- 27. Dez. 2023
Die Outtakes (9): Wie man Träume notiert, einen Roman auswalzt und eine Ikone aufs Abstellgleis schiebt

Pippi im Ruhestand
Oh, was habe ich Aster geliebt: Eine leicht verpeilte, unordentliche Teenagerin, die sich pippilangstrumpftough durch eine Endzeitwelt schlägt und ihre Welt retten muss, indem sie ein Völkerballspiel gewinnt. Unfug? Klar, aber „Mechanica Caelestium“ war leicht verständlich, dazu grandios und liebenswert gezeichnet, umwerfend charmant. In Teil zwei ist davon leider nur noch die Optik übrig. Die Handlung ist bis zur Unverständlichkeit kompliziert. Noch schlimmer: Aster wird praktisch zur Nebenfigur – ohne dass ein anderer Charakter sie ersetzen würde. Dass man den Band durchhält, liegt einzig an den explosiven Panels, anhand derer man um so mehr bedauert, dass man keine Ahnung hat, was da eigentlich los ist und wem man folgen soll.
Traumhaft

Die Hamburgerin Jul Gordon hat etwa anderthalb Jahre lang ihre Träume auf-gezeichnet. Schnell, krakelig, wie direkt nach dem Aufstehen. Tja, ist das jetzt gut? Einzigartig, spannend: ja! Weil komplett rätselhaft und seltsam. Gordons skizzenhafte Traumsequenzen haben genau das Wunderlich-Selbstverständliche, das Träume so eigenwillig macht. Diese realistische Welt, in der einem so viele merkwürdige Zwänge und Sachverhalte völlig klar sind. Dieses Eindringliche, das man oft Anderen nach dem Aufwachen zu erzählen versucht, das man ihnen aber nie so richtig nahebringen kann. Comicverführerisch ist das allerdings nur begrenzt, denn die Methode nutzt sich ab und ist auch nicht bei allen von Gordons Träumen gleich effektiv. Trotzdem: ein sehr, sehr unterhaltsames Experiment.
Jetzt mit Bildern!

So bitte eher nicht: Michel Houellebecq hat seinen Roman „Karte und Gebiet“ eingedampft und mit Zeichner Louis Paillard eine Graphic Novel draus gemacht. Glaubt er wahrscheinlich. Denn so schön der Band aussieht, so gern man ihn in die Hand nimmt, letztlich erzählt hier niemand grafisch: Tatsächlich werden dem Text nur Bilder hinzugefügt. Das kann zwar gut gehen: Erst kürzlich hat Rebecca Dautremer ja mit ihren Illustrationen John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ einen echten Zusatzeffekt verliehen. Paillards Panels und das textlastige Layout gelingt es jedoch, Houellebecqs ohnehin zur Langatmigkeit neigende Ausführungen zusätzlich in die Länge zu ziehen. Andererseits: Wer findet, dass man gute Kunst vor allem daran erkennt, dass sie anstrengt, sollte unbedingt zugreifen!
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- 24. Dez. 2023
Skurril, zart spöttisch und erfreulich frühlingshaft: Chloé Cruchaudets „Céleste“ schildert, wie der Schriftsteller Marcel Proust seine unentbehrliche Helferin fand

Comics lesen ist eine Sache, Comics finden eine andere: Hin und wieder tauchen welche dort auf, wo man selten bis nicht stöbert, nämlich bei einem Eigentlich-eher-Buch-Verlag. Wo man sie verpasst, wenn man nicht aufpasst. Was manchmal schade wäre, wie in diesem Fall beim Inselverlag und Chloé Cruchaudets so ansehnlichem wie unterhaltsamem Band „Céleste“.
Der komplizierte Asthmatiker
Es geht um den Schriftsteller Marcel Proust, der 1913 eine junge Frau ohne jede Berufserfahrung einstellt, die sich zu seiner unentbehrlichen rechten Hand entwickeln wird. Proust-Kenner wissen davon wahrscheinlich schon, aber mir Nichtkenner ist die Geschichte neu. Was ich vorfinde, ist ein pingeliges, kränkliches, mittelaltes Männlein, das aufschreit, wenn jemand in seiner luxuriösen Wohnhöhle falsch oder überhaupt Staub wischt. Das Männlein ist zugleich überzeugt von der eigenen Genialität, aber es kann sich das auch leisten, weil: Es hat erstens reich geerbt (und wird zweitens bald tatsächlich von der Verlagswelt als Genie gefeiert).
Pflegeleichter wird der Asthmatiker dadurch allerdings nicht.

Céleste, ein Landei, das in Paris bereits mit dem Anheizen eines Ofens überfordert ist, kriegt den Job, weil ihr Mann Prousts bevorzugter Taxi-Chauffeur ist. Und sie behauptet sich in dieser Stellung, weil sie eine rasche Auffassungsgabe besitzt, Menschen beobachtet, schnell und praktisch denkt und sich nichts gefallen lässt. Das ist ziemlich wichtig, weil Proust offenbar gerade Célestes Unabhängigkeit und ihre leicht mütterliche Robustheit anziehend findet. Aus Arbeitgebersicht, wohlgemerkt, beziehungsmäßig tendiert Proust zu Männern.

Giganto-Paris
Diese schon recht nette Geschichte wird durch Chloé Cruchaudet zu einer besonderen. Zunächst dank ihrer erfrischenden Farben: aquarellhaft transparent, mit viel Weiß, so dass die finstere französische Hauptstadt mit ihren dunklen Gassen und der Proustschen Altbauwohnung geradezu frühlingshaft aussieht. Dazu kommt Cruchaudets geschickte Bildregie: Die Häuser des Paris der „guten alten Zeit“ zeigt sie oft hochkant, manchmal zeichnet Cruchaudet extra vom Bodenniveau nach oben, die Jugendstilfassaden der Großstadt wirken dann nochmal überwältigender und newyorkhafter, was ganz gut zum Blickwinkel eines Mädchens vom Lande passen könnte.
Prouststilzchen
Manchmal legt sie auch Prousts Texte über die Bilder, immer wieder inszeniert sie dabei die schmale Céleste in der ausladenden Metropole. Dazwischen streut Cruchaudet mal skurrile Dialoge, mal schenkt sie Proust einen schönen Monolog als schimpfendes Rumpelstilzchen, manchmal lässt sie einfach nur stumm die Bilder sprechen. Und immer wieder verdichtet sie gekonnt: Weil Proust Célestes Mann an „ein Luxusding unter Glas“ erinnert, setzt sie den Autor auf die Spitze einer Insel, die sich aus seiner verschachtelten Wohnung hochtürmt, und ganz oben ist Proust, im Bett, unter einem Glassturz. Cruchaudet beim Spielen mit ihren Zutaten zuzusehen, ist eine helle Freude. Und das Schöne ist: Der Spaß ist nach den 120 Seiten nicht zu Ende, in Frankreich ist die Fortsetzung bereits erschienen.
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- 15. Mai 2023
Schultheiss zeichnet Bukowski: Der Klassiker „Kaputt in der City“ feiert ein Comeback in Farbe - und ist womöglich die Wiederentdeckung des Jahres

Was für ein Wiedersehen! Was für eine Gelegenheit! Was für eine Neuentdeckung! Oder hat der Splitter Verlag einfach nur mal den Gebraucht-Comicmarkt angeguckt? Denn dort sieht man, dass ein Comic namens „Kaputt in der City“, schwarz-weiß, Softcover, Neupreis einst 30 Mark, inzwischen für das Doppelte gehandelt wird. In Euro. Und völlig zu Recht.
Jeder bescheißt jeden
„Kaputt in der City“ ist einer der Glücksfälle, bei denen so viele günstige Einzelteile zusammenkommen, dass etwas einmalig Gutes entsteht. Vorausgesetzt, man mag Charles Bukowski und seine zynisch-bissig-miesepetrig-versoffenen Erzählungen aus dem Amerika von ziemlich weit unten. Die ihren besonderen Witz daraus ziehen, dass der Erzähler einerseits weiß, dass in diesem Amerika jeder jeden bescheißt, ausbeutet, beklaut, dass er andererseits auch jederzeit zugibt, dass er keine Lust hat, sich groß anzustrengen. Ein Faulpelz mit Charakter, könnte man sagen.

Diese Kurzgeschichten wählte sich in den 80er Jahren der aufstrebende Comic-Star Matthias Schultheiss als Vorlage. Was deshalb so ideal passt, weil Schultheiss kein USA-Basher ist. Schultheiss liebt Amerika glühend, aber mit offenen Augen: Er leidet daran, dass die unbegrenzten Möglichkeiten oft mit grenzenloser Rücksichtslosigkeit einhergehen. Vermutlich wählte Schultheiss deshalb einen Stil, der sich von seinen opulenten Bänden wie „Die Haie von Lagos“ deutlich unterscheidet: Kaum Flächen, nur Striche und Schraffuren, recht nahe an Robert Crumb, aber mit schultheiss-typischem Sinn für Licht und Schatten. Ein drittes Element macht jedoch die Mischung erst perfekt.
Amerika, gesehen mit offenen Augen
Es ist die Sicherheit, mit der Schultheiss, der seine Szenarien sonst selbst schreibt, den Fremdtext behandelt. Wie souverän er ihn zu wortlosen Panels und aufregend geschnittenen Seiten umkomponiert, wie präzise er den Dialog umsetzt, wie treffsicher er Erzähltext aus dem Off einsetzt und wie oft er (was für einen Fan ja noch viel schwieriger ist) diesen Erzähltext weglässt. Wer mit Bukowskis Version startet, wird bei Schultheiss nichts vermissen. Wer mit Schultheiss‘ Version beginnt, wird bei Bukowski alles wiederfinden. Die Frage ist, ob es eine gute Idee ist, die Storys zu kolorieren.

Aber auch hier macht Schultheiss nichts falsch: Er färbt einfühlsam. Es wird nirgends poppig bunt, er unterstreicht nur, was in seinen Zeichnung angelegt ist. Die Farben sind oft gedeckt, fahl, düster, staubig, dreckig und so stimmig, dass man sich im Nachhinein wundert, wie präzise die Schwarzweiß-Variante bereits die jetzt gewählten Farben suggerierte. Das Weißgelb der glühenden Sonne, das Dreckbraun der verklebten Theken, das Nachtviolett der New Yorker Hochbahn. Das Besondere ist nicht, was die Farbe den Zeichnungen hinzufügt, sondern wie gelassen sie auf deren Wirkung vertraut und sie nur sanft betont.
No Country for Frauen
Zuguterletzt: Wie ist das mit Bukowski und den Frauen? Ungeschönt. In einer Welt, in der jeder konsequent nach unten tritt, haben Frauen schlechte Perspektiven. Aber wer mit (frauenlosen) Storys wie „Kid Stardust im Schlachthof“ oder „New York für 95 Cents am Tag“ beginnt, ahnt rasch, dass Leute aus dieser Welt ihre Mitmenschen ähnlich behandeln wie sie selbst behandelt werden. Bukowskis Antihelden raffen sich manchmal zu einer eigenwillig verdreht-verlotterten Sorte von Ritterlichkeit auf, mehr ist nicht drin. Man mag das bedauern, aber überraschend ist es nicht. Schultheiss setzt diese Zustände 1:1 um, mit Körpern, die auch beim Sex so unansehnlich sind wie die Zimmer, in denen all das stattfindet. nein, schön ist all das nicht. Aber verdammt gut!
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