Frau, sie reden über fünf Seiten, Er-Sie-Er-Sie, der Blickwinkel ändert sich kaum. Aber diesmal hat Drnaso die Szene viel besser gewählt: Ein erstes Date, Mann und Frau versuchen sich kennenzulernen, es läuft superscheiße, dann stellt sich raus – es ist gar kein erstes Date, die beiden sind schon ein Paar und wollten ihre Beziehung mit einem Rollenspiel aufpeppen. Doppelt superscheiße gelaufen, für die zwei – aber für den Leser spannend.
Schnitt: Eine Frau hält ein Kleinkind auf dem Arm. Sie redet in Gedanken mit dem Kind. Über die Zukunft. Wie sie es bedauert, dass das Kind zu schwer zum Tragen wird. Wie ihr eigenes Leben vorbeieilt. Melancholisch, friedlich. Versöhnlich. Plötzlich sagt das Kind: „Mom? Wer ist der Mann da in der Ecke?“
Blick in die Ecke: Da ist – niemand.
Genauso langsam erzählt wie „Sabrina“. Aber diesmal kippt Drnaso die Szene am Schluss gekonnt ins Gruslige.
Schön imitiert: Das Sozio-Feeling der Volkshochschule
Wir werden die Mutter und das Paar wiedersehen, in dem titelgebenden Schauspielkursus, wo sie mit anderen Teilnehmern zusammenfinden, die Drnaso ebenfalls in ungemütlichen Szenen vorgestellt hat. Lou, der in der Teeküche seines Arbeitsplatzes Kekse für die Kollegen hinstellt, von denen kein einziger gegessen wird. Angel, die nach einer Party stumpf sitzen bleibt – zur Verzweiflung der Gastgeber. Die ältere Dame, die mit ihrer erwachsenen Tochter einen Aktzeichenkurs besucht und dort unablässig auf die Tochter einquakt. Dort erzählt auch das Aktmodell vom Schauspielkursus. Und ab da wird es nur noch ungemütlicher.
Dazu trägt die typische Anfangsstimmung solcher Kurse bei: Alle sind unsicher, niemand kennt den anderen, es entstehen diese unbeholfenen Begrüßungsgespräche – und dann kommt ein Kursleiter John Smith, der beim Nachdenken nerdig-doof „denk, denk“ sagt. Oder diese Sätze, die jeder kennt, der schon mal in einem Volkshochschulkurs war: „Schön dass ihr da seid! Seid ihr auch nervös? Mir geht’s genauso.“ Das ist alles so gut gemeint und so verkrampft und Drnaso spielt das geradezu genüsslich aus, es gibt eine Vorstellungsrunde, bei der jeder etwas längeres sagen soll, und hinterher verkündet Smith, wie toll und wie prima das war, und wie wertvoll und wie mutig, ach, man möchte am liebsten davonlaufen.
Fremdschämen statt Feelgood
Wer Feelgood-Comics sucht, klappt spätestens hier den Band zu. Andere können die nächste Kursstunde kaum erwarten, und die fängt genauso verdruckst an: Alle sollen gleichzeitig eine Party spielen, jeder bekommt eine Rolle zugewiesen, es gibt die üblichen Ausflüchte der Verklemmten („Können meine Frau und ich ein Paar spielen?“), dann beginnt das Spiel – aber es ist nicht mehr ganz klar, ob und wo sie wann für wen aufhört. Was nicht nur für die Kursteilnehmer gilt: Drnaso nimmt auch seinem Publikum die Orientierung. Tatsächlich entpuppt sich so ausgerechnet „Acting Class“ als das Gruselig-Verstörendste, was ich seit langem gelesen habe.
Liegt das daran, dass Drnaso sich seit dem letzten Band verbessert hat? Wahrscheinlicher ist, dass diese Geschichte sich einfach mit seiner Art zu erzählen viel, viel besser ergänzt. Und überraschend, dass er nicht früher diese Richtung eingeschlagen hat: In einer Kurzdoku, die sein kanadischer Verlag auf Youtube eingestellt hat, erzählt Drnaso von seinen Erfahrungen in Zeichenkursen, wie unwohl er sich fühlt, wenn er unter Menschen ist und, schlimmer noch, zeichnet. Dann sieht man, wie dieser stille, nicht unfreundliche Kauz geschickt zu jedem seiner Charaktere eine kleine Kopfbüste modelliert, und wie ihn all diese Köpfe mit ihren ausdruckslosen Augen von einem Regalbrett aus beobachten, wie er seitenweise Studien zu jeder Figur zeichnet, aus jedem Winkel, jede Zeichnung mit einer pedantisch geschriebenen Zahl nummeriert.
So lange diese Köpfe da sind, will ich auch mindestens die nächste Geschichte von Nick Drnaso lesen.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Nick Drnasos "Sabrina" wurde 2018 als erste Graphic Novel für den Booker Preis nominiert, jetzt erscheint sie auf deutsch - und macht mich ziemlich ratlos.
Tja, jetzt gibt es sie auf deutsch: Die erste Graphic Novel, die für den Booker-Preis nominiert wurde. Der Sprung von der Longlist unter die letzten Fünf gelang „Sabrina“ von Nick Drnaso zwar schon nicht mehr, aber trotzdem: großes Aufsehen. Auch in Deutschland gibt’s jetzt einen besonderen Auftritt, weil sich der Aufbau-Verlag den Titel gesichert hat. Aufbau will den Unterverlag Blumenbar ausbauen, und da ist ein Booker-Preis-Kandidat natürlich schon ein ordentlicher Startschuss. Sollte man jedenfalls meinen.
Nicht schief, sondern langsam
Tatsächlich klingt vieles verheißungsvoll. Die Story ist mysteriös, die Titelheldin verschwindet plötzlich, ihr letzter Freund Terry zieht bei einem Kumpel ein, um Abstand von dem Schicksalsschlag zu gewinnen. Plötzlich wird ihre Monatskarte gefunden, ein Mordvideo taucht auf. Täter ist ein Junge, der so harmlos wirkt, dass eine Menge Internet-Irrer die Geschichte anzweifeln. Sabrina sei überhaupt nicht tot, ihr Freund und der Kumpel, bei dem er wohnt, sind böse Schauspieler und, und, und… Klingt spannend und brandaktuell, denn wir leben doch in einer Welt, in der Trolle und andere Leute ohne Leben und Verstand sich ihre Realität zurechtschrauben. Der Klimawandel ist so erfunden wie der Massenmord an der Sandy Hook Grundschule und Hillary Clinton missbraucht Kinder in einer Pizzeria. Eine gute Geschichte hat Drnaso da also. Was kann da schief gehen?
Es geht tatsächlich auch nicht schief. Sondern langsam. Sehr langsam. Das ist das erste, was auffällt: Wir sehen Sabrina zu Besuch bei ihrer Schwester, ein Dialog. Zehn Seiten. Sabrina schmust mit der Katze. Sie reden über Männer, Weihnachtsgeschenke, Kreuzworträtsel, Urlaubspläne. Ein normales Gespräch unter Schwestern, nichts davon wird später Bedeutung gewinnen. Dargereicht wird das in strenger Form, auf zwölf Panels pro Seite, drei mal vier, alle gleich groß. Am Ende geht Sabrina ins Bett, tags darauf aus dem Haus. Hm. Ein Feuerwerk der guten Laune ist das nicht, und dass es nicht als solches angelegt ist, macht es keinen Deut unterhaltsamer.
Das Prinzip ist klar, der Sinn nicht
Schnitt: Sabrinas Freund taucht bei seinem Kumpel Calvin auf. Der holt ihn vom Flughafen ab. Einige der Panels werden jetzt größer, aber die Basis bleibt immer das drei-mal-vier-Raster. Die beiden Männer kennen sich kaum, also reden sie praktisch nichts oder nur Oberflächliches. Jede Menge Panels bleiben jetzt wortlos. Man merkt, da steckt ein Prinzip dahinter, aber wozu? Soll das symbolisch sein, für eine Gesellschaft, die sich nichts zu sagen hat? Da gibt’s doch bessere Symbole als zwei schweigsame Typen, die sich nicht kennen.
In der Tat ist die Sprachlosigkeit immer wieder Thema. Aber immer wieder in Situationen, in denen auch Hella von Sinnen nicht viel reden würde. Es ist, als würde man behaupten, alle Menschen trügen schwarz, und als Beleg zeigt man dann einen Kaminkehrer. So dusslig kann Booker-Preis-Kandidat Drnaso nicht sein, oder? Aber was soll das Ganze denn dann?
Viel Stil, wenig Unterhaltung
Leider helfen auch die Zeichnungen nicht weiter. Man könnte sogar sagen, sie kommen erschwerend hinzu: Das ist alles zwar durchgestylt, sieht hinten und vorne wie Kunst aus, aber unterhaltsam wird’s nicht: Drnaso zeichnet in klaren Linien, extrem reduziert, meist nur Umrisse und Farbflächen ohne jede Schattierung. Die Figuren sehen meist aus wie große laufende Süßkartoffeln, ihre Gesichter bestehen aus der Frisur und ein paar Punkten darunter. Weshalb man an Calvins Arbeitsplatz bei der US-Armee die Figuren kaum noch unterscheiden kann: Hier tragen alle Süßkartoffeln Tarnfleck.
Sie reden in ähnlich gebremsten Dialogen über eine Stelle, die frei wird, Calvins Familie, von der er getrennt lebt, private Probleme, ob man mal essen gehen sollte. Das ist, zugegeben, alles sehr echt. Aber auch sterbensfad. So fad, dass man dankbar ist, dass irgendwann endlich, endlich, ENDLICH das Video mit dem Mord an Sabrina auftaucht.
... und dann gehen die Optionen aus
Es folgen: viele Atempausen. Geschichte wird irgendwie gemacht, voran geht es nicht. Die Handlung wird dünn verteilt wie Crepeteig. Die Internet-Trolle breiten ihre Mischung aus Mobbing und Hass aus, aber naja, man kommt damit schon auch klar. Calvin hat Waffen zuhause, packt sie aber nicht aus. Terry hört im Radio immer mehr Verschwörungstheorien, findet das Waffenversteck. Spätestens an diesem Punkt gehen auch die Optionen aus: Wenn Terry Amok liefe, wäre das arg vorhersehbar. Wenn nicht, wäre es wieder fad. Ohne zu spoilern: Auch Drnaso findet hier keine Lösung, weder spannend noch überraschend.
Mein erster Impuls: Da wüsste ich ein Dutzend anderer Graphic Novels, die ins Raster passen und dringender geehrt werden müssen (Charles Burns‘ „Black Hole“, nur mal als Beispiel). Aber klar, jeder kennt was, das er besser findet. Aufschlussreicher ist daher die Frage: Wenn man eine Graphic Novel als Literaturpreis-Kandidat ehren will, muss man dann auf „Sabrina“ warten? Denn das Genre der vielschichtigen, anspruchsvoll stilisierten Melancholie ist ja nicht neu, da findet man doch jedes Jahr mindestens einen Comic, der genauso trübsinnig ist. Aber vielleicht hab ich ja auch nur wieder mal null begriffen. Dann hilft nur: Selber rausfinden.
Dieser´Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.