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Comicverfuehrer

Ein verzaubertes Kleinod von Lewis Trondheim: „Ich bleibe“ erzählt von einem bitter-skurrilen Sommerurlaub – rätselhaft und mit melancholischer Magie

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Illustration: Hubert Chevillard/Lewis Trondheim - avant-verlag

Ein Paar, Mitte dreißig, erreicht im Sommer einen französischen Küstenort. Es ist noch zu früh, um die für eine Woche gebuchte Unterkunft zu beziehen, also spazieren sie etwas herum. Hand in Hand. Es ist windig, so windig, dass die metallenen Zeitungsständer weggeweht werden. Die Frau muss lachen: einer davon fliegt sogar so knapp über sie hinweg, dass sie staunend zu ihrem Mann schaut. Sie sieht: Ihm fehlt jetzt der Kopf.

Guter Anfang, oder?


Erst Knalleffekt, dann sanfte Stille


Der Anfang stammt aus „Ich bleibe“, einem eigenwilligen, wundervollen Comic-Band, der sich, ganz nebenbei, auch ideal für Comic-Seiteneinsteiger eignet: Denn trotz des beeindruckenden Starts erzählt er ruhig, still, sanft, fast konventionell eine Geschichte, die zugleich gewöhnlich und ungewöhnlich ist. Weil die Frau namens Fabienne unerwartet reagiert: Sie bricht den Urlaub nicht ab, sondern sie bleibt.


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Bild: H.Chevillard/L.Trondheim - avant-verlag

Fabiennes Reaktion verleiht der Geschichte ein Rätsel, aber auch einen wunderlichen Zauber. Denn in den folgenden Tagen arbeitet sie gewissenhaft das Programm ab, das ihr Freund ihr in seinem Tagebuch hinterlassen hat. Die Stierkampfarena, die Flugshow der Luftwaffe, der Handwerksmarkt, es sind Orte voller ausgelassener Urlaubsfreude, Zeichner Hubert Chevillard erweckt sie geschickt zum Leben, mit kleinen und kleinsten sommerprallen Szenen, die praktisch jeder aus eigenen Ferien kennt. Und die alle eine besondere Note gewinnen, im Kontrast mit dieser stillen Frau, die irgendwo zwischen betäubt und emotionslos im Zentrum des ganzen Trubels sitzt und nicht recht weiß, wie ihr geschieht.


Nervtötender Köter


Verantwortlich für diese simple, aber wirkungsvolle Kombination ist Lewis Trondheim, der das Szenario geliefert hat. Fabienne ist einer seiner introvertierten, leicht verträumten Charaktere, der er den extrovertierten Paco an die Seite gibt, einen Händler für indischen Ethno-Kram, sowie einen nervtötend kläffenden Köter. Und so folgt man verwundert der erschreckend stillen, manchmal überraschend ruppigen jungen Frau durch ihre bitter-skurrile Urlaubswoche. Man würde Fabienne – wie Paco – gerne verstehen, aber durchschaut sie nie ganz.


Was den cleveren Effekt hat, dass Trondheim und Chevillard durch diese ständige Irritation ihr Publikum ganz nahe an die Ausnahmesituation der Trauer und des Todes bugsieren.






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„Trip mit Tropf“ wird bejubelt - bei Erwachsenen und hier im Blog: Aber Julia (11) sieht die Sache irgendwie ganz anders ...

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Illustration: Josephine Mark - Kiebitz-Verlag

Habe ich nicht gerade noch ein Loblied auf „Trip mit Tropf“ gesungen? Wie übrigens auch der recht bekannte Comic-Experte Ralf König? Eine direkte, freche, lustige und rührende Geschichte um ein todkrankes Karnickel, das mit einem Wolf, einem Tropfer und den dazugehörenden Chemotherapiebeuteln vor den Jägern fliehen muss? Und was hab ich mich still vorgefreut, als ich Julia den Band gegeben habe, weil ich’s für was wirklich Besonderes halte. Ich habe nichts dazugesagt, außer: „Ist diesmal keine Episoden-Story, sondern eine längere Geschichte.“ Aber Julia fragt nach dem Lesen als Erstes: „Was ist ein Tropf?“


Was tun, wenn die Urangst fehlt?


Es stellt sich tatsächlich heraus, dass Julia nicht weiß, was ein Tropfer ist. Und das ist nicht die einzige Frage, die sie hat: Auch das Konzept einer Chemotherapie kennt sie (was mit elf durchaus vorkommen kann) nicht. Und das, obwohl Julia gründlich gelesen hat und alles mitkriegt. Sie weiß, dass der Wolf das Kaninchen wegen der Medizin nicht fressen mag. Und sie weiß, dass dem Kaninchen die Haare ausfallen. Aber sie versteht nicht, warum. Die gesamte Urangst, die man als Erwachsener vor dem Krebs hat, hat Julia nicht.


Ich erkläre ihr die Sache mit der Chemotherapie. Und als dann immer noch nicht klar ist, worum es geht, spreche ich das aus, was der Comic doch so geschickt nur andeutet: „Dass das Kaninchen extrem krank ist und wahrscheinlich Krebs hat.“ Julia sieht mich verstört an und sagt: „Echt??“


Das Dunkle lauert darunter


Bricht damit das ganze Konzept des Comics zusammen? Einerseits ja, aber andererseits bekommt Julia sehr wohl mit, dass da irgendwas Unangenehmes passiert. Da sind sehr witzige Stellen dabei, aber Julia merkt genau, dass etwas Dunkles darunter liegt. Dass der Wolf dem Kaninchen eine Mütze schenkt, weil er mitkriegt, dass das Kaninchen sich für seine Glatze schämt, das findet sie nett vom Wolf – aber es verstört sie, dass damit offenbar noch lange nicht alles gut ist.


Offenbar macht genau das die Geschichte für Julia unbeherrschbar: Die Gefahr ist da, aber sie kann sie nicht einschätzen. Und darum weiß sie auch nicht, ob der Wolf lustig ist oder letztlich nicht doch eher hilflos. Was der Wahrheit vermutlich sogar ziemlich nahe kommt.


Was hilft, sind „Pommes!“


Zeichnerisch, erzählerisch klappt hingegen vieles: Es freut mich, dass Julia zwei Stellen herauspickt, bei dem Josephine Mark bewusst langsam erzählt. Die Technik haut hin, die sensible Botschaft kommt durchaus an. Aber als wir drüber reden, was Wolf und Kaninchen wohl künftig machen, und ob sie das lesen wollen würde, da sagt Julia: „Eher nicht.“


Die beste (weil lustigste) Stelle: Wie der Wolf das Kaninchen fragt, was es grade denkt. Und wie sich beide lange angucken und nichts sagen, und dann erst antwortet das Kaninchen: „Pommes!“

Die niedlichste Stelle: Wo Wolf und Kaninchen nachts durch den Schnee stapfen und der Wolf dann das Kaninchen trägt


Julias Entscheidung


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Selbstporträt: Julia

Auch „Trip mit Tropf“ ist eindeutig kein Kandidat für den Titel. Also fangen wir von unten an. Rasch zeigt sich: An „Boris, Babette“ kommt die Fabel nicht vorbei, der Gegner ist also „Willkommen in Oddleigh“. Julia blättert nochmal in der britischen Gruselgeschichte, findet ein sehr schönes liebes Gedicht, das sie sofort vorliest. Und dann meint sie...



  • 1. Alldine & die Weltraumpiraten

  • 2. Zack!

  • 3. Boris, Babette und lauter Skelette

  • 4. Trip mit Tropf

  • 5. Willkommen in Oddleigh

  • 6. Karl der Kleine: Printenherz

  • 7. Superglitzer




... wird natürlich fortgesetzt



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Daily Strip, Graphic Novel und Geschichtsschreibung in einem: Mit „Abba Hallo!“ kann man Schwulcomix-Erfinder Ralf König neu entdecken

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Illustration: Ralf König - Rowohlt

Ralf König. Kennen Sie, oder? „Bewegter Mann“. „Kondom des Grauens“. FAZ-Leser haben ihn öfter mal in ihrer Zeitung gesehen. Und während Corona haben viele seine täglichen Online-Strips angeklickt. Ich nicht, weil: Social-Media-Depp. Trotzdem dürfte Königs neue Stripsammlung „Abba Hallo!“ für viele ähnlich überraschend sein wie für mich. Weil gerade die gesammelte Form zeigt, dass dieser König auch nach rund 40 (!) Jahren Comic-Karriere Dinge leistet, die man ihm immer noch nicht zugetraut hat. Und in mindestens einem Fall hat er sich vermutlich sogar selbst überrascht.


Alles neu – und doch vertraut


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Illustration: Ralf König - Rowohlt

Am Anfang stand das neue ABBA-Album, zu dem König als Fan 2021 ein paar Strips machen wollte. Das Comeback der Kult-Band ist ja ein ideales Thema (schwul-affin, nichtschwul-affin, also alle-affin), das Warten darauf, die Furcht vor der Enttäuschung, das erste Anhören… All das lief so gut, dass König weitermachte. Jeden Tag ein Knollennasen-Strip, aber die Story blieb fortlaufend. Eine Herausforderung, in doppelter Hinsicht.


Vier-Panels. Klassische „Peanuts“-Länge. Das heißt nicht: man zeichnet eine normale Geschichte und schneidet jeden Tag vier Bilder davon ab. Sondern: Jede Vier-Bilder-Portion muss allein funktionieren. Man braucht einen Anfang, eine Handlung, damit man die Pointe aufbauen kann, und die Pointe selber. Der zweite Teil macht es aber noch kniffliger: die fortlaufende Story.


Jetzt muss man auch noch täglich die Handlung so aufgreifen, dass Neueinsteiger mitkommen – und Leser von gestern trotzdem nicht gähnen, obwohl sie alles schon wissen. Im Idealfall hält man auch noch die Neugier hoch auf etwas, was erst demnächst kommt. Tja, und jetzt klingt „vier Bilder“ auf einmal sehr knapp. Aber tags drauf geht es genauso weiter, und am nächsten Tag wieder. Und seine Leser behält so ein Strip nur dann, wenn er nicht bloß gelegentlich brillant ist, sondern jeden verdammten Tag gut bis sehr gut. Heißt: Langstrecke. Ausdauer.


Tagesstrip heißt: konstant Leistung bringen


Klar, König hat schon gezeigt, dass er das in der FAZ ein paar Wochen hinkriegt. Und der Vorgänger „Vervirte Zeiten“ arbeitete ähnlich, die fortlaufende Story bestand aber zunächst vor allem im roten Corona-Faden. Die Strips aus „Abba Hallo!“ hingegen sind eine knappe Jahresdistanz. Ganz anderes Kaliber. Da sind verkaterte Tage dabei, Tage mit Schnupfen, Fieber. Sicher, man kann vorproduzieren, aber was ist, wenn ausgerechnet der Vorproduktions-Tag voll Grippe ist? Und die fortlaufende Story? Das können nicht viele. Auf der Suche nach Vergleichbarem landet man da schnell bei Ausnahmekünstlern wie Milton Caniff oder Alex Raymond.


Was König hilft, ist: Er ist vielseitig interessiert. Der Umgang mit Corona ist für ihn Herzenssache, und trotzdem: Wenn Konrad und Paul, sein schwules Stamm-Ehepaar, Silvester feiern, geht es Paul auf den Sack, wenn Konrad nicht einfach mal elf statt der erlaubten zehn Gäste einlädt. Dazu gibt es einen schönen Sex-Handlungsstrang, Tagespolitik, und nicht zuletzt hat König in der Vergangenheit Vieles gesammelt, das ihm jetzt nützt.


Zwischen Sofakissen und Impfdebatte


Er bleibt nicht stur bei Konrad und Paul, sondern setzt die vielen Nebenfiguren und Locations ein, die er ihnen inzwischen dazugesellt hat. Pauls Papa und Schwester Edeltraut, Konrads Exfreundin Brigitte, sein schwuler Kumpel Lutscher, und, und, und. Häufig verlegt er seine Dialoge ans Telefon, zeigt verschiedene Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Küchen. Soll man nicht unterschätzen: All diese Zimmer und Räume brauchen Zeit, und ausdenken muss man sie sich auch. Gerade, wenn man in Farbe zeichnet: Man kann sich etwa bei König in jedem Wohnzimmer auf unterschiedlich gemusterte Sofakissen freuen.


Klar, König erfindet das Rad nicht neu. Aber man konnte nicht erwarten, dass er seine Erzählweise so gut in die Daily-Strip-Form konvertiert. Einziger Nachteil: Am Stück liest es sich nicht so gut wie im Tagesrhythmus. Weil man nach 20, 30 Seiten spürt, wie der gleichmäßige Vier-Panels-Puls eine größere Dynamik bremst. Dafür bekommt man in „Abba Hallo!“ etwas völlig Unerwartetes: eine historische Dimension. Ebenfalls doppelt.


König als Quelle für Historiker


Nummer Eins: der Mundschutz. Mit dem sind wir doch drei Jahre lang rumgerannt. Aber professionell erzählt wird davon praktisch nicht. Tatort, Polizeiruf, Kinofilme, TV-Serien – den Mundschutz sieht man allenfalls im OP-Saal von „In aller Freundschaft“. Drei Jahre lang spielten alle Erzählungen irgendwann vor oder nach Corona, nur nicht: 2019-22. Weil jeder Mundschutz fehlt. Während der Pandemie wurde niemand ermordet, hat sich niemand verliebt, gab es keine Politthriller oder Liebesdramen. Die wohl einzigen Geschichten, in denen der Mundschutz nicht ausgeblendet wird, sind – bei Ralf König. Und dann wäre da noch Nummer Zwei: Putin.


Weil alles ja Herbstwinter 2021/22 spielt, ahnt man, dass Wladimir Ohnehemd doch irgendwann mal in die Ukraine einmarschieren muss. Ein unverhoffter Spannungsbogen, der zugleich dokumentiert, wie wenig man noch unmittelbar vor dem Überfall den drohenden Krieg als reale Möglichkeit wahrnahm. Kann man im Nachhinein kaum glauben, aber wenn Historiker künftig einen Beleg dafür in Echtzeit suchen – „Abba Hallo!“ ist dafür ideal.




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