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Comicverfuehrer

Der Reiz der Authentizität macht Comic-Biografien zum Trend, hat aber seine Tücken. Drei Beispiele zwischen Annäherung und Abgreife

Illustration: Matz/Jörg Mailliet - Knesebeck

Der Vorteil von Biografien liegt auf der Hand: Es entfällt der schöne Vorspann-Satz „Nach einer wahren Geschichte.“ Alles ist echt! Alles ist wirklich passiert! Weshalb der Autor eigentlich aus dem ganzen echten Kram nur noch die Rosinen raussuchen muss, oder?

Leider ergeben lauter Rosinen zunächst mal nur einen Haufen Rosinen. Man braucht also doch wieder sowas wie einen Teig drumrum. Und das kriegen nicht alle Biografie-Bäcker hin. Jedenfalls nicht bei diesen drei Beispielen.


Schwacher Start, starker Spurt

Illustration: Matz/Jörg Mailliet - Knesebeck

„Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist eigentlich schon ziemlich gut. Etwas Etikettenschwindel ist zwar beim Leben des in Südamerika untergetauchten Auschwitz-Arztes dabei: Vorlage ist der gleichnamige Roman von Olivier Guez. Doch was Jörg Mailliet daraus zeichnet, ist sehenswert. Eine subversive Atmosphäre dank viel Schwarz und Schatten. Sparsame Details, was bei ihm (wie bei Jacques Tardi) dazu führt, dass das lesende Auge Feinheiten selbst ergänzt. Abwechslungs- und einfallsreiche Bildeinstellungen, eine gute Auswahl von Panels und sehenswerten Splashes. Eine schöne Kolorierung, die von einer braunvergilbten Vergangenheit in eine sonnendurchflutete Gegenwart alles hergibt. Einziges Problem: Szenarist Matz, der erneut Dinge lieber erklärt als zeigt. Die erste Hälfte des Bandes ist voller Vorträge, die irgendwer irgendwem hält oder auch einfach mal endlos für sich selber denkt. Überraschend lässt das ausgerechnet in der zweiten Hälfte nach: Denn obwohl Mengele gerade hier oft allein im Urwald sitzt, hält sich Matz plötzlich angenehm zurück, der Band wird gegen Ende hin fesselnd. Warum denn nicht gleich so?


Matz (Text), Jörg Mailliet (Zeichnungen), Werner Kügler (Üs.), Das Verschwinden des Josef Mengele, Knesebeck, 25 Euro


Lemmy und die Trittbrettfahrer

Illustration: M. Irwin/D. Calcano/J. Riera/A. Belandria/J. Mansilla - Cross Cult

Erwartungsgemäß furchtbar: „Motörhead – der Aufstieg der lautesten Band der Welt“. „Erwartungsgemäß“, weil Musikbiografien erfahrungsgemäß gefährdet sind, auf Hits und Klischees reduziert zu werden. Hier haben zwei Autoren ein Szenario für drei Zeichner zusammengekleistert, bei dem „Motörhead“-Mastermind Lemmy Kilmister möglichst oft dem Leser zuprostet, rumknutscht, irgendwelche Songzeilen singt, uralte Anekdoten erlebt. Ebenfalls erwartungsgemäß kubikschlimm: Liveszenen.


Wenig ist schwieriger als die Bewegungen eines Rockkonzerts zu einer Momentaufnahme zu verdichten: Weil die attraktiven Momente der Instrumente kaum gleichzeitig stattfinden. Also macht auch hier die Gitarre dies, der Bass das, der Drummer rudert irgendwie dazu. Hingegen entfällt der Versuch, den einzigartigen „Motörhead“-Sound rund um Kilmisters dumpfe Bass-Akkorde darzustellen, genauso wie das Ausleuchten der charakterstarken Person Lemmy, die diesen schwerverkäuflichen Hochgeschwindigkeits-Klangbrei praktisch im Alleingang zum coolen Klassiker machte. Nein, das alles liest sich nicht nach Hommage, sondern eher nach Trittbrettfahrerei. Darauf keinen Whisky-Cola.


Mark Irwin/David Calcano (Text), Juan Riera/Alberto Belandria/Jorge Mansilla (Zeichnungen), Torsten Bewernitz (Üs.), Motörhead, Cross Cult, 30 Euro


Brillanz in blassblau

Illustration: JD Morvan(Madeleine Riffaud/Dominique Bertail - avant-verlag

Und der Sieger ist: „Madeleine, die Widerständige“. Hätte ich auch nicht gedacht, weil ich zuallererst meinte: „Ach je, schon wieder Drittes Reich!“ Das Szenario von JD Morvan beruht auf seinen Interviews mit der Résistance-Kämpferin Madeleine Riffaud und zieht den Leser geschickt in die beklemmende Untergrundarbeit. Denn: Wo findet man denn überhaupt diese Résistance, wenn man als junge Frau empört über den deutschen Einmarsch mitmachen möchte? Morvan zeichnet in Band 1 (von drei geplanten) die ersten Schritte einer ungeduldigen 17-Jährigen, die mühsam Verbindungen knüpft und sich zwischen Beziehung und Besatzung zu beweisen versucht (wer's kennt: Es geht in der Praxis ziemlich in die Richtung von Jean-Pierre Melvilles düsterer „Armee im Schatten“).


Der Gefahr des Abenteuer-Abklapperns entgeht Morvan, indem er einerseits gerade das Spannende in den stillen Momenten entdeckt, und indem er Zeichner Dominique Bertail die großen Momente fast wortlos überlässt. Die regennassen Straßen, den Tieffliegerangriff auf wehrlose Flüchtlinge, Morvan legt nur einige Gedanken Madeleines dazu, die Action, die Atmosphäre vertraut Morvan Bertail an. Eine seiner stärksten Szenen: die Ankunft Madeleines in der TBC-Klinik in den Bergen. Bertail zeichnet schwarz-weiß, nur mit Blau als Ergänzungsfarbe, aber im Unterschied zum gleichartigen Motörhead-Band (oben) weiß er damit was anzufangen. Und so taucht auf der ganz von Bergrücken überragten Seite unten ein Taxi aus dem blauweißen Schnee. Nur zwei kurze Sätze sagt der Taxifahrer, bis sich zum Schluss die Klinik blassblau aus dem blendenden Weiß schält. Hübsch, aber keiner sagt, dass spannende Weltkriegs-Geschichten nicht auch mit zauberhaften Bildern arbeiten dürften.


JD Morvan/Madeleine Riffaud (Text), Dominique Bertail (Zeichnungen), Annika Wisniewski (Üs.), Madeleine, die Widerständige, avant-verlag, 29 Euro


 

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Definitiv kein One-Hit-Wonder: Nach Joris Mertens' „Das große Los“ erscheint auch „Beatrice“ auf deutsch, das verlockend rätselhafte Debüt des Belgiers

Illustration: Joris Mertens - Splitter Verlag

Die Entdeckungsreise geht weiter! Gerade erst durfte man sich über „Das große Los“ von Joris Mertens freuen, jetzt schiebt der Splitter-Verlag den Band „Beatrice“ nach. Und tatsächlich geht die Rechnung erneut auf: Extrem ansehnlich, gut erzählt und überraschend zugleich. Was wiederum eigentlich gerade eben nicht überraschend ist.


Unerwartet wie „The Sixth Sense“


Denn Splitter hat nur deshalb so schnell einen neuen Mertens, weil der seine Comic-Karriere eigentlich mit „Beatrice“ angefangen hat, der Band entstand vor zwei, drei Jahren. Da war also schon klar, dass der Mix aus opulent-nostalgischer Atmosphäre, geschicktem, fesselnden Plot und unerwarteter Wendung bei Mertens offenbar Prinzip ist. Die Herangehensweise erinnert an „The Sixth Sense“, an „The Village“ – ist Mertens womöglich der M. Night Shyamalan des Comics?

Illustration: Joris Mertens - Splitter Verlag

Wir befinden uns erneut in diesem seltsamen, namenlosen Brüssel-Paris der 60er, 70er Jahre. Erneut versetzt Mertens seine Leser mit großzügigen, manchmal doppelseitigen Splashes in die canyonartigen Straßenschluchten der Gründerzeit-Boulevards. Prächtige Häuserfassaden, gespickt mit Leuchtreklamen, rammelvolle Straßencafés, Dauerstaus in restlos überfüllten Straßen einer Zeit vor der Ölkrise. In diesem Dickicht wühlt sich jeden Tag Beatrice zu ihrem Arbeitsplatz. Gewitzt hat Mertens sie in einen roten Mantel gesteckt, so wird jedes der großen Wimmelbilder zugleich zum Suchbild. Und auch Beatrices Job ist gut gewählt: Sie passiert nicht nur die verheißungsvoll gefüllten Läden und Schaufenster aus der Ära vor Amazon, sie arbeitet in einem Kaufhaus in der Lederwarenabteilung.


Nostalgie: Die Zeit vor Ölkrise und Amazon


Erneut kann einen Mertens‘ Inszenierung zum Schwärmen bringen: Wie er die Stadt mit der Sonne morgens zum Strahlen bringt und mit den Leuchtreklamen nachts zum Glühen. Wie geschickt er sich für seine Stadt die Authentizität der Autos ausborgt, indem er immer nur kleine Details zeigt: Den Scheinwerfer eines Peugeot 204, das Heck eines Renault 6, den Stummelhintern der Citroen DS. Der Arbeitsalltag in der glamourösen Welt des Kaufhauses, das Kaufhaus selbst mit dem gigantischen, opernhaften Treppenaufgang in Samtrot-Gold. Und dagegen die Einsamkeit der schüchternen Beatrice.

Illustration: Joris Mertens - Splitter Verlag

Jetzt platziert Mertens auf Beatrices Arbeitsweg am Bahnhof eine knallrote Stofftasche. Sie lässt sie stehen, und dann – passiert nichts. Aber am nächsten Tag ist die Tasche wieder da. Und dann wieder und eines Tages greift Beatrice zu. In der Tasche ist ein altes Fotoalbum.

Ich sage jetzt nicht, was in dem Album für Fotos sind, welche Folgen das für Beatrice hat, und welche völlig aberwitzige Schlusskurve auch diese Geschichte von Mertens nimmt. Das finden Sie mal schön selber raus. Aber ich verrate Ihnen, was Beatrice währenddessen sagt. Nämlich genau das, was Sie denken.

Hundertprozentig.


Joris Mertens, Axel Rothkamm (Üs.), Beatrice, Splitter Verlag, 25 Euro


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Nacktes provoziert heute anders: Wie schlägt sich die Neuausgabe des Klassikers „Bianca“ gegen Stjepan Sejics deftige SM-Romanze „Sonnenstein“?

Illustration: Guido Crepax - avant verlag

Wer hätte gedacht, dass Nackerte so anstrengend sein können? Vor mir liegt Guido Crepax‘ Klassiker „Bianca“, und so sehr Crepax meine Augen weidet, so sehr muss ich mich zum Weiterlesen geradezu zwingen. Weil ich keine Ahnung habe, was der ganze Unfug soll und wo er hinführt. Dabei sieht der Unfug grandios aus.


Unglaublich originell, unglaublich witzlos


Bianca ist hübsch, dunkelhaarig und praktisch dauernd nackt unterwegs. Sie taumelt durch eine Fantasiewelt, sehr ähnlich wie „Alice im Wunderland“, sehr ähnlich wie „Little Nemo“ – das heißt, in dieser Traumwunderwelt ist praktisch alles möglich. Bianca wird von einem Wal verschluckt und begegnet im Wal dem Kapitän Ahab. Der (einer der seltenen lustigen Momente) findet, sie sollte sich erstmal was anziehen, und ihr dann ein spärliches Korsett aus seinem Fundus aussucht. Von dort bringt sie ein gestiefelter Kater zu einem Dompteur mit Monokel, der sie mit der Peitsche für eine Zirkusvorführung abrichtet und so weiter und so fort, anything goes. Unglaublich ästhetische SM-Fantasien, aber das unglaublichste ist, dass sie so unglaublich originell sind und doch so unglaublich witzlos.

Illustration: Guido Crepax - avant verlag

Das ist freilich etwas unfair, weil man die Entstehungszeit bedenken muss: Wir befinden uns am Ende der 60er, und da funktioniert die erotische Provokation noch ganz anders. Die Wirkung der Nacktheit ist neu und modern, aufgeschlossen, und dann auch noch mit Fetisch – das war mal wow, Avantgarde. Das Problem ist, dass ausgerechnet diese nackte Aufregung das entscheidende Bindeglied war, das den ganzen Laden zusammenhielt. Noch immer überrascht „Bianca“ mit einfallsreichem Seitenlayout und aberwitzigen Zeichnungen, aber ich blättere nur noch durch, weil das Interessanteste von damals heute uninteressant geworden ist.


Überholt vom Mangamaterial

Vielleicht liegt es auch daran, dass mir gerade passend dazu „Sonnenstein“ vorliegt: clever und gut gemachte moderne Kommerz-Erotik von Stjepan Sejic. Die Geschichte ist im Grunde Mangamaterial: Frau A erzählt, wie es zu ihrer (klar: obendrein lesbischen) SM-Beziehung zu Frau B kam. Anders als „Bianca“ ist „Sonnenstein“ aber weniger Angebot Nackte anzugucken als eine deutlich zeitgemäßere Einladung, sich in dieser Fantasie gemütlich umzusehen und vielleicht auch ein bisschen mitzuspielen. Kaum jemand kann das derzeit so gut wie Sejic.

Illustration: Stjepan Sejic - Splitter Verlag

Er lässt beide Frauen zögern, sich finden, als Anfängerinnen gibt er beiden eine schön identifikationsfreundliche Unsicherheit mit, aber natürlich klappt alles beim Sex dann traumhaft gut, mit kurzen heiteren Irritationen, aber dann so richtig… Sejic nutzt das große Albumformat, er layoutet einladend, schwelgerisch, und er packt auch noch ungewöhnlich viel Text dazu, weil er den Leser, der sicher auch oft eine Leserin ist, in seinen opulenten Bildern halten will. Und, ja, in seinen Texten steht eben NICHT das, was man sowieso schon im Bild sieht.

Geschickt nutzt er dabei Gefühle gleichwertig wie Gefummel: Wenn die zwei, die sich im Netz kennenlernen, das erste echte Date ausmachen, dann haben sie vor lauter erregter Angst schon drei Tage vorher Bauchweh, und das will auch auf je einer ganzen Seite schön ausgebreitet sein.

Ja, hier steckt in Sejics Eroticomikunst schon sehr viel Kundendienst. Aber so anspruchsvoll Crepax‘ „Bianca“ auch sein mag, deutlich genießbarer ist „Sonnenstein“. Und anders als bei der (auch auf meine Nachfrage nicht näher bekannten) Auswahl unseres comiclesenden Bundeskanzlers bleibt hinterher kein Gefühl des „guilty pleasure“. Sondern eines des „expertly done pleasure“.


Guido Crepax, Salvador Denario (Üs.), Bianca, avant verlag, 39 Euro

Stjepan Sejic, Sandra Kentopf (Üs.), Sonnenstein, Panini Comics, 25 Euro


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