- 20. März 2023
Schonungslos und seeehr unterhaltsam: Helena Baumeister zeichnet mit "oh cupid" eine wunderbare Momentaufnahme der Sex-Suche im Internet

Sensation: Die Frau, die mit mir in der Wohnung wohnt, hat über diesen Comic gelacht. Mehrfach. Und ihn weitergelesen, freiwillig. Ich selber auch: mehrfach gelacht. Und weitergelesen, gern. Dabei habe ich zuerst genau dasselbe gedacht wie vermutlich derdieeineoderandere Leser auch: Oooch, Bleistift. Aber: garnicht ooch! Sondern: geil! Muss ja auch: Geht schließlich in Helena Baumeisters „Oh cupid“ um Sex.
Online Dating: Das Ziel ist der Weg
Baumeister erzählt die Geschichte von Helena, Single, zwischen 20 und 30. Helena datet online. Man sieht, wer grade in der Gegend verfügbar ist, textet herum ob man sich mag, dann trifft man sich. Und, Älteren muss man dazusagen: Das ist nicht wie analog Flirten. In Discos sind manche nur zum Tanzen, Leute auf der Dating-Plattform überspringen hingegen einen Schritt und sehen Sex von vornherein als Option. Helena ist schon länger auf der Plattform, wir begleiten sie zum vierten Date.
Eine sanfte Warnung muss dazu, weil weil Helena Baumeisters Stil zunächst unattraktiv wirken kann. Aber: Unbedingt dranbleiben, es lohnt sich! Vor allem wegen der Einblicke in Helenas Innenleben. So fährt Helena per Bahn zum Date und findet das Ticket recht teuer. Mitten in der kribbeligen Vielleichtsex-Stimmung. Und doch kann sie den Sparfuchs nicht ganz abschalten... Kennen Sie das?
Aus zwei Händen werden acht
In der Bahn hübscht Helena sich auf, aus ihren zwei Händen werden acht … Und so geht das weiter: Das Date schlägt zum Kennenlernen eine Mietrad-Tour vor. Baumeister findet Bilder zum wackligen Einfahren und für die ganz normale Überforderung: Helena will fit wirken, geschickt plaudern, nicht zu viel sagen, nicht zu wenig, interessiert aussehen, feststellen, ob es heute schon Sex geben soll, überlegt, ob Sex-Absagen blöd ist, ob er sie ohne Sex ein zweites Mal treffen wird. „Ich nervöses Huhn laber den total voll!“, schimpft sie sich still, und schon radelt ein Huhn gackernd neben dem Typ, der dann komisch schaut, mit drei Köpfen und sechs Augen.
Die Unbehaglichkeit, Unsicherheit, das Fremdschämen, all das spürt man förmlich. Auch dank der überraschenden Bilder: Als Helena entscheidet, dass es (noch) keinen Sex gibt, biegt sie doppelt ab: Ihr Bike knickt in der Kurve in den Rädern zur Seite, sie fährt rechtwinklig weiter, und dann als sie sagt: „Ich komm später nicht mit zu dir!“, sind die Gesichter so lang wie die ganze Seite hoch.
Zähneklappernd zur Zärtlichkeit
Das zweite Treffen läuft besser, Sex steht Helena ins Gesicht geschrieben, sie ist so aufgeregt, dass ihre Zähne klappern, und auch hier passt ihr krakeliger Stil unerwartet gut: Schließlich findet man sich selbst beim ersten Mal auch oft eher krakelig als aufregend. Und genauso passgenau kriegt Baumeister schließlich die Kurve zum großen Danach.
Helena übernachtet bei ihrem Date. Es ist neu, es ist aufregend – und durchzogen von der Sehnsucht nach Geborgenheit. Doch dafür ist die App nicht da: Sie kann den Schritt zum Sex vereinfachen – aber sie entlastet nicht von der bangen Frage: bin ich für ein weiteres Treffen qualifiziert? Oder sogar für etwas Dauerhaftes? Oder ist der ungelenke Abschied zugleich ein Schlussstrich?
Liebesreise ins Ungewisse
Helena Baumeisters „oh cupid“ hat alles, was zu einer Liebesreise ins Ungewisse gehört. Und legt dabei wunderlich einleuchtend nahe, dass sich im Grunde garnichts ändert – und das pflegeleichte Internet nur die Momente der Unsicherheit verschiebt. Die Ängste bleiben – kein Wunder: die sind ja analog.
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- 15. März 2023
Trotz Heavy Metal, Superstars und Wagner – für mich funktionieren diese Comics nicht recht. Doch für Fans könnte es durchaus klappen: Hier kommen die Outtakes!

Trübsal blasen mit der E-Gitarre
Manchmal ist weniger wirklich viel mehr: Die Idee zu „Doomboy“ stammt von einer wundervoll rührenden Kurzgeschichte. Länge: vier Seiten. Junge trifft Mädchen, sie reden nett und verliebt, verabschieden sich, und dann steht da nur der Satz: „Monica starb noch an diesem Nachmittag – sie wurde von einem Lkw überfahren.“ Boff!
Zeichner und Autor Tony Sandoval beschloss, daraus eine Graphic Novel zu machen. Die Pointe, die Trauer, stellt er gleich an den Anfang, und der trauernde Junge beschließt, seinen Kummer mit der E-Gitarre auszuleben. Zufällig geht das übers Radio, der Junge wird zum Heavy Metal-Gott. Länge: einhundertfünfundzwanzig Seiten. Preisfrage: Was klingt für Sie reizvoller?
Genau. Gottseidank gibt’s neben den ansehnlichen Zeichnungen auch noch die originale Kurzgeschichte dazu, hinten, als Bonus.
Supergroup im Standardmodus

Das Problem mit Supergroups: Hohe Erwartungen – Ergebnis nur normal. Damit kämpft auch der neue Band der nun doch nicht abgeschlossenen Comicserie rund um den „Donjon“. Das Szenario kommt, wie immer, von den Comicstars Lewis Trondheim und Joann Sfar. Für „Donjon Monsters - Irgendwo anders“ haben Sfar und Trondheim jetzt Guy Delisle eingeladen, und der ist dank seiner „Aufzeichnungen“ in Jerusalem oder Birma selbst schon eine ziemliche Hausnummer, auch in Deutschland. Fertig ist die Supergroup.

Im Mittelpunkt des Bandes steht diesmal der Friedhof von Terra Amata, der den Vorteil hat, dass man dort mit den Toten sprechen kann. Leider bedrohen Immobilienfirmen den Friedhof und entführen die Geister. All das ist so absurd und unterhaltsam, wie man's im „Donjon“-Universum gewohnt ist, aber die Zutat „Delisle“ sucht man eher vergeblich. Wie soll das auch gehen? Im Donjon geht's dialogstark zu, Delisles Stärke hingegen sind die stillen, lakonischen Momente des Schauens und Staunens. Weshalb der Delisle-Einsatz wirkt, als ließe man Loriot ein paar Heizkörper grundieren.
Die Hand voller Fäden

Reizvoll und leider nur begrenzt unterhaltsam ist „November“ von Matt Fraction und Elsa Charretier. Man kennt das ja: Eine Geschichte beginnt mit einer kruden Szene, die sich nach und nach aufklärt und uns in die Handlung hineinzieht. Fractions Krimi hingegen liefert nach der kruden Szene eine weitere krude Szene und dann noch eine, bis man die ganze Hand voller loser Fäden hat. Und sobald er einen dieser Fäden wieder aufnimmt, muss man zurückblättern, weil man nicht mehr weiß, was vorher eigentlich los war. Schade ist das vor allem für die schön reduziert gezeichneten Panels von Elsa Charretier, für die ich Band 2 gerne noch eine Chance geben würde. Wenn ich mich bis dahin noch erinnern kann, worum’s ging.
Wagner ohne Sound

Das hier ist was für Wagner-Fans, aber davon gibt’s ja einige – wenn Sie dazugehören: bitte sehr. Ansonsten ist der „Ring“ eine weitere eher mäßig funktionierende Comic-Musikumsetzung. Was nicht überrascht: Die Stärke von Opern ist ja nicht die muntere Handlung oder der gewitzte Dialog, sondern die musikalische Illustration von Szenen, Konflikten, Emotionen. Weshalb Wagners „Ring“ bislang auch eher selten als Stummfilm angeboten wird. Auch der Comic muss die vielgerühmte Musik weglassen – da sollte der Rest dann schon verdammt gut sein. Womit also füllt P. Craig Russell die weggefallene Arienzeit? Mit Breittreten und redundanten Bildern von nordischen Gestalten marktüblichen Zuschnitts.
Dabei könnte das Nibelungen-Thema sehr wohl und immer wieder einen guten Comic ergeben. Der Umweg über den „Ring“ gehört aber eher in den Wagner-Fan-Shop und ist dem Comic wenig hilfreich: Wer den Kennedy-Mord schildern will, nimmt als Textvorlage schließlich auch nicht Saxons alte Hardrock-Hymne „Dallas 1 p.m.“
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- 8. März 2023
Grandios gezeichnet, raffiniert inszeniert, Action bis zum Herzkasper: Die Fantasy-Serie „Klaw“ ist richtig, richtig gut - und findet in Deutschland keinen Verleger

Ich versteh’s nicht. Null. Dieser Comic hat alles, einfach alles für einen richtigen Bestseller. Er sieht geil aus und zugleich anspruchsvoll. Er hat eine eigenständige Geschichte, traumschöne Actionszenen, ist knallbunt und aufregend. Man muss sich auch nicht lang reinfinden, die Story explodiert schon auf Seite 3. Und sie ist keine Eintagsfliege, es gibt inzwischen zwölf Bände. In Frankreich, in Italien, in England und den USA.
Aber nicht in Deutschland.
Der Comic heißt: Klaw.
Neuer Mix mit vertrauten Elementen
Die Handlung ist ein Highlander-Superheldenmix, die besondere Zutat sind: Tiere. Wir lernen den Jungen Angelo kennen, genannt Angel, er ist Sohn eines Mafiabosses (was er aber nicht weiß). Eines Tages wird Angelo von Mitschülern verprügelt und verwandelt sich in seiner Not in sowas wie eine Mischung aus Hulk und Werwolf, einen Wer-Tiger. Schon dieser ersten vier Seiten sind fantastisch.

Seite 1: Schulalltag. Große Pause im Treppenhaus. Lauter Schüler, und jeder einzelne bewegt sich superecht, redet mit anderen, hat so viel Eigenleben, dass die Schule vor Lärm und Leben nur so brummt. Angel sieht seine Gegner, flieht in den Keller.
Seite 2: Der Fluchtweg - eine Sackgasse!
Seite 3: Angel wird verhauen. Eine Konkurrenzbande trifft ein. Und während beide Gangs streiten, wer das Opfer kriegt, setzt die Verwandlung ein.
Seite 4: Der Tiger. Und was für einer!
Bud Spencers Brummen wird zum Zirpen
Menschliche Gestalt, enorme Athletik, zweieinhalb Meter hoch, mit Tigerfell und einem derart bedrohlicher Kopf, dass man sich verkriechen möchte. Er trägt noch Angels Hose, hinten ringelt sich ein langer Schwanz heraus. Und wenn er spricht, klingt Bud Spencers Stimme wie ein Zirpen.

Der Tiger sieht nicht nur hammermäßig aus, Zeichner Joël Jurion setzt ihn auch hammermäßig in Szene. Wie er ihn aus einer Geistwolke auftauchen lässt, wie er durch geschickte Blickwinkel den gigantischen Tiger aufragen lässt, wie er Action und Wirkung gegeneinander schneidet, das wirkt genau so großartig wie gedacht.
Grell und explosiv: Angels erstes Mal
Auf Seite fünf spielt er erstmals mit den Panelformaten, mal thront der ganze Tiger auf seinem Opfer und brüllt, dass man vom Hinschauen taub wird. Dann: Die Tigerfaust vor dem Zuschlagen! Der Tiger klein, weil: vorne ganz groß die entsetzten Kinderaugen! Dann nur noch der aufgerissene Kindermund klein, weil sich davor die Kinderfinger verkrampft in den Boden krallen, und davor sind die Rillen, die diese verzweifelten Finger im Boden hinterlassen. Ende der Szene: Angels lakonischer Satz: „Das war das erste Mal, dass ich mich in einen Tiger verwandelte.“

Die Kinder werden natürlich nicht aufgefressen. Sie beschweren sich beim Rektor und keiner glaubt ihnen, aber so erfahren wir von Angels Gabe, mit der er danach natürlich viel angemessenere Gegner bekämpfen wird. Der Tiger ist ein Dizhi, ein Totem, das sich seit uralten Zeiten immer wieder einen menschlichen Wirt sucht. Es gibt nicht nur einen Dizhi, sondern zwölf, und das sind nicht alles Tiger, sondern es gibt auch die Ratte oder das Pferd oder das Kaninchen. Alle haben unterschiedliche Eigenschaften, und ihre Wirte sind nicht immer nett, freundlich oder auch nur Kinder. Aus diesen Zutaten entwerfen Jurion und sein Szenarist Antoine Ozanam eine atemberaubende Sage mit immer neuen Verwicklungen und irrsinnigen Zweikämpfen, denn wer einen Dizhi tötet, kann dessen Totemtier und seine Fähigkeiten highlandermäßig in sich aufnehmen.

Und daher meine Ratlosigkeit: Die Geschichte ist einerseits vertraut, aber optisch ungewohnt und aufregend, dabei aber mit einem leichten Mangatouch gefällig gewürzt. Immer neue Wendungen vermischen Freund und Feind wie in einer erstklassigen Mystery-Serie, und die Dynamik ist vorbildlich: Das Verwandlungselement darf ja nicht zu oft erscheinen, damit es immer wieder ein Höhepunkt ist, und wie Ozanam hier geschickt das Tempo rausnimmt und verzögert, ist der Zeichenkunst von Jurion ebenbürtig. „Klaw“ ist exzellentes Handwerk im Dienst von purem Entertainment. „Klaw“ könnte sooo viel schlechter sein, ist aber sooo viel besser. Und das größte Rätsel von allen: Autor Antoine Ozanam ist nicht meine supermühsame Entdeckung.
Top-Handwerk, pures Entertainment
„Klaw“ erscheint in Frankreich bei Dargaud, das ist keine Miniklitsche, sondern der Laden, der Asterix verlegt. Antoine Ozanam hat auch bereits bei zwei namhaften deutschen Verlagen veröffentlicht: „Burn Out“(avant-verlag) und „Dschingis Khan“ (Splitter). Die sagen also sicher nicht: „Antoine wer?“ Und Ozanam hat sicher auch nicht beschlossen, „Klaw“ geheim zu halten.
Soeben ist der vierte Sammelband auf englisch erschienen. Tja, und jetzt die Frage: Bin ich der Einzige, der das für so toll hält? Liege ich wirklich so komplett daneben? Funktionieren magische Viecher nur in der richtigen Schule, aber nicht im Actionsegment? Weiß ich tatsächlich nicht, wie kommerziell ansprechende Supertier-Battles aussehen müssen? Bilde ich mir das alles womöglich nur ein? Finden Sie's raus!
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