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Schmerzlich schön

Etwas Vergangenheit, etwas Englisch: Diese Zutaten sind Ihr Ticket zum wohlig-warmen Eintauchen in Seths neuen Nostalgie-Pool

Illustration: Seth - Drawn & Quarterly

Es gibt Neues von Kanadas bestem Kummerbund: Seth! Nämlich „Palookaville 24“! Ich war von der ersten Seite an sofort gerührt, wieder mal, aber ich ahne auch: Das geht wahrscheinlich nicht allen so. Deshalb, je nach Veranlagung, eine kleine Vorwarnung – oder eine dringliche Empfehlung.


Sensibler Suchtfaktor


Streiten kann man etwa über seinen cartoonig reduzierten Stil, der immer wirkt wie Familie Feuerstein in schwarz-weiß mit Ergänzungsfarbe. Das sieht so freundlich, so harmlos aus, dass man es auch als banal abtun kann. Seine laaangsame Art zu erzählen. Kann man für laaangweilig halten. Und dieser wehmütige Grundton. Gibt sicher einige, die Seth für eine Spaßbremse halten. Aber je älter Sie sind, desto eher rate ich: geben Sie ihm eine Chance. Wenn Sie ein bisschen Englisch können, denn von Seth gibt es einiges auf deutsch, die Reihe „Palookaville“ leider nicht.

Illustration: Seth - Drawn & Quarterly

Was daran liegt, dass sie weder Comicheft noch Graphic Novel noch sonstwie schubladisierbar ist. „Palookaville“ ist ein fortlaufender, unregelmäßiger Einblick in die Arbeit des 61-jährigen Kanadiers, der eigentlich Gregory Gallant heißt. Die Einzelteile seiner Graphic Novel „Clyde Fans“ (gibt's deutsch) hat er in diesen Bänden veröffentlicht, genauso macht er es jetzt mit „Nothing Lasts“, seinen Jugenderinnerungen. In Band 24 geht’s um einen Ferienjob in einem Fischlokal am See. Und eine typische Seth-Seite sieht dabei so aus: Aufgeteilt in 20 gleich kleine Panels, fünf Reihen zu je vier Stück.


Hypnotisches Erzähltempo


Der Sprechtext läuft gleichmäßig über die einfachen Zeichnungen: ein Haus, ein Gesicht, ein Gegenstand. Manchmal trennt Seth auch ein großes Panel in viele Einheiten, als hielte er ein weißes Gitter vors Bild. Auch hier läuft der sparsame Text gleichmäßig drüber, was ein geradezu hypnotisches Erzähltempo ergibt. Und was erzählt er?

Illustration: Seth - Drawn & Quarterly

Normales. Wem das Fischlokal gehörte, warum er dort arbeitete (wegen einer Dierdre, die dort ebenfalls jobbte). Was sein Job war, wie das Gebäude aussah, die Geräusche, die Stimmung. Wer dort abends auftrat. Wie er sich vom Spüler zum Koch hocharbeitet, mal getadelt, mal gelobt. Wie er die Geborgenheit der festen Abläufe schätzt. Erstaunlich ist, wie schnell der Kopf anfängt, Seths Fischlokal in Echtzeit in eigene Ferienjobs zu übersetzen. Bei mir: Eine Druckerei, Spätschicht, Sommer 1986, nach acht lähmenden Stunden mit einem Automaten-Bier auf dem Dach sitzend, mit dem Blick in die warme Nacht. Und obwohl es sich damals anders anfühlte, denkt man heute: war eine gute Zeit. Wie macht Seth das nur?


Seth triggert Erinnerungen


Mit Symbolen. Die schlichten Zeichnungen sind zugleich präzise und doch so generalisiert, dass sie eigene Erinnerungen triggern. Wie bei der Doppelseite voller Gegenstände. Das Auto, das er damals gern fuhr, ersetzt ein Duftbaum, ein altmodischer Zeigertacho, der Zündschlüssel. Er zeigt einzelne Handgriffe des Spülens. Inszeniert geschickt leere Orte: Eine alte Scheune oder die Küche, in die ein Lichtstrahl fällt. Bäume in der Nacht. Menschenleere, Details, Zooms bremsen den Betrachter so sehr, dass der Eindruck entsteht, man könne mit Seth dorthin zurückkehren, sogar überall hin zurückkehren, für einen verzauberten Augenblick. So kompakt Text und Bild auch wirken, die Langsamkeit lässt Luft und Platz für eigene Gedanken. Bis das Auge selbst den Staub, die Patina ergänzt, bis das Ohr zirpende Grillen ins nächtliche Panorama mixt.

Illustration: Seth - Drawn & Quarterly

Wer das lieben gelernt hat, bekommt kaum genug davon. Und erhält in „Palookaville 24“ zusätzlich einen besonderen Einblick in Seths sehr wohl vorhandenen, stillen Witz. Eine DVD ist beigelegt, mit einem Kurzfilm, der zeigt, dass Seth seine Nostalgie-SlowMo auch komisch einsetzt. So hat er für einen Band bereits den absurden Comicsammler Wimbledon Green erfunden, oder die Bruderschaft der kanadischen Comiczeichner, samt Vereinsheim. Jetzt fabuliert er vom fiktiven Zeichner Albert Batch.


Die erfundene Karriere


Und das tut er gründlich: Er erfindet Batchs Zeitungscomic-Serie „Trout Haven“ samt ihren Hauptprotagonisten, zwei Forellenanglern. Er entwickelt als Hommage an zahlreiche reale Strips auch die „Trout Haven“-Nebenrollen, vom Ortspfarrer über den Polizisten zum Postboten und zum heimlichen Star der Serie, dem Dorfdepp. All das erzählt er im Film mit einem rührend halbdilettantisch gebastelten Puppentheater, das auch das letzte Zimmer des gealterten, verarmten Zeichners zeigt. Sein Sofa, den Plattenspieler, Bücher. Und dann zeigt Seth den letzten Strip, drei der vier Panels sind bereits gezeichnet, es fehlt nur noch der Text, das letzte Panel – bleibt leer. Und als Sahnehäubchen gibt's die Sterbeszene, in der dem alten Mann dämmert, wie er seinen Strip viel besser hätte machen können... Grandioser, liebenswerter Unfug von einem Comicfan, Sammler, Alltagsphilosoph, der selbst stets im Dreiteiler mit Hut auftritt. Altmodisch, bescheiden, jemand, der Zigaretten noch aus einem Etui holt, ein antiquarisches Gegenstück zum dandyhaften Tom Wolfe.

NOSTALGIKER IN SCHÖNEM LICHT: SETH Foto: Luc Chamberland

Man kann Seth als einsteigerfreundliches Gesamtkunstwerk verstehen: Seine Nostalgie ist jederzeit zugänglich, es gibt keine Handlung, die man aus den vorherigen Bänden kennen müsste. Es gibt (wahrscheinlich) nur eine einzige Empfehlung: Man sollte so alt sein, dass man schon was vermissen kann.




 



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