Gute Nachrichten für „Babylon Berlin“-Fans: Jason Lutes' Mega-Epos „Berlin“ ist dem Serienhit mehr als ebenbürtig – wenn man auf die Krimizutaten verzichten kann

Bis zur dritten Staffel „Babylon Berlin“ ist’s ja noch lange hin: Mai 2019 soll sie abgedreht sein. Was soll man da machen, in der Zwischenzeit? Zu Weihnachten habe ich noch „Berlin 1931“ empfohlen, was zugegebenerweise nicht ganz dieselbe Kerbe trifft. Aber jetzt ist mir was in die Hände gefallen, also – ich bin ganz baff: Es heißt, noch kürzer: „Berlin“. Und ist fast stärker als die TV-Serie. Dabei mag ich nicht mal den Stil.
Atmosphäre schlägt Action
Autor Jason Lutes zeichnet schwarz-weiß, sehr ligne claire, man denkt an Charles Burns, und das hat dann gerade in den Bewegungen immer auch was Hölzernes. Wenn man beispielsweise in „Der nasse Fisch“ reinguckt, Arne Jyschs Comic-Version von Volker Kutschers Bestseller, dann findet man dort ruckzuck die eleganteren Action-Szenen, die moderneren Bildaufteilungen. Bei Lutes hingegen stauben immer diese komischen Hergé-artigen, altbackenen Kringel hinter rennenden Personen oder fahrenden Autos her, mit denen ich mich noch nie anfreunden konnte. Schlechte Voraussetzungen also, und trotzdem hat mich Lutes überzeugt, mehr noch als der auch recht ordentliche Jysch. Warum?
Vielleicht, weil ich irgendwann gemerkt habe, dass ich den Gereon Rath eigentlich nicht brauche. Weil ich die erste Babylon-Staffel stärker fand als die zweite. Da wohnt Charlotte noch in erbärmlichsten Verhältnissen, arbeitet tagsüber im Polizeidienst und schmuggelt sich abends in dieses erstaunliche Nachtleben, in dem alles, aber auch alles nicht nur möglich ist, sondern auch ausprobiert wird.
Die Freizügigkeit des Internets – aber analog
Man stelle sich vor: Die Freizügigkeit des Internets, aber analog – die Leute damals haben das wirklich gemacht, nicht nur angeklickt. Eine Stadt, über die eine zügellose Neuzeit hereinbricht, eine schwindelerregende Flut an Möglichkeiten, Millionen Menschen zwischen Herausforderung und Überforderung. Und genau das, diese schillernde, anziehend-abstoßende Charlotte-Welt schildert Jason Lutes, über 500 Seiten lang. Kein Wunder, dass er damit weit vor Volker Kutscher angefangen hat (Kutscher, der für die Gesamtausgabe ein bewunderndes Vorwort geschrieben hat, macht auch kein Geheimnis draus).

Seit 1996 hat Lutes das Epos heftchenweise herausgegeben. Seine Erzählung erstreckt sich über die Jahre von 1928 bis 1933, aber anders als Kutscher wählt er eine geradezu Lindenstraßen-artige Bandbreite von Personen. Sicher, er lässt am Anfang schnell die (rath-artig aus Köln kommende) Kunststudentin Marthe Müller dem Journalisten Kurt Severing begegnen. Aber er verlässt beide auch so immer wieder so leicht, dass man beide erst nach und nach als Hauptcharaktere identifiziert. In schneller Folge kommt die Proletarierfamilie von Gudrun und Otto hinzu, die jüdische Familie Schwartz, der Obdachlose Pavel, die Lesbe Anna, der alte Polizist Lemke und, und, und, ständig erweitert Lutes das Personal. Dennoch führt der Reigen nicht dazu, dass man den Faden verliert: Die Szenen funktionieren meist, ohne dass man die Protagonisten kennt, weshalb die Figuren wie beiläufig eingeführt werden können.
Man begegnet Wessel, Goebbels, dem Berliner Blutmai
Dazwischen gibt’s historische Begebenheiten (jawohl, auch hier den Berliner Blutmai) und Personen, Künstler und Politiker. Erfreulicherweise wirkt das nur selten so zwanghaft, als müsste Lutes alles und jedes mitnehmen. Im Gegenteil, normalerweise lässt Lutes das geschmeidig und elegant einfließen, wie bei dem heruntergekommenen Nazi, der seine Miete nicht zahlt. Die Vermieterin, selbst nicht gerade reich, lässt kommunistische Kontakte spielen, um die Miete einzutreiben – allerdings wird der Mann daraufhin erschossen. Später erlebt man Joseph Goebbels, der ein Begräbnis nutzt, um den Verstorbenen zum Märtyrer zu machen. Der Tote heißt Horst Wessel. Erst beim Googlen hab ich gemerkt: Wessel war eben jener erschossene Mietpreller.
Armut, Jazz, Hitler, von nichts rührt Lutes zu viel in seinen Bilderbogen, alles ist drin und vermischt sich in seinen Händen zu einer strudelartigen Komposition, in der die von ihrer Offenheit berauschte Gesellschaft allmählich im Chaos versinkt. Die Menschen wissen nicht, was sie zu verlieren haben, sie suchen die Sicherheit der Vergangenheit und wählen dafür die der Zukunft in den beiden Utopien, die damals noch nicht durch die Praxis widerlegt sind – Faschismus und Kommunismus.
Die Zermürbung der Vernunft
Wie die Vernunft zwischen diesen beiden Fronten zermürbt und zerrieben wird, chancenlos und ohne Rückhalt in Staat und Gesellschaft, kann und konnte man schon oft lesen – aber Jason Lutes macht es spürbar. Verblüffend ist, wie europäisch das Werk des Amerikaners geraten ist. Lutes erzählt geduldig, dabei rauher, kantiger als man es vom US-Comic kennt. Das ist kein „Stauffenberg“ mit Tom Cruise, auch nicht wie „Schindler’s Liste“, die Mischung ist eher umgekehrt geworden, wie ein Western nach einem Hartwaschgang von Sergio Leone. Die deutsche Übersetzung hat dabei zum Original den zusätzlichen Vorteil, mit ihrem stellenweise eingefügten Berliner Dialekt noch authentischer, dabei aber weicher und derber zugleich wirken zu können.
Tja. Ich hab den kantigen Zwei-Kilo-Wälzer nicht an einem Tag geschafft, aber doch in dreien, er war so schwer aus der Hand zu legen wie eine Tüte Kartoffelchips. Wenn Sie’s nicht stört, dass Sie grob wissen wie die Geschichte ausgeht, wenn Sie die Kutscher’sche Krimi-Würzung nicht unbedingt benötigen – zugreifen!
Jason Lutes, Berlin, Carlsen, 45 Euro
Arne Jysch, Volker Kutscher, Der nasse Fisch, Carlsen, 20 Euro.
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.
Flucht ist zwecklos: Weihnachten kommt. Mein Tipp: Sprechblasen schenken! Anschließend abchecken, ob alle schön lesen. Dann mit einer Flasche Schampus ins Bett und selber schmökern. Und feiern, dass ein Jahr lang Ruhe ist.
Für den jungen Menschen

Sitzt da und hält es für eine Zumutung, sein Smartphone weglegen zu müssen. Will schocken, in dem er alle Nase lang „Wichser“ oder „Fotze“ sagt. Naja, Schockieren geht besser, und wie, lernt der junge Mensch aus „Jenseits“ (von Szenarist Fabian Vehlmann und dem Zeichnerduo Kerascoët, dankenswerterweise gerade neu aufgelegt). Die Geschichte: Als ein kleines Mädchen auf dem Schulweg im Wald stirbt (oder umgebracht wird), verliert eine Gruppe putziger Mini-Kinder ihr Zuhause: Sie haben offenbar in diesem Mädchen gewohnt und müssen jetzt in einer riesenhaften Natur neben der verwesenden Leiche überleben, weshalb man gleich doppelt an „Herr der Fliegen“ denkt. Aber diese Variante ist so süß und so entsetzlich wie Zuckerwatte mit Glassplittern, und durch eben diesen Gegensatz wirkt das Grauen so absolut unvergleichlich. Aus dem grusligen Kontrast lernt der junge Mensch fürs Leben: Denn damit „Fotze“ richtig wirkt, muss man auch mal lieb sein. Warum nicht an Weihnachten?
Für Papa und Mama

Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus, alle Fehler in der Erziehung sind gemacht, was bleibt jetzt noch? Genau: Fehler mit den eigenen Eltern. „Können wir nicht über was Anderes reden?“ zeigt einen der größten auf – ihr Alter einfach erst mal ignorieren und dann hilflos staunen, wie der langsame Zusammenbruch zweier 90-Jähriger zur Katastrophe für alle Beteiligten wird. Karikaturistin Roz Chast hat das so mit ihren Eltern durchexerziert. Ihr clever dosierter, gallebitterer Humor hält dabei den skurril-erschreckenden Erfahrungsbericht so perfekt im erträglichen Bereich, dass der Leser und die Leserin tatsächlich das ganze Elend mit durchhalten und dadurch eine faire Chance kriegen, es selber besser zu machen. Auch wenn sie’s jetzt noch nicht wissen: Die Beschenkten werden’s Ihnen eines Tages danken.
Für den AfD-Wähler

Machen Sie sich nichts vor, bei 20 Prozent Stimmenanteil sitzt wahrscheinlich einer von denen auch unter Ihrem Baum. Wie soll man zum Fest der Liebe damit klarkommen? Nun, es gibt Gemeinsamkeiten: eine gewisse Skepsis gegenüber den USA. Hier setzen wir an: Joe Sacco liefert mit „Bumf“ eine abgrundtief böse Parabel über den US-Datensammelwahn in Zeiten paranoider Regierungen. Mit gemeinsamen Gegnern zum Nichtangriffspakt, welcher AfDler könnte dieses bewährte Prinzip ablehnen? Es winkt also Weihnachtsfriede mit Freunden von Grünen, Linken, Piraten, SPD und Teilen der CDU, für die sich Saccos genial-garstiger Band übrigens genauso eignet. Oder anders ausgedrückt: mit allen Demokraten außer Horst Seehofer. Und das Schönste daran: Es ist ungefährlich. Denn die USA darf man kritisieren, ohne dass sie einen mit Polonium 210 vergiften.
Für den, der alles hat

Leute, denen nichts mehr fehlt, sind um die 50, haben den Arsch im Trockenen und den Keller voll mit Rotwein. Aber was haben sie nicht mehr? Bingo: ihre Jugend. Die bringt man ihnen zurück, mit Fils gesammelten Geschichten von „Didi & Stulle“. Zwei dumme Schweine faseln sich im breitesten Berlinerisch präpubertär durch eine Postmoderne aus Musik, Phrasen und furchtbaren Fernsehsendungen der 80er und 90er, mit Gastauftritten von Gott, dem Teufel, Madonna, David Bowie, Michael Jackson, Mick Jagger und Angela Merkel. Knapp 800 Seiten sensationell grober Unfug – weniger wäre weniger. Und Fil hilft viel.
Für Genießer

Muss denn die Welt immer verstörend und furchtbar sein? Nicht mit den richtigen Drogen. Zu den schönsten gehört „El Cid“ von Antonio Hernandez Palacios. Nach der bildgewaltigen Western-Serie „Manos Kelly“ hat der Avant-Verlag auch Palacios’ Mittelalter-Saga aus den 70ern gesammelt herausgegeben. Ritter-Action aus überwältigenden Perspektiven, traumhafte Landschaften, psychedelische Farben, unvergessliche Gesichter und obendrein Palacios’ Spezialität, Pferde: grasend, scheuend, galoppierend, springend und als Krönung gibt’s den ganzseitigen, vermutlich grandiosesten Pferdecrash der gesamten Comicgeschichte. Da kann Hollywood einpacken.
Für die lieben Kleinen

Was tun, wenn Papa deine Lieblingskatze einschläfern musste? Weinen – und warten bis plötzlich Panter aus der Kommode kommt. Panter ist lieb und stark und lustig und trinkt mit dir Tee. Du musst ihn vor Papa verstecken, weil Panter im Haus nicht so gern gesehen sind. Aber er kommt immer wieder, abends, aus seiner Kommode, so dass du deine Lieblingstiere gar nicht mehr brauchst. Nach einiger Zeit sind sie auch seltsam verändert, bis sie eigentlich nicht mehr sehr lieb sind und ganz merkwürdige Spiele spielen wollen, die überhaupt keinen Spaß mehr machen. Gezeichnet hat das mulmige Meisterwerk der sensationelle Onkel Brecht Evens, und wenn du bisher schon gern nachts eine kleine Lampe im Zimmer hattest, brauchst du nach „Panter“ in jeder Zimmerecke einen Flutlichtmast.
Wie? Was sagst du?
Das Ganze ist eigentlich nichts für Kinder?
Tja, da hast du wahrscheinlich recht. Zu spät. Frohe Wein-Nacht.