- 28. Nov. 2022
Fünf Jahre alt und brandaktuell: Der Reportageband "Liebe auf iranisch" zeigt in einfallsreichen Bildern, was junge Menschen im Iran derzeit auf die Straße treibt.

Ganz schön was los im Iran. Wer wissen will, wieviel Druck da gerade im Kessel ist, den möchte ich hier gerne auf einen nicht mehr ganz frischen, aber dafür brandaktuellen Titel hinweisen: Liebe auf Iranisch. Rund fünf Jahre alt ist er, und für den Band hat ein Journalistenduo unter dem Pseudonym Jane Deuxard heimlich junge Menschen im Iran interviewt, zu dem ganz schlichten Thema: Wie liebt ihr euch?
Knutschen? Nur mit eigenem Auto
Zusammen mit dem Zeichner Zac Deloupy sind neun Reportagen entstanden. Über das Paar, das beim Sex auf Unberührtheit achten muss, weil jederzeit Jungfräulichkeitstests angesetzt werden können. Den Kellner, der ein Auge darauf haben muss, dass die Frauen im Café verschleiert sind, weil jederzeit Patrouillen den Sitz des Kopftuchs kontrollieren können. Der seine Freundin monatelang nicht mal küssen kann, weil sie keinen Ort haben, an dem sie unbeobachtet sind.
Die Frau, die erzählt, wie junge Iraner wahllos in der Gegend herumtelefonieren, weil ihnen beim stumpfen Zuhausehocken nur das Handy als Freiheitsrest bleibt. Die Männer danach auswählt, ob sie ein Auto haben, weil man dann wenigstens irgendwo hinfahren und knutschen kann. Die überzeugt ist, dass ihre Familie sie umbringen wird, wenn herauskommt, dass sie Sex hat. Der junge Mann, der das Land verlassen will, damit ihn seine Familie in keiner arrangierten Ehe unterbringt. Und, und, und.
Die Scheinheiligkeit ist überall
Kommunikation und Internet werden überwacht, auf den Straßen wird die Reporterin angehalten, weil unter ihrer langen Hose vier Zentimeter Knöchel zu sehen sind. Das Internet wird zensiert, das Fernsehen blockiert, aber alle lernen Tricks, die Gesetze zu umgehen. Jeder versucht privat frei zu sein und lebt öffentlich die Lüge, die Scheinheiligkeit ist überall und wird von jedem verlangt. Manche spitzeln aus Treue zum Regime – mindestens genauso viele auch aus Angst, man könnte ihnen vorwerfen, irgendwas nicht gemeldet zu haben.
Mit am schlimmsten trifft es eben die jungen, gut ausgebildeten Iranerinnen und Iraner, die das Regime dringend braucht, um international mithalten zu können. Aber man kann Menschen nicht zugleich ausbilden, dumm halten und für blöd verkaufen. 2009, lernt man, gab es ebenfalls Unruhen. Die jungen Leute hatten bei der Wahl auf eine liberalere Regierung gehofft, fühlten sich danach betrogen, gingen auf die Straße, das Regime knüppelte den Protest nieder.
Ein echter Bonus: Deloupys Bilder
Zac Deloupy (von dem ich gern mehr sehen würde, der aber kaum ins Deutsche oder Englische übersetzt wird) findet für die ohnmächtige Wut, die Angst, die Beklemmung immer neue, angenehm einfallsreiche Bilder. Die vielköpfige Mutti-Hydra (im Bild), der Mullah, der aus dem Handy herausdunstet, die arrangierte Ehe als Blinde-Kuh-Spiel - Deloupy liefert zu vielen empörenden Schilderungen eine angemessene und gewitzte zweite Ebene.
Druck im Kessel?
Das ist noch gar kein Ausdruck.
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- 20. Nov. 2022
Gutes im Dreierpack: Alexander Brauns fabelhafte Ausstellung "Die Katzenjammer Kids" in Dortmund

Also sowas. Da passiert mal was Gutes. Und dann wird das Gute nochmal besser. Und dann wird das Bessere nochmal optimiert! Und zum Schluss gibt’s all das auch noch kostenlos. Echt wahr! Neugierig?
Slapstick-Pionier
Also: Das Gute sind die „Katzenjammer Kids“, die gerade 125 Jahre alt werden. Es gibt eine Ausstellung zu dem amerikanischen Klassiker des Zeitungs-Comics im Schauraum Comic + Cartoon in Dortmund. Zwei Räume, viele original Zeitungsseiten mit den Abenteuern der von Rudolph Dirks gezeichneten Krawallbrüder Hans und Fritz, die ihre Mutter und den Ersatzvater, den Captain, seit 1897 Woche für Woche in den Wahnsinn trieben. Slapstick in Reinkultur, aus einer Zeit, in der Slapstick eigentlich noch gar nicht erfunden war.
So weit, so gut.
Historiker als Augenöffner
Besonders empfehlenswert wird die Ausstellung, weil sie Deutschlands wohl bester (und gefühlt einziger) Comic-Historiker Alexander Braun zusammengerührt hat. Comic-Fans kennen Braun natürlich längst von seiner Arbeit für den und mit dem Taschen Verlag, alle anderen sollten sich den Namen unbedingt merken, weil Braun mindestens eine besondere Fähigkeit hat: Er präsentiert nicht nur die Comics, er setzt sie auch unermüdlich in überraschenden Kontext, weit über die üblicherweise bekannten Fakten hinaus.

So wissen wohl die meisten, dass die „Katzenjammer Kids“ deutsche Einwandererkinder sind, die ein entsprechendes Denglisch sprechen. Dass Dirks selbst Einwandererkind war, schon ein paar weniger. Dass er die „Kids“ tatsächlich als ziemlich exakte „Max und Moritz“-Kopie entwarf und entwickelte, auf Wunsch und mit Wissen des Verlegers Randolph Hearst, wie nahe er anfangs am Original von Wilhelm Busch war – da wird’s schon spannender.
Bezahlt wie ein Bundesliga-Profi
Braun zeigt, wie allmählich die Sprechblasen in den Text finden, wie der Klamauk zum Schlager wird, Dirks gewagter und gewitzter zu experimentieren beginnt, und gigantischen Erfolg genießt einstreicht. Die Kids gibt's als Bühnenstück, als erste Comic-Figuren in der Macy's-Parade. Braun rechnet aus, dass Dirks ein Star-Gehalt wie ein Bundesligaprofi kassieren kann, dass er mit diesem Geld zu den Sehenswürdigkeiten der Welt reiste, dass er dort praktischerweise auch seine „Kids“ hinreisen ließ. Dass zeitgleich die Idee der Postkarten boomte, von denen damals, so erfährt man, jedes Jahr eine Milliarde versendet wurden, und Braun hat auch noch die passenden Postkarten zur jeweiligen Kids-Episode parat – so wird aus einer schlichten Comic-Ausstellung eine regelrechte Zeitreise.
Braun präsentiert die lange Pfeife des Lehrer Lämpel als Symbol deutscher Rauchkultur, zeigt Pfeife samt weiteren Ritualen der deutschen Auswanderergemeinde. Und er zieht auch den Querverweis zum Thema „Wirtschaftsflüchtlinge“, nämlich: zu den Millionen deutscher Wirtschaftsflüchtlinge in den Vereinigten Staaten, von denen Land und Einwanderer gleichermaßen profitierten.

Traumziel: seriös Malen
Woher die ganzen Exponate stammen? Von Braun selbst, und das keineswegs zufällig: Denn Braun, so sagt er, hat nie wie ein Fan gesammelt, und nie nach Rendite – „sondern immer wie ein Museum“. All das ist auch deshalb ein Glücksfall, weil stundenlanges Comics lesen im Stehen durchaus anstrengend ist und ermüdend sein könnte. Es braucht Abwechslung, und die liefert Braun bis hin zu den Versuchen Dirks‘ in der „seriösen“ Malerei.
So weit, so besser.
Tja, und dann hätten wir noch diesen Schauraum Comic + Cartoon. Ich kannte ihn bislang nicht. Zwei ordentlich große Räume im Erdgeschoss eines städtischen Beton-Baus, genial gelegen, direkt gegenüber vom Dortmunder Hauptbahnhof. Zu Fuß sind’s vom Gleis 6 zirka 63 Sekunden, mit Rollkoffer im Schlepptau. Man kann (wie ich auf der Fahrt von Bochum nach München) auf der Durchreise aus dem Zug hüpfen, schnell mal reinschauen und danach ruckzuck wieder weiterfahren. Risikolos, weil: gratis ist es auch noch. Und täglich bis auf Montags geöffnet, mindestens von 11 bis 18 Uhr.
So weit, so grandios.
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- 2. Nov. 2022
Nick Drnasos Erstling "Sabrina" war hoch gelobt und sterbensfad – um so überraschender ist der Nachfolger "Acting Class": bizarr gruselig, geradezu unheimlich gut

Vorurteile. Hätten mich beinahe einen exzellenten Comic gekostet.
Weil ich ja auch Leute in Schubladen stopfe. Irgendwer macht einen faden Comic, und wenn ich dann seinen zweiten in die Finger kriege, ich voll so: „Ach, noch’n fader Comic.“
Aber: total falsch!
Der gleiche Stil – besser eingesetzt
Obwohl Nick Drnasos großartiger Band „Acting Class“ ähnlich anfängt wie sein enttäuschender Erstling „Sabrina“. Ein Mann trifft eine Frau, sie reden über fünf Seiten, Er-Sie-Er-Sie, der Blickwinkel ändert sich kaum. Aber diesmal hat Drnaso die Szene viel besser gewählt: Ein erstes Date, Mann und Frau versuchen sich kennenzulernen, es läuft superscheiße, dann stellt sich raus – es ist gar kein erstes Date, die beiden sind schon ein Paar und wollten ihre Beziehung mit einem Rollenspiel aufpeppen. Doppelt superscheiße gelaufen, für die zwei – aber für den Leser spannend.
Schnitt: Eine Frau hält ein Kleinkind auf dem Arm. Sie redet in Gedanken mit dem Kind. Über die Zukunft. Wie sie es bedauert, dass das Kind zu schwer zum Tragen wird. Wie ihr eigenes Leben vorbeieilt. Melancholisch, friedlich. Versöhnlich. Plötzlich sagt das Kind: „Mom? Wer ist der Mann da in der Ecke?“
Blick in die Ecke: Da ist – niemand.
Genauso langsam erzählt wie „Sabrina“. Aber diesmal kippt Drnaso die Szene am Schluss gekonnt ins Gruslige.
Schön imitiert: Das Sozio-Feeling der Volkshochschule
Wir werden die Mutter und das Paar wiedersehen, in dem titelgebenden Schauspielkursus, wo sie mit anderen Teilnehmern zusammenfinden, die Drnaso ebenfalls in ungemütlichen Szenen vorgestellt hat. Lou, der in der Teeküche seines Arbeitsplatzes Kekse für die Kollegen hinstellt, von denen kein einziger gegessen wird. Angel, die nach einer Party stumpf sitzen bleibt – zur Verzweiflung der Gastgeber. Die ältere Dame, die mit ihrer erwachsenen Tochter einen Aktzeichenkurs besucht und dort unablässig auf die Tochter einquakt. Dort erzählt auch das Aktmodell vom Schauspielkursus. Und ab da wird es nur noch ungemütlicher.
Dazu trägt die typische Anfangsstimmung solcher Kurse bei: Alle sind unsicher, niemand kennt den anderen, es entstehen diese unbeholfenen Begrüßungsgespräche – und dann kommt ein Kursleiter John Smith, der beim Nachdenken nerdig-doof „denk, denk“ sagt. Oder diese Sätze, die jeder kennt, der schon mal in einem Volkshochschulkurs war: „Schön dass ihr da seid! Seid ihr auch nervös? Mir geht’s genauso.“ Das ist alles so gut gemeint und so verkrampft und Drnaso spielt das geradezu genüsslich aus, es gibt eine Vorstellungsrunde, bei der jeder etwas längeres sagen soll, und hinterher verkündet Smith, wie toll und wie prima das war, und wie wertvoll und wie mutig, ach, man möchte am liebsten davonlaufen.
Fremdschämen statt Feelgood
Wer Feelgood-Comics sucht, klappt spätestens hier den Band zu. Andere können die nächste Kursstunde kaum erwarten, und die fängt genauso verdruckst an: Alle sollen gleichzeitig eine Party spielen, jeder bekommt eine Rolle zugewiesen, es gibt die üblichen Ausflüchte der Verklemmten („Können meine Frau und ich ein Paar spielen?“), dann beginnt das Spiel – aber es ist nicht mehr ganz klar, ob und wo sie wann für wen aufhört. Was nicht nur für die Kursteilnehmer gilt: Drnaso nimmt auch seinem Publikum die Orientierung. Tatsächlich entpuppt sich so ausgerechnet „Acting Class“ als das Gruselig-Verstörendste, was ich seit langem gelesen habe.
Liegt das daran, dass Drnaso sich seit dem letzten Band verbessert hat? Wahrscheinlicher ist, dass diese Geschichte sich einfach mit seiner Art zu erzählen viel, viel besser ergänzt. Und überraschend, dass er nicht früher diese Richtung eingeschlagen hat: In einer Kurzdoku, die sein kanadischer Verlag auf Youtube eingestellt hat, erzählt Drnaso von seinen Erfahrungen in Zeichenkursen, wie unwohl er sich fühlt, wenn er unter Menschen ist und, schlimmer noch, zeichnet. Dann sieht man, wie dieser stille, nicht unfreundliche Kauz geschickt zu jedem seiner Charaktere eine kleine Kopfbüste modelliert, und wie ihn all diese Köpfe mit ihren ausdruckslosen Augen von einem Regalbrett aus beobachten, wie er seitenweise Studien zu jeder Figur zeichnet, aus jedem Winkel, jede Zeichnung mit einer pedantisch geschriebenen Zahl nummeriert.
So lange diese Köpfe da sind, will ich auch mindestens die nächste Geschichte von Nick Drnaso lesen.
