- 3. Aug. 2024
In Lena Steffingers beklemmend-bunter Parabel „Alles Gute“ erwartet ein bizarres Urlaubsparadies gutgelaunt die kommende Katastrophe

Merkwürdig. Denkwürdig. Dabei sieht „Alles Gute“ gar nicht so aus. Sondern viel mehr wie ein weiterer, prinzipiell gutartiger Comic aus dem gleichfalls prinzipiell recht gutartigen Jaja-Verlag. Buntstiftig gezeichnet, knallige Farben, Blümchen, alles wirkt so harmlos, dass man’s sofort gelangweilt weglegen möchte. Wäre aber ein großer Fehler. Und das erste Indiz dafür ist, wie Lena Steffinger ihre Geschichte verseltsamt.
Warten auf die Besuchung
Eine junge Frau fährt in einen Ort am Meer, die Gegend ist hübsch, sonnig, naja, die Blumen sind ein bisschen groß (ist mir anfangs garnicht aufgefallen bzw. ich hab's für ein Stilmittel gehalten). Und das Ortsschild sagt: „Paradisen. Mehr als Sie je erträumen werden.“ Was irgendwie ungelenk klingt, aber was soll‘s. Kurz darauf trifft die Frau eine andere junge Frau. Sie wird die Andere offenbar ablösen, der Job ist wohl nicht ganz unproblematisch, denn die Andere sagt: „Wird schon gut gehen, die letzte Besuchung war recht mild.“ Hä? Besuchung?

Was ist eine Besuchung? Und wenn die auch unmild sein kann, warum fährt man dann da überhaupt hin? Wie Steffinger ab jetzt mit all diesen Fragen spielt, ist mit jeder Seite eine immer hellere Freude. Die junge Frau wird das Sorgentelefon des Ortes betreuen. Als Ortsfremde, die völlig neu angekommen ist? Sie wird ein Katastrophen-Kit bekommen, und alle werden ihr sagen, wie brutal hart ihr Job sein wird. Aber tatsächlich wird sie in einem vollverglasten Büro über der Stadt thronen, in dem keine Sau anruft.
Ungenutzte Kummernummer
Ich sag’s gleich: Wenn Sie’s lieber präzise mögen, wird das kein schönes Lesen für Sie. Aber wenn Sie’s kafkaesk mögen, ist „Alles Gute“ einfach grandios. Die „Besuchungen“ sind offenbar Katastrophen, die den Ort alle sieben Jahre heimsuchen. Sie sind jedes Mal anders, sie sind zugleich Bedrohung, aber auch Touristenattraktion, und je näher das Datum rückt, desto mehr wird gerätselt, was es wohl diesmal sein könnte. Es ist eine eigenwillige Form von sorgloser Lustangst, die den Ort erfüllt, den wunderlicher Weise auch niemand verlässt.

Verraten will ich nicht all zu viel, man kann’s auch bei diesem Rätsel belassen – aber man kann selbstverständlich auch ins Symbolische abdriften, sobald man den Eindruck hat, dass es einem womöglich bekannt vorkommt, wie Leute sehenden Auges in eine Katastrophe gleiten. Steffinger ließ sich von der Corona-Pandemie inspirieren, aber herausgekommen ist etwas wesentlich breiter Deutbares. Das einen auch deshalb so beklommen macht, weil es eben nicht in den handelsüblich Finsterfarben daherkommt, sondern so leuchtend sonnig, mit grünen Parks, freundlichen Menschen, interessanten Häusern und weitestgehend schurkenfrei. Ich würde da jederzeit Urlaub machen, aber natürlich nicht, wenn ich mit Besuchungen rechnen muss.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
- 27. Juli 2024
Bittertrüb, hässlich und perspektivlos kriminell: So wie im Comic „Der Schleuser“ haben Sie die Lagunenstadt garantiert noch nicht gesehen

Es dauert noch ein bisschen, bis der neue Gipi erscheint, aber bis dahin empfehle ich Ihnen schon mal eine vergleichbar erstklassige Gangsterchenballade. Sie heißt „Der Schleuser“, ist von Christophe Dabitch und Piero Macola, und – bitte? Sie wissen nicht, was eine Gangsterchenballade ist? Das müssen wir ändern. Dringend!
Abgehängter Touristentraum
Dass Sie‘s nicht kennen ist okay, das Genre ist brandneu, ich hab’s grad erfunden: Es geht dabei um Jungs irgendwo zwischen 14 und 17, die sich erwachsen fühlen, es aber nicht sind. Die Eltern sind eher arm, abwesend, arbeiten oder saufen, die Jungs machen kleinkriminellen Quatsch, meist in abgehängten Gegenden. Diesmal etwa in Venedig. Wobei, hm: Ist denn Venedig überhaupt abgehängt?

Das ist überhaupt eine der Entdeckungen dieses Comics: ein Venedig, das kaum jemand kennt. Paolo sucht seinen verschwundenen Vater, der als Fischer in der trüben Lagune arbeitet. Und so klappert Paolo alle möglichen Verstecke ab, die Inseln, die Fischgründe neben den Fabriken, Vaters Stammnutte. Nebenher versucht er, mit seinen drei Freunden zu Geld zu kommen: Sie verkaufen für Drogenhändler rosa Pillen, müssen aber feststellen, dass jemand ihr Versteck geplündert hat – jetzt haben sie keine Ware mehr und sind verschuldet. Bei Leuten, die keinen Spaß verstehen. Und auf Paolos Spuren sehen wir ein Venedig, das Touristen meistens entgeht.
Leere Gassen, die's wirklich gibt
Herbstlich ungemütlich ist es da. Wir sehen die Werften und abgelegenen, heruntergekommenen Schuppen. Die illegalen Arbeiter in panischer Angst vor Polizeikontrollen. Die Menschenschmuggler. All das gibt es tatsächlich: Wer sich Venedig von der Festlandsstadt Mestre oder (wie ich selber grade eben) per Fahrrad über die Laguneninseln nähert, sieht mitunter erstaunliche Hässlichkeit. Das von Pfostenpyramiden gesäumte Wasser wirkt mitunter so trüb, dass man kaum glauben mag, dass etwas darin lebt. Und auch die leeren Gassen, die der Comic für eine einsame Verfolgungsjagd nutzt, existieren wirklich.

Während sich auf den Passantenhighways zu den Hotspots die Touristen samt Rollkoffern gegenseitig halb tottreten, ist nur wenige Ecken weiter kein Mensch mehr zu sehen. Wo kein Selfie mit Wiedererkennungswert winkt, geht man gar nicht erst hin. Jenseits der großen Touristenfassaden existiert ein reales Schattenvenedig, und „Der Schleuser“ führt uns mitten hinein in diese Stadt ohne Zukunft.
Stadt ohne Zukunft
Die Bilder, mit denen Piero Macola Dabitchs Szenario illustriert, sind wortkarg, oft ruhig, aber nicht idyllisch. Die Landschaften sind einsam, die Häuser will niemand fotografieren und eher als hierher ziehen die Leute von hier fort. Was den Traum von Venedig ungewöhnlich konterkariert: Man sieht sich die Bilder so gern an, weil man gerade eben nicht da leben muss.
Und nach Zuklappen des lesenswerten Comics sofort wieder daheim ist.

Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
- 20. Juli 2024
Manu Larcenets Comicumsetzung des dystopischen Bestsellers „Die Straße“: erbarmungslos, verstörend und alptraumhaft gut

Ich habe die Hölle gesehen, und gezeichnet hat sie Manu Larcenet. Man kann es wirklich nicht anders nennen, obwohl „Die Straße“ (nach dem gleichnamigen Roman von Cormac McCarthy) natürlich auf furchtbare Art unterhaltsam ist. Aber man liest den Comic fassungslos, fühlt sich danach verstört, schockiert, auch deprimiert. Kann man sowas empfehlen?
Nein. Man muss.
„Resident Evil“, „Walking Dead“: alles Pipifax
Die Story ist denkbar einfach: Ein Vater wandert mit seinem Sohn durch eine zerstörte Welt, vermutlich in Amerika. Und „zerstört“ bedeutet in diesem Fall nicht die „Soylent Green“-Welt mit ihrem Rest an Zivilisation. Auch nicht die „Mad Max“-Welt mit ihrem noch kleineren, aber aufregend motorisierten Rest Zivilisation. Oder die attraktiv aufgemonsterte „Resident Evil“-Welt, nein, all das ist Pipifax.

Diese Welt ist unbewohnbar, es ist kalt und regnet Asche, und die „Walking Dead“-Gemeinde kann sich ihre Selbstversorger-Träume in die Haare schmieren: Hier wächst nichts mehr. Die Städte sind im Zustand von Deutschland ’45. Vater und Sohn wollen nach Süden, weil sie „noch einen Winter“ nicht überstehen werden und hoffen, im Süden sei es wohl wärmer. Und so ziehen sie los, in Lumpen gewickelt schieben sie irgendwas Einkaufswagenartiges durch den Schutt.
Das Essbarste: andere Leute
Welche Katastrophe das ausgelöst hat, ist so unklar wie der Zeitpunkt. Fest steht: Er muss einige Jahre zurückliegen. Denn es findet sich kaum noch Essbares, obwohl praktisch keine Menschen mehr unterwegs sind. Das Essbarste sind: andere Menschen. Und weil Vater und Sohn das nicht machen wollen, müssen sie von der Straße, sobald sie von ferne näherkommende Menschen sehen. Jeder Andere ist eine Bedrohung, selbst die Nicht-Kannibalen berauben sich gegenseitig – und es ist schwer zu sagen, was entsetzlicher ist: das komplette Fehlen von Mitgefühl oder das armselige Diebesgut in Form einer Lampe oder einer halbwegs wasserdichten Plane.

Action gibt es wenig. Womit auch? Vater und Sohn haben einen Revolver mit zwei Patronen, die Menschenfresser Messer, Latten, Keulen mit Nägeln, Schusswaffen sind rar (weshalb als Schauplatz die USA eigentlich ausscheiden). Konflikte löst man durch Verstecken und Davonlaufen. Der Gegner sind die anderen Menschen und die Welt, die so unbewohnbar ist, dass man die wenigen brauchbaren Verstecke schnell wieder verlassen muss, weil sie gerade wegen ihrer Brauchbarkeit binnen Kürze andere Menschen anziehen würden. Faustregel: „Man darf nicht an einem Ort bleiben.“
Beiläufiger Horror
Manu Larcenet, der schon „Brodecks Bericht" kongenial bebilderte, illustriert diesen hoffnungs- und ausweglosen Horror mit geschickter Beiläufigkeit. Die Spuren der Gewalt, des Todes, der wiederholten Plünderung bis zum letzten essbaren Krümel sind zwar allgegenwärtig, aber Larcenet erhöht ihre Wirkung mit einem simplen Trick: Er betont stattdessen die menschenfeindliche Umwelt, die ewige Dunkelheit und Kälte, bis das Auge selbst die abstoßendste Spur von Menschen beinahe erholsam findet. Farbe gibt es allenfalls in homöopathischen Dosen, und bei besonderen Anlässen: etwa einer Dose Cola.

Und dann, nach etwas über 150 entsetzlich guten Seiten? Man rätselt beeindruckt. Als feuchter Traum der Prepper-Szene taugt der Comic nicht, die angelegten Vorräte finden bestenfalls andere Überlebende und sind auch sonst viel zu attraktiv für tödliche Konkurrenz. Eine Öko-Mahnung? Weil der Mangel im Menschen nur das Schlimmste hervorbringt? Aber die Menschen reagieren ja schon jetzt heftig, wenn man nur ein Schnitzel weniger pro Woche andeutet. Und trotzdem: „Die Straße“ lässt einen unmöglich kalt. An der Lehre daraus knabbere ich selber noch:
Auf die Welt aufpassen?
Keine Leute töten?
Keine Leute essen?
Finden Sie's raus!
