- 24. Feb. 2024
Verständnis wecken, kurz und knapp: Das gut gemachte Webprojekt „Wie geht es dir“ vermittelt im Nahost-Konflikt

Heute gibt’s mal wieder was Kostenloses. Und politisch Interessantes, Brisantes, aber in jedem Fall: Sehens- und Lesenswertes. Nämlich die Netzseite „Wie geht es dir“, die nach dem 7. Oktober online ging – wie man am Datum sieht, geht's um die aktuelle Entwicklung im Nahostkonflikt. Einmal pro Woche fabrizieren deutsche Comic-Künstler aus einem Gespräch mit Konflikt-Betroffenen eine Seite, elf Stück sind schon zusammengekommen. Vieles daran ist gut, aber mit zum Besten gehört schon mal: die Einleitung.
Gelungene Gewichtung
„Der grauenhafte Überfall der Hamas auf Israel … und das entsetzliche Leid, das die anhaltenden Angriffe des israelischen Militärs … über die Menschen bringen, machen uns fassungslos.“ Da ist schon mal in selten gelungener Gewichtung alles drin: Wer die jüngste Eskalation ausgelöst hat. Wer derart zurückschlägt, dass man es kaum noch angemessen finden kann. Und die Fassungslosigkeit, die wohl jeden packt, der den Irrsinn verfolgt. Unterfüttert von der endlosen Vorgeschichte, die nur eine Erzählrichtung kennt: schlimmer.

Die eigentliche Herausforderung des Projektes besteht allerdings darin, diesem Anspruch gerecht zu werden. Sonst drohen die Beiträge so fade zu werden wie der über die Erlanger „Initiative kritisches Gedenken“. Und auch die Befragung des Historikers Andreas Brämer, der den aufwallenden Antisemitismus und seinen Kampf dagegen schildert, ist reichlich erwartbar. Könnte aber auch an der Auswahl der Gesprächsteilnehmer liegen: Birgit Weyhe gelang etwa ein viel spannenderer Griff.
Manche haben mehr zu sagen
Weyhe befragt die Halb-Libanesin Andrea Karime. Die sagt deutlich, was im Grunde jeder beobachtet: „Je nachdem, mit wem ich mich unterhielt, war Empathie nur für eine Seite erlaubt, Israel oder Palästina. Dabei ist alles gleichzeitig furchtbar.“ Und so erzählt Karime, wie Bekannte (wegen ihres arabischen Vaters) ihr häufig im Zu-kurz-Schluss Sympathie für die Hamas unterstellen. Wie soll man damit umgehen, wenn man nur eine Seite bedauern darf? Plötzlich fühlt sie sich unter Generalverdacht, spürt, wie sie als Deutsche wieder zur fragwürdigen Araberin wird – und ist damit ganz nah bei der jüdischen Tante von Zeichnerin Hannah Brinkmann.

Die stammt aus Israel, sah sich aber stets als Israeli unter Israelis und eben nicht als Jüdin – sie war endlich die Sonderrolle los. Jetzt, in London lebend, stellt sie fest, dass sie wieder bei den Juden einsortiert wird. Auch bei ihr zerfällt der Traum von der Normalität. Bemerkenswert: Dieselbe Tante registriert enttäuscht, dass nach dem Hamas-Attentat zwar viele Bekannte besorgt anrufen, aber nur wenige aus Deutschland. Also aus dem Land, das selbst so gern „normal“ wäre. Und an das die Israeli jetzt ihrerseits spezielle Erwartungen richtet. Brinkmann kommentiert das nicht, sie gibt es zum Begrübeln frei.
Schwimmen gegen die Wut und den Strom
Auch sehr elegant: Die beiden Beiträge von Barbara Yelin. Im ersten greift sie naheliegender Weise auf ihre Kooperation mit der Holocaustüberlebenden Emmie Arbel zurück, die resigniert dem Frieden Priorität vor dem Zuhause einräumt. Yelins zweiter Beitrag widmet sich einer gebürtigen Araberin, die mit elf nach Deutschland kam – der Autorin Rasha Khayat. Die macht es schier wahnsinnig, dass sie seit Jahren für eine pluralistische Gesellschaft schreibt und sieht, wie ihre Arbeit durch das Hassgeplapper in den sozialen Netzwerken weggespült wird. Yelin zeigt sie beim Schwimmen, wie sie mühsam Bahn um Bahn versucht wieder runterzukommen.

Generell ist das Projekt geschickt gemacht: Kein endloser Sums, eine knackige Seite pro Woche, die auch mal eingängig reduziert werden kann wie beim piktografischen Beitrag von Thomas Gilke. Der Einleitung gemäß wären mehr reflektierte palästinensisch-muslimische Gesprächspartner schön, vor allem, weil deren Perspektive hier noch immer ungewohnter ist – aber das kann ja noch kommen. Auffallend ist hingegen jetzt schon, was den Interviewten fast durchgehend fehlt: Überraschung.
So schlimmer wie immer
Nur mal zur Erinnerung: Es gab die grausigen, extrabrutal inszenierten Anschläge, es läuft ein Rachefeldzug, der zigmal mehr Opfer fordert und diese inzwischen beinahe ebenso gleichgültig auswählt. Und all die befragten Menschen sind enttäuscht, frustriert, schockiert, über Ausführung und Ausmaß, aber kein einziger ist überrascht. Warum sollten sie es auch sein? Weil irgendwas diesmal noch schlimmer ist als vorher? Wen sollte das überraschen?
Und das ist denn auch das Einzige, was man dem Projekt, das vor allem Verständnis wecken möchte, (noch) wünschen würde: eine Perspektive, eine Folgerung. Um der drohenden Hoffnungslosigkeit wenigstens ein bisschen Hoffnung hinzuzufügen.
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- 18. Feb. 2024
Fern-Trips sind klimaschädlich? Mit Emmanuel Lepages Bildern wird „Die Reise zum Kerguelen-Archipel“ zur Nah-Erholung

Lust auf Urlaub, aber keine Zeit? Lust auf Ganzweitweg, aber Klimasorgen? Da hätte ich was. Wenn der Urlaub etwas abenteuerlicher sein darf: Mir ist nämlich Emmanuel Lepages „Reise zum Kerguelen-Archipel“ aus dem Jahre 2012 in die Hände gefallen. Und auf diesen 150 Seiten kommen Lepages Stärken weit besser zur Geltung als in seiner mehr sehens- als lesenswerten Reportage „Frühling in Tschernobyl“.
Réunion – und dann ganz weit runter
Grob sortiert ist beides Comic-Journalismus, aber: Lepage ist kein Enthüllungsreporter, was beim brisanteren Thema „Tschernobyl“ ungünstig war. Bei den Kerguelen ist das anders: Die gehören zu Frankreich und liegen an einem der vielen Ärsche der Welt, sehr weit südöstlich der Südspitze von Afrika im Indischen Ozean, schon ziemlich nahe an der Antarktis. Frankreich betreibt dort eher skandalfreie Forschungsstationen. Weshalb es da mehr zu erleben gibt und weniger zu enthüllen.

Schon der Weg dorthin ist umständlich. Man fliegt nach La Réunion und besteigt dort die „Marion Dufresne“, ein Spezialschiff, das Treibstoff und Vorräte zu den 2000 Kilometer entfernten Inseln transportiert, aber auch zu Forschungszwecken dient. Theoretisch ist das also das Idealversteck für Dr. Mabuse, tatsächlich forscht man dort zu Geologie, Wetter und anderen so harmlosen Dingen, dass man auch ein paar Laien mitnehmen kann. Vor Lepage liegt also kein Investigativ-Trip, sondern sowas wie Hurtigruten extrem. Aber das ist wie für ihn gemacht.
Normale Leute als Härtetest
Der heimliche Star des Bandes ist natürlich das Schiff, die „Marion Dufresne“. Die erste Begegnung, der riesige Rumpf, das Schiff nachts im Hafen im Mondlicht. Aber das wirkt eben nur, wenn man den Star nicht totzeichnet. Was reicht man also dazu? Die Menschen, die Crew an Bord, sich selbst akkurat und realistisch. Zuviel Bauch, zu wenig Haare, ein paar schiefe Zähne, lauter normale Leute. Stille Porträts mit Gruppenbesprechungen, es dauert nicht lang, da fühlt man sich als würde man mitreisen. Ab da beginnt der Härtetest.

Denn so aufregend Seereisen klingen, so oft droht Langweile. Lepage zeigt die Tätigkeiten der Crew (Schläuche ausbessern), den Maschinenraum, die Rohre im schicken Halbdunkel, das Bordhandwerk, all das so, dass man das Schmieröl riecht. Er zeichnet viel in schwarz-weiß, um dann immer wieder mit üppigen Farben zu betonen und zu belohnen. Und er nutzt sein Talent zur Bildregie: Schiff allein ist öd, also zeigt er den Blick vom Bug aufs Schiff, die grellweißen Aufbauten, die blaue See und die Gischt, die seitlich über die Reling spritzt, praktisch ins Gesicht. Den Gegenschnitt: Sich im Stuhl, den Rücken zur See, das enorme Heben, das brachiale Senken, den Aufprall, wenn der Bug des Zehntausendtonners zurück in die See klatscht. Dann sich selbst, seekrank in der Koje: „Ich habe 15 Minuten durchgehalten“.
Technik: Inzeniert statt nur gezeigt
Überhaupt weiß Lepage, dass Technik besser wirkt, wenn man sie nicht nur zeigt, sondern auch inszeniert. Aus dem Aus- und Einladen bei ungünstigstem Wetter erstellt er geschickt fesselnde Actionsequenzen. Und Hubschrauber lässt er richtig gut aussehen: Da sitzt jede Einstellung, der Winkel im Anflug, die Landschaft darunter.

Apropos. Die Landschaften. Die Tiere. Die Einsiedlerkrebse. Die Pinguine. Die Seekühe. Wale. Auf gigantischen farbigen Doppelseiten, gut platziert nach stilleren Panels, die Ruhephasen an Bord fühlbar machen. Dazwischen macht Lepage Ausflüge ins Historische, mit den Segelschiffen des Entdeckers Yves Joseph de Kerguelen, den zerfallenden Fabriken für Walöl und Dosenlangusten. Man sitzt bequem auf dem Sofa und ist erstaunlich gut dabei. Die Fahrt ließe sich übrigens offenbar auch tatsächlich buchen – aber dennoch ist der Band keine teure Werbebroschüre.
Nachhaltiger Comic-Trip
Denn erstens hat man nicht unbedingt 9000 Euro zur Hand. Und zweitens gibt’s auf der „Marion Dufresne“ nur acht bis zwölf Plätze, weil die Hauptsache ja Transport und Forschung sind. Bedeutet: Pro Jahr können das rund 30 Leute mitmachen. Was auch erklären würde, warum die Buchung so mühsam zu finden ist: Das Ganze ist nicht als Business gedacht, man will auch weitere invasive Arten auf den Inseln vermeiden. Was den Comic doppelt nachhaltig macht.
Emmanuel Lepage, Tanja Krämling (Üs.), Die Reise zum Kerguelen-Archipel, Splitter Verlag, 29,80 Euro
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- 11. Feb. 2024
Etwas Vergangenheit, etwas Englisch: Diese Zutaten sind Ihr Ticket zum wohlig-warmen Eintauchen in Seths neuen Nostalgie-Pool

Es gibt Neues von Kanadas bestem Kummerbund: Seth! Nämlich „Palookaville 24“! Ich war von der ersten Seite an sofort gerührt, wieder mal, aber ich ahne auch: Das geht wahrscheinlich nicht allen so. Deshalb, je nach Veranlagung, eine kleine Vorwarnung – oder eine dringliche Empfehlung.
Sensibler Suchtfaktor
Streiten kann man etwa über seinen cartoonig reduzierten Stil, der immer wirkt wie Familie Feuerstein in schwarz-weiß mit Ergänzungsfarbe. Das sieht so freundlich, so harmlos aus, dass man es auch als banal abtun kann. Seine laaangsame Art zu erzählen. Kann man für laaangweilig halten. Und dieser wehmütige Grundton. Gibt sicher einige, die Seth für eine Spaßbremse halten. Aber je älter Sie sind, desto eher rate ich: geben Sie ihm eine Chance. Wenn Sie ein bisschen Englisch können, denn von Seth gibt es einiges auf deutsch, die Reihe „Palookaville“ leider nicht.

Was daran liegt, dass sie weder Comicheft noch Graphic Novel noch sonstwie schubladisierbar ist. „Palookaville“ ist ein fortlaufender, unregelmäßiger Einblick in die Arbeit des 61-jährigen Kanadiers, der eigentlich Gregory Gallant heißt. Die Einzelteile seiner Graphic Novel „Clyde Fans“ (gibt's deutsch) hat er in diesen Bänden veröffentlicht, genauso macht er es jetzt mit „Nothing Lasts“, seinen Jugenderinnerungen. In Band 24 geht’s um einen Ferienjob in einem Fischlokal am See. Und eine typische Seth-Seite sieht dabei so aus: Aufgeteilt in 20 gleich kleine Panels, fünf Reihen zu je vier Stück.
Hypnotisches Erzähltempo
Der Sprechtext läuft gleichmäßig über die einfachen Zeichnungen: ein Haus, ein Gesicht, ein Gegenstand. Manchmal trennt Seth auch ein großes Panel in viele Einheiten, als hielte er ein weißes Gitter vors Bild. Auch hier läuft der sparsame Text gleichmäßig drüber, was ein geradezu hypnotisches Erzähltempo ergibt. Und was erzählt er?

Normales. Wem das Fischlokal gehörte, warum er dort arbeitete (wegen einer Dierdre, die dort ebenfalls jobbte). Was sein Job war, wie das Gebäude aussah, die Geräusche, die Stimmung. Wer dort abends auftrat. Wie er sich vom Spüler zum Koch hocharbeitet, mal getadelt, mal gelobt. Wie er die Geborgenheit der festen Abläufe schätzt. Erstaunlich ist, wie schnell der Kopf anfängt, Seths Fischlokal in Echtzeit in eigene Ferienjobs zu übersetzen. Bei mir: Eine Druckerei, Spätschicht, Sommer 1986, nach acht lähmenden Stunden mit einem Automaten-Bier auf dem Dach sitzend, mit dem Blick in die warme Nacht. Und obwohl es sich damals anders anfühlte, denkt man heute: war eine gute Zeit. Wie macht Seth das nur?
Seth triggert Erinnerungen
Mit Symbolen. Die schlichten Zeichnungen sind zugleich präzise und doch so generalisiert, dass sie eigene Erinnerungen triggern. Wie bei der Doppelseite voller Gegenstände. Das Auto, das er damals gern fuhr, ersetzt ein Duftbaum, ein altmodischer Zeigertacho, der Zündschlüssel. Er zeigt einzelne Handgriffe des Spülens. Inszeniert geschickt leere Orte: Eine alte Scheune oder die Küche, in die ein Lichtstrahl fällt. Bäume in der Nacht. Menschenleere, Details, Zooms bremsen den Betrachter so sehr, dass der Eindruck entsteht, man könne mit Seth dorthin zurückkehren, sogar überall hin zurückkehren, für einen verzauberten Augenblick. So kompakt Text und Bild auch wirken, die Langsamkeit lässt Luft und Platz für eigene Gedanken. Bis das Auge selbst den Staub, die Patina ergänzt, bis das Ohr zirpende Grillen ins nächtliche Panorama mixt.

Wer das lieben gelernt hat, bekommt kaum genug davon. Und erhält in „Palookaville 24“ zusätzlich einen besonderen Einblick in Seths sehr wohl vorhandenen, stillen Witz. Eine DVD ist beigelegt, mit einem Kurzfilm, der zeigt, dass Seth seine Nostalgie-SlowMo auch komisch einsetzt. So hat er für einen Band bereits den absurden Comicsammler Wimbledon Green erfunden, oder die Bruderschaft der kanadischen Comiczeichner, samt Vereinsheim. Jetzt fabuliert er vom fiktiven Zeichner Albert Batch.
Die erfundene Karriere
Und das tut er gründlich: Er erfindet Batchs Zeitungscomic-Serie „Trout Haven“ samt ihren Hauptprotagonisten, zwei Forellenanglern. Er entwickelt als Hommage an zahlreiche reale Strips auch die „Trout Haven“-Nebenrollen, vom Ortspfarrer über den Polizisten zum Postboten und zum heimlichen Star der Serie, dem Dorfdepp. All das erzählt er im Film mit einem rührend halbdilettantisch gebastelten Puppentheater, das auch das letzte Zimmer des gealterten, verarmten Zeichners zeigt. Sein Sofa, den Plattenspieler, Bücher. Und dann zeigt Seth den letzten Strip, drei der vier Panels sind bereits gezeichnet, es fehlt nur noch der Text, das letzte Panel – bleibt leer. Und als Sahnehäubchen gibt's die Sterbeszene, in der dem alten Mann dämmert, wie er seinen Strip viel besser hätte machen können... Grandioser, liebenswerter Unfug von einem Comicfan, Sammler, Alltagsphilosoph, der selbst stets im Dreiteiler mit Hut auftritt. Altmodisch, bescheiden, jemand, der Zigaretten noch aus einem Etui holt, ein antiquarisches Gegenstück zum dandyhaften Tom Wolfe.

Man kann Seth als einsteigerfreundliches Gesamtkunstwerk verstehen: Seine Nostalgie ist jederzeit zugänglich, es gibt keine Handlung, die man aus den vorherigen Bänden kennen müsste. Es gibt (wahrscheinlich) nur eine einzige Empfehlung: Man sollte so alt sein, dass man schon was vermissen kann.
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