Mit „Die alten Knacker“ und „Ins kalte Wasser“ versuchen sich zwei Comics am Thema „Alter“ – aber nur einer besteht die Reifeprüfung
Mit dem Altern ist das so eine Sache: Nichts daran ist schön, etliches daran macht Angst, und vermeiden kann man’s nur, indem man jung stirbt. Verdrängen ist eine Option, aber tatsächlich suchen wir nach Trost, Informationen oder auch nur dem Gefühl, mit dem Problem nicht alleine zu sein. Deshalb ist auch das Cover der Graphic Novel „Ins kalte Wasser“ so gut.
Es zeigt Yvonne, 80, allein, in einem Sessel sitzend, unter Wasser, und ihr Blick ist: beklommen. Denn Yvonne wird umziehen, ins Altersheim. Und der beklommene Blick sagt alles. Verlust an Autarkie, Verlust des alten Zuhauses, und all das nicht freiwillig, sondern weil einen diese beschissene Realität namens Körper dazu zwingt. Ein grandioses Cover. Aber so gut wie auf dem Cover wird der Comic von Séverine Vidal und Victor L. Pinel bis zum Schluss nicht mehr – weil beiden der Mut fehlt, die Geschichte ernst zu nehmen. Diese Angst beginnt schon bei ihrer Yvonne.
Die Titelheldin ist 80, ein bisschen moppelig, aber gut in Schuss, das sieht man daran, wie sie geht und steht: Sie braucht keinerlei Hilfe. Warum zieht sie also ins Heim? Einziger Schluss: Sie ist zieht bewusst früh ins Heim und könnte jetzt (mit dem Heim als Sicherheitsnetz) alles tun, was sie noch kann. Sie tut: nichts, fühlt sich bevormundet und rebelliert. Wogegen eigentlich?
Hauptproblem: Die Not ist un-nötig
Natürlich muss man nicht begeistert sein, wenn man mit anderen Alten Scrabble spielen soll. Und niemand muss die Therapiesitzungen oder die Gruppenbespaßung super finden. Aber Yvonne könnte stattdessen jederzeit einen Bus nehmen, ins Museum gehen, in den Zoo, ein Beet anlegen, irgendwas anderes machen. Yvonne ist fit und das Heim ist kein Knast.
Das Problem ist: Vidal/Pinel wollen von einer bitteren Zwangslage erzählen, wählten dazu aber leider eine völlig untaugliche Protagonistin. Ungeschicklichkeit? Möglich, aber wahrscheinlicher ist, dass ihnen der Mumm fehlte, der Leserschaft eine passend malade, unattraktive Yvonne zu vorzusetzen. Mit der hätte man dann womöglich auch den Abschnitt „Sex im Altersheim“ nicht mehr so einfach runtererzählen können.
Böse Heimleiterin aus der Klischeekiste
Anstelle einer brauchbaren Hauptfigur konstruiert „Ins kalte Wasser“ dann lieber ein Heim irgendwo zwischen „Sein letztes Rennen“ und „Einer flog über das Kuckucksnest“. Ein Heim, in dem nicht nur der oben erwähnte Sex superheimlich stattfinden muss, sondern auch die böse Heimleiterin die Bewohner zum Rapport bestellt, wenn sie abends auf dem Zimmer noch ein Glas Wein trinken und tanzen. Das ist denkbar in einem Heim, in dem das Personal sich um lauter schwerkranke, extrem Pflegebedürftige kümmern muss. Aber in Yvonnes Heim sind die Bewohner so aktiv, dass jede Leitung froh wäre, wenn die sich gegenseitig bei Laune halten. Sie sind so aktiv, dass Yvonne für ihre duften, superrüstigen Freunde einen munteren Ausflug organisieren kann.
Es bleibt der Eindruck, dass Vidal/Pinel eigentlich nur eine gefühlige Altersheimgeschichte stricken wollten, Motto: „Schön, dass wir mal über irgendsowas geredet haben.“ Tatsächlich ertränken Vidal und Pinel das brisante Thema derart in ihrer Sensibelsoße, dass Betroffene sich nicht ernst genommen fühlen und Interessierte einen völlig unzutreffenden Eindruck bekommen. Was auch deshalb so ärgerlich ist, weil andere ganz nebenbei zeigen, dass man mit dem Thema viel geschickter umgehen kann.
Wer nimmt das Thema ernst? Die Komiker
Seit meinem letzten Besuch bei den „Alten Knackern“ sind zwei weitere Bände der Serie von Wilfried Lupano und Paul Cauuet erschienen. Und obwohl auch diese beiden vom Cover her den furchtbarsten Klamauk befürchten lassen, setzen sie sich unter dem Comedy-Deckmantel ernsthafter mit dem Alter auseinander als Vidal/Pinel auf ihren 80 Seiten. Indem wir etwa dem Altrevoluzzer Pierrot begegnen, der so langsam pinkelt, dass ihm der Bewegungsmelder auf dem Kneipenklo fortwährend das Licht ausknipst.
Pierrot lebt auch in einer reichlich verwahrlosten Altmännerwohnung, es geht bei ihm und seinen Freunden Antoine und Mimile um verpasste Chancen, Sturheit, Versöhnung. Es geht um die blöde moderne Zeit, das verzweifelte Festhalten an alten Ritualen, es geht auch Umweltschutz und Demokratie, und das alles klappt deshalb, weil Pierrot, Antoine, Mimile noch in einem brauchbaren Zustand sind.
Und das ist exakt der von Yvonne.
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Enorm witzig, verblüffend einfühlsam: Josephine Marks Krankheits-Comic „Trip mit Tropf“ mischt extreme Härte mit extremer Niedlichkeit
Manche Comics sind so gut, dass man einfach sofort was dazu schreiben muss. Dieser Comic ist einer davon. Ich hab reingesehen, weil ich mal wieder was zum Thema Kindercomics machen will. Aber so lange kann Josephine Marks „Trip mit Tropf“ nicht warten. Und überhaupt: Wenn das ein Kindercomic ist, dann sind auch die „Peanuts“ Kinderkram…
Zwischen Krückenfuchs und Halswehhirsch
Wir befinden uns im Wald, in der Ambulanz für Tiere. Der Krückenfuchs kommt grade rein, der Halswehhirsch sitzt auf dem Wartebaumstamm, und die Maulwurfschwester sucht eine passende Vene für die Infusion des Kaninchens. All das ist so absurd wie niedlich, dass man’s sofort akzeptiert. Und noch was hilft ungemein: lakonische Dialoge. Sparsamst gefüllte Sprechblasen, die den darunter lauernden Humor so trocken machen wie einen Martini.
Dazu kommen ziemlich erwachsene Bitterstoffe. Am Tropf des Kaninchens hängen drei Infusionsbeutel, kein Schelm, wer Chemo dabei denkt. Kann das gut gehen? – und schon schmeißt der Wolf aus dem Nachbarabteil die Krankenschwester durchs Bild und näht sich supercool seine Schusswunde selber zu. Aber als er sich gerade ums leckere Kaninchen kümmern will, überfallen Jäger die Ambulanz.
Perfekt getimter Roadtrip
Wolf und Kaninchen fliehen, und weil eine Kugel vom Karnickel-Tropf abprallt und dem Wolf das Leben rettet, müssen beide zusammenbleiben, bis der Wolf seinerseits das Kaninchen gerettet hat. Indem er dafür sorgt, dass das Kaninchen nicht von Jägern erschossen wird. Und die ganzen mitgenommenen Medikamente ordnungsgemäß einnimmt.
Ein Roadtrip also. Gibt’s öfter. Was macht ihn so gut? Zum einen die geschickt kombinierten Charaktere. Das Kaninchen ist sanft, ängstlich, wehrlos. Der Wolf ist hart, rüde, reaktionsschnell. Aber er sorgt sich ums Kaninchen, und das macht ihn seltsam verletztlich. Zum anderen die Optik, der souverän leichte Umgang mit Farben und Licht: Egal, ob Herbstwald, Schneelandschaft, Nachtwanderung, man würde gern länger die Seiten anschauen – obwohl die rasante Geschichte mit den knappen Dialogen einen so verführerisch nach vorne zieht. Aber das Beste an „Trip mit Tropf“ ist das Timing.
Schlucken beim Lachen. Oder umgekehrt
Sagen wir, ein Kaninchen verheddert sich in den Schläuchen seines Tropfers. Wie lange soll der Wolf dabei genervt zusehen? Ein Bild? Zu kurz. Zwei Seiten? Zu lang. Mark entscheidet sich für vier Panels übereinander, aber alle seitenbreit – links der allmählich schäumende Wolf, rechts das Kaninchen-Knäuel. Bis er im letzten Bild endlich das Karnickel befreit. Und was sagt er dabei?
„Herrgott noch mal!“
Mehr nicht. Wozu auch? Da ist alles drin.
Oder: Nacht, Schneetreiben. Der Wolf kämpft sich mit dem Tropfer bergauf. Wie er schon fast rechts aus dem dritten Bild hinausverschwindet, taucht ganz links das Kaninchen auf. Man sieht kaum den Kopf. Wolf sieht zu, wie sich das Kaninchen hochkämpft. Im sechsten Bild kommt es noch nicht mal bis zur Bildmitte.
Wolf kehrt um. Trägt das Kaninchen.
Ganz schwer, da nicht zu schlucken.
Tragikomisch bis zum Anschlag
Mehrfach liest man, Josephine Mark hätte in „Trip mit Tropf“ ihre eigene Krebserkrankung verarbeitet. Wichtiger für den (zurecht mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichneten) Comic ist, dass sie dem inzwischen recht abgegriffenen Erzählstandard des unkonventionellen Kranken („Knocking on Heaven‘s Door“, „Der geilste Tag“) was Originelles und zugleich wesentlich Authentischeres entgegensetzt: die tapfer-bizarre Wehrlosigkeit und Leidensfähigkeit des Kaninchens, die sie mit dem schnoddrigen Wolf extrem komisch ausbalanciert. Und dass mit Josephine Mark endlich mal jemand nicht Tragödie und Komödie miteinander bis zur völligen Harmlosigkeit neutralisiert, sondern sie im Gegenteil bis zum Anschlag ausreizt. Im Wissen, dass man dem Kaninchen nur wünschen kann, dass es für immer bei dieser einen Chemo-Runde bleiben wird. Garantieren kann man's nicht.
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Mit eindrücklichen Bildern taucht Nina Bunjevac in die Welt sexueller Gewalt ein: „Bezimena“ ist ein Horrortrip aus der Perspektive des Täters – großartig und schwer erträglich.
Das Erste, was man beim Aufschlagen von „Bezimena“ denkt, ist: Wie macht die das? Rein technisch, wie geht das, also: ohne Maschinen? Denn Nina Bunjevac arbeitet, das hab ich mir mehrfach versichern lassen, tatsächlich mit der Hand. Aber wenn man diese feinst und unglaublich exakt schraffierten, ganzseitigen Bilder ansieht, wie sie auf den schwarz-weißen Panels riesige Flächen abtönt, indem sie immer noch eine Lage Linien versetzt darüberlegt und noch eine und noch eine, bis sie jede Nuance zwischen weiß und dunkelschwarz ausgelotet hat, denkt man unwillkürlich an endlose Winterabende am Zeichentisch. Aber nicht die Abende eines Winters, sondern die von schätzungsweise acht.
Missbrauchsopfer wählt Täterperspektive
Ohne gute Geschichte wären die natürlich alle für die Katz. Doch Bunjevac hat eine gute Geschichte, eine gewagte sogar dazu. Es geht um sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung, und wie schon bei den Zeichnungen mag die 46-jährige Wahl-Kanadierin auch hier nicht den Standardweg einschlagen. Naheliegend wäre es ja, die Opfer- oder Richterhaltung einzunehmen und überall mit Großbuchstaben SCHLIMM dazuzuschreiben. Aber Bunjevac weiß, dass das schlimm ist, sie ist selbst Missbrauchsopfer, und trotzdem wählt sie die Täterperspektive.
Über eine märchenhafte Rahmenerzählung kommt sie zum Jungen Benny, der in eine kleinen Stadt lebt, wohl Anfang des letzten Jahrhunderts. Benny guckt von klein auf den Mädchen hinterher. Dabei spielt er an sich herum und wird dafür natürlich regelmäßig gemaßregelt. Die Konsequenz ist klar: Benny zieht sich zurück, er verrät niemandem mehr, was in seinem Kopf vorgeht. Aber in seinem Kopf ändert sich dadurch selbstverständlich nichts. Er guckt weiter Mädchen und Frauen hinterher, aber eben so, dass er sich dabei keine Schwierigkeiten einhandelt. Und weil kein Mensch sich gerne als perverser Sonderling fühlt, reduziert er die Kontakte zu anderen Menschen und arbeitet als Tierpfleger, denn Tiere reden nicht und beschuldigen einen noch seltener.
Zu traumhaft um wahr zu sein
Die Geschichte geht, klar, nicht gut aus: Plötzlich trifft Benny traumhafte Frauen, die lauter Sachen machen, die er mag, die ihn geradezu dazu auffordern, und während man selbst sofort denkt, dass da irgendwas nicht stimmen kann, denkt Benny sich natürlich nichts dabei. Und was in seinem Kopf traumhafter, einvernehmlicher Leder-Sex ist, ist in der Realität der Geschichte, man ahnt es früh: Mord. Erstaunlich daran ist, wie zurückhaltend (die selbst betroffene) Bunjevac dabei vorgeht.
Klar ist, dass Benny ein Getriebener ist. Er hat sich seine Vorliebe nicht ausgesucht. Klar ist auch, dass Ausgrenzung keine Lösung bietet: Benny radikalisiert sich sogar eher noch in der Isolation. Auch nachvollziehbar: Bennys Erleichterung, als sich in seiner Scheinwelt der Konflikt zwischen seinen Begierden und der Realität plötzlich in Luft auflöst. Man bekommt eine Ahnung davon, wie erlösend das Internet für zahllose Kindersex-Fans gewesen sein muss: Endlich Gleichgesinnte treffen, endlich nichts mehr verstecken müssen und sogar noch Anerkennung für die eigenen Vorlieben bekommen.
Der Unterschied zu Lügde
Erfreulich ist, wie dezent Bunjevac Stellung bezieht. Der Text ist knapp, trocken, weder anklagend noch rechtfertigend, sie blickt so nüchtern in Bennys Kopf, dass man fast übersieht, was doch offensichtlich ist: Ihre Stellungnahme ist das Düstere in jedem Bild. Man ist nur etwas abgelenkt, weil dieses Düstere eben aus Bunjevacs faszinierender Schraffurwelt erwächst. Da gibt’s eine ganzseitige Hand aus nichts als feinen Linien, eine Hausbedienstete im Laternenschein in einem dunklen Kellergewölbe, auch ganzseitig, und jeder Stein des Bodens, des Mauerwerks schimmert im spärlichen Licht, es ist praktisch unmöglich, hier rasch weiterzublättern.
Einfache Lösungen bietet Bunjevac nicht. Was sie will, erschließt sich auch eher aus dem, was sie nicht tut: Benny ist – im Unterschied etwa zur Campingplatz-Bagage aus Lügde – nicht (mehr) in der Lage, Realität und Scheinwelt zu trennen. Er ist krank, und durch diesen Kunstgriff kann Bunjevac das Problem seiner persönlichen Verantwortung ignorieren. Ihr geht es um das Ausmaß und die Unwiderstehlichkeit der Obsession. Sie heißt nichts davon gut, sie verharmlost auch nicht: Aber sie nimmt zur Kenntnis, dass es hier um nichts geht, was man sich mal so eben abgewöhnen könnte.
Wegschauen ist keine Lösung
Das klingt nicht nach viel, ist aber schon eine ganze Menge. Unlängst im Cuvilliestheater, München. Das Stück hieß „Die Netzwelt“ und zeigt einen Unternehmer, der Kindersex-Süchtigen eine Alternative bietet: digitale, also erfundene Kindersex-Partner. Allein schon das Thematisieren genügte an dem Abend, dass Leute aufstanden und gingen. Bunjevac weiß: Das ist keine Lösung.
Dieser Text erschien erstmals am 28. Mai 2020 bei SPIEGEL Online.