- 24. Apr. 2023
5 Mangas in 5 Minuten (II): Ein Volltreffer und zweimal erotischer Kundenservice – im zweiten Fernost-Set überzeugt ein 50-jähriger Klassiker am meisten
Man kann über Mangas sagen was man will, aber sie sind erstaunlich vielfältig, zielen oft präzise auf die Schlüsselreize der Kundschaft und dröseln diese Reize gerade bei Erotik ähnlich fein auf wie die Pornobranche. Man muss das Ergebnis nicht mögen, aber: fad ist es nicht – auf zum nächsten Mangaquintett.

Per Händedruck durch die Zeit
Zeitsprünge hatten wir ja schon in der letzten Stunde: „look back“. Die „Tokyo Revengers“ arbeiten ähnlich. Der Loser Takemichi erfährt, dass seine Ex und ihr Bruder bei einem Bandenkrieg starben. Am selben Tag wird er vor eine U-Bahn gestoßen und ist plötzlich zwölf Jahre in der Vergangenheit, in der er den Bruder warnt. Der wird daraufhin in der Vergangenheit Polizist, um mit Takemichi den Bandenkrieg zu verhindern und so seine Schwester zu retten. Die Technik dazu: Takemichi springt jedesmal, wenn er den Bruder berührt, zwölf Jahre vor oder zurück. Warum? Darum!
Nerviger als diese Erklärung ist, wie unentschlossen die Geschichte zwischen Jugendbanden-Ding, Zeitreise und Beziehung herumeiert. Das Ergebnis ist eine Art „Zurück in die Zukunft“, aber nicht spielfilmlang, sondern ausgewalzt auf 16 Bände. Und: sehr, sehr witzlos.
Rohrloser Klempner

Cleveres Fastfood der sexuellen Orientierung: Die Schülerin Satomi verliebt sich in den coolen Kanda und hat den idealen Vorwand, ihn anzusprechen: Es fehlen Jungs für das Crossdress-Café am Unifest, bei dem sich (wie so üblich) Männer als Frauen und Frauen als Männer verkleiden. Kanda erklärt sich bereit, aber nur wenn – Satomi eine Nacht in einem Spukschloss verbringt? Nein, sondern: seine Freundin wird. Denkt er natürlich: Macht die nie. Macht sie aber doch! Fortan hat er sie an der Backe und will sie wieder loswerden. Denn: Kanda ist gar kein Junge, sondern ein Mädchen! Wieso das bisher keiner gemerkt hat (Sportunterricht?) – egal: die lesbische Zusatzverwirrung ist durchaus originell. Der Rest ist Profihandwerk: Gags und Story werden überdeutlich vorgekaut, dazwischen gibt’s den Fan-Modus, bei dem man als Bonus etwa die Handtaschen der beiden im „Fashion-Check“ vergleicht. Das Ergebnis ist gut gefertigte Romantik-Dienstleistung oder sexlose Pornografie: der Klempner verlegt halt kein großes Rohr, sondern hält Händchen und macht sich tiefe Gedanken darüber.
Deftiges ab 16

Okay, auch hier: handwerkliche Hochachtung für einen solide gemachten Halbporno. Was das ist? Man sieht viel, aber auch viel nicht, es gibt mehr Atmosphäre als Vollzug. Ryuta Amazumes Thema ist „Leder, SM und Scham“, und sie stielt die Story branchenüblich rücksichtslos ein: Kaoru stellt sich seine beste Freundin Nana in Leder vor, Mutti findet sein Lederzeugs, nimmt es ihm weg und gibt es wem zum Aufbewahren? Klar, Nana, wem sonst? Die es daraufhin, Überraschung: prompt neugierig anzieht, und so wird seine Fantasie wahr usw. So weit, so blöd.
Aber wie Amazume die Szenen ausspielt, ist schon wieder gut gemacht: es wird viel gedacht und gezweifelt, viel soll-ich/soll-ich-nicht, was-denkt-der-andere, viel Scham, endlose Überwindung – und das muss man auch erst mal richtig ausspielen können. Im Zentrum steht eindeutig Nanas Perspektive, es wird nach und nach gefesselt und gepinkelt und fotografiert, und all das so, dass man's doch immer noch „ab 16“ anbieten kann. Man staunt.
He-Man auf der Heizung

Au, au. „Fist of The North Star“ ist definitiv in der „Jojo“-Kategorie. Tumbe Dialoge und eine Art „Mad Max“-Welt, durch die der Held Kenshiro schreitet und sich Runde um Runde abkämpft. Ständig hält irgendwer irgendwem einen Vortrag über seinen Kampfstil und welcher besser ist und schnarch. An allen Ecken und Enden verrutscht die Perspektive, außer einer: Den schmollmundigen Heldenkopf sieht man vorzugsweise von unten rechts. Die Proportionen orientieren sich häufig an He-Man-Figuren, die man auf der Heizung vergessen hat. Es heißt, der Comic sei ultrabrutal, aber selbst die blutigste Prügelei ist nicht so schmerzhaft wie diese erstaunliche Kombination aus Storytelling, Artwork und Presswurst.
Kinderkram

Dieses Duo kann ich eindeutig empfehlen: In „Lone Wolf & Cub“ schiebt der Ex-Samurai und Jetzt-Auftragsmörder Ogami Itto seinen Dreijährigen in einem Kinderwagen durch die Gegend. Kazuo Koike und Goseki Kojima nutzen in diesem über 50 Jahre alten Klassiker die Konstellation nicht für billige Witze, sondern geschickt als zusätzliche Herausforderung: Für Ogami im Kampf – und für die Erzählung, denn Ogami findet umgekehrt auch immer wieder Lösungen, für die der Kleine hilfreich ist. All das wird in handlichen Episoden erzählt, die nicht nur spannend sein können, sondern auch tragisch, mit Zeichnungen, die explosiv sind, ideen- und abwechslungsreich, rasant und geduldig, je nach Situation. Und gerade durch die vielfältigen Episoden ahnt man: Hier ist eines der Vorbilder von Stan Sakais „Usagi Yojimbo“.
... wird natürlich fortgesetzt
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- 17. Apr. 2023
Mangatest durch Mangaskeptiker (I): Bei den Bestsellern aus Fernost muss man sich oft zum Lesen zwingen - findet aber auch mal mehr als großäugige Niedlichkeit
Wie heißt der Satz? Genau: Immer, wenn eine Industrie viel produziert, entsteht neben jeder Menge Schrott auch was Gutes. Wer hat's gesagt?
Ich selber. Weshalb ich trotz meines ewigen Genöles immer wieder im großen Mangahaufen wühle. Und zwar nicht in den absonderlichen Ecken, sondern bei den Topsellern der Verlage. Hier der erste, kurz gefasste Fünferpack. Die Uhr läuft ab... jetzt!
Die Abrissbirne

Diese Aschenputtel-goes-Horror-Nummer enthält so ziemlich alles was mich rasend macht. Die Prämisse geht noch am ehesten: Eine teuflische Maske landet nach Jahrhunderten als scheinbar harmloser Wandschmuck bei einem Reichen. Der Reiche nimmt einen armen Jungen auf, der daraufhin den Sohn des Reichen verdrängen und selbst Lieblingssohn werden will.
Dieser Bruderzwist ist das Zentrum der Story und entfaltet sich mit der Raffinesse einer Abrissbirne. Beispiel: Der Böse tötet den geliebten Hund des Guten, der (geliebt allein reicht nicht) dem Guten natürlich mal das Leben gerettet hat. Der Böse schleimt bei Vati, aber Vati merkt es nicht und behandelt immer den Guten ungerecht. Das Ganze wird dabei so repetitiv breitgetreten, dass man förmlich sieht, wie Hirohiko Araki einem seitenweise die Lebenszeit stiehlt. Die Serie gilt als Klassiker, und vielleicht wird sie sehr viel später noch mal gut: Aber bis dahin halte ich diese Brachialdramaturgie leider nicht aus.
Der Ungewöhnliche

Eine mystische Geschichte: Auf der Schule lernen sich zwei Mangazeichnerinnen kennen, sie haben zusammen Erfolg, trennen sich aber. Eine wird dann an ihrer Kunsthochschule ermordet. Die Überlebende geht zum Haus des Opfers und macht sich Vorwürfe: Die Tote war nämlich sehr schüchtern, und erst die Überlebende hat sie damals aus ihrem Zimmer gelockt, indem sie ihr einen Manga unter der Tür durchschob. Sie findet den Manga wieder und zerreißt ihn. Doch ein Fetzen davon rutscht wieder unter der Tür durch und warnt die Schüchterne in der Vergangenheit. Sie erhält dadurch eine zweite Chance…
Auch mal schön: Ein Manga, der sehr still, sehr geduldig erzählt. Der die Beziehung zwischen den beiden Mädchen vor allem mit Bildern illustriert, nicht mit langen Gesprächen. Und mit einer Story, die fantastisch ist, auch ein bisschen spooky, aber nicht gruselig. Eine eigene, seltene Geschmacksrichtung, sehr überraschend, eindeutig empfehlenswert.
Zurück in die 70er?

Industriezucker mit einer Prise Schmuddel: Der Klassennerd Gojo ist noch weit von seinem Ziel entfernt, die besten Puppenköpfe der Welt zu machen, aber er kann immerhin schon mal nähen. Das findet zufällig die Klassenbeauty Marin raus, die Kostüme zum Cosplay braucht, aber leider zu doof ist, zwei Tempotücher zusammenzuheften. Fortan muss der Schüchterne dauernd die Schöne ausziehen, zum Maßnehmen. Oder damit sie seine Sachen anprobieren kann. Dann sieht er sie in Unterwäsche, huiuiui! Das klingt zwar erst nach der verklemmten Heiterkeit einer Ilja-Richter-Komödie, aber dann es liest sich auch so. Vermutlich wurde es deswegen auch bereits verfilmt. Schleudert uns die erzählerische Evolution direkt zurück in die 70er?
Todernste Romanze

Industriezucker ohne Schmuddel: Die schüchterne Kira kann toll zeichnen. Aber dann sitzt in Kunst im neuen Schuljahr ausgerechnet der coole Rei neben ihr, der keinen Stift gerade halten kann. Der sie dann bewundert, tja, und dann bittet sie ihn, ihr Modell zu stehen. Ja, genau, den coolen Rei, das Engelsgesicht mit dem Dukati-Motorrad. Hach! Und dann wird es Liebe, aber bald zeigt sich, Rei hat ein dunkles Geheimnis! Das klingt vertraut, wird auch nicht wirklich gut, aber es ist auf jeden Fall erträglicher als „More than a doll“, weil der klebrige Unfug wenigstens mit einem Rest Würde durchgezogen wird, nämlich todernst.
Positive Überraschung: „Mars“ verzichtet fast völlig auf die meist misslungenen Manga-Soundwords. Das ist eigentlich eine verdammt elegante Lösung. Empfehl.
Die Schauderschleuder

Ein Mix aus Soylent Green und Öko-Dystopie. In dieser Zukunft sind die bewohnbaren Gebiete der Erde auf ein Tausendstel geschrumpft. Zwei Jungs werden entführt und landen in einer bizarren Fabrik, in der man Menschen mit süchtig machender Nährlösung mästet. Die Fetten nutzt man dann entweder zur Fleischgewinnung – oder verfüttert sie vor Ort an eine enorme Insektenlarve. Die Rettung sind zwei andere Jungs, die dort die Nahrung verweigern und mit denen ein Ausbruch gelingt. Zu viert entdecken sie: Die Mastanlage ist Teil eines gigantischen Gefängnisses…
Um Logik geht’s hier nicht. „Starving Anonymous“ bietet Splatterhorror mit SM-Elementen, bei dem in jedem Kapitel etwas noch Fürchterlicheres passiert. Zersägte Menschen, Sexknäste, fliegenübersäte Babyleichen, gehäutete Menschen… nicht auszumalen, was erst in Band 2 blüht. Interessant wird all das durch die Portionierung: Jeder Schrecken wird ausgereizt, aber nicht überdehnt. Und durch das hohe Tempo akzeptiere ich auch die Erzählweise in der mangaüblichen Holzhammerhaftigkeit. Fazit: widerlich unterhaltsam. Werde ich weiterlesen.
... wird natürlich fortgesetzt
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- 20. März 2023
Schonungslos und seeehr unterhaltsam: Helena Baumeister zeichnet mit "oh cupid" eine wunderbare Momentaufnahme der Sex-Suche im Internet

Sensation: Die Frau, die mit mir in der Wohnung wohnt, hat über diesen Comic gelacht. Mehrfach. Und ihn weitergelesen, freiwillig. Ich selber auch: mehrfach gelacht. Und weitergelesen, gern. Dabei habe ich zuerst genau dasselbe gedacht wie vermutlich derdieeineoderandere Leser auch: Oooch, Bleistift. Aber: garnicht ooch! Sondern: geil! Muss ja auch: Geht schließlich in Helena Baumeisters „Oh cupid“ um Sex.
Online Dating: Das Ziel ist der Weg
Baumeister erzählt die Geschichte von Helena, Single, zwischen 20 und 30. Helena datet online. Man sieht, wer grade in der Gegend verfügbar ist, textet herum ob man sich mag, dann trifft man sich. Und, Älteren muss man dazusagen: Das ist nicht wie analog Flirten. In Discos sind manche nur zum Tanzen, Leute auf der Dating-Plattform überspringen hingegen einen Schritt und sehen Sex von vornherein als Option. Helena ist schon länger auf der Plattform, wir begleiten sie zum vierten Date.
Eine sanfte Warnung muss dazu, weil weil Helena Baumeisters Stil zunächst unattraktiv wirken kann. Aber: Unbedingt dranbleiben, es lohnt sich! Vor allem wegen der Einblicke in Helenas Innenleben. So fährt Helena per Bahn zum Date und findet das Ticket recht teuer. Mitten in der kribbeligen Vielleichtsex-Stimmung. Und doch kann sie den Sparfuchs nicht ganz abschalten... Kennen Sie das?
Aus zwei Händen werden acht
In der Bahn hübscht Helena sich auf, aus ihren zwei Händen werden acht … Und so geht das weiter: Das Date schlägt zum Kennenlernen eine Mietrad-Tour vor. Baumeister findet Bilder zum wackligen Einfahren und für die ganz normale Überforderung: Helena will fit wirken, geschickt plaudern, nicht zu viel sagen, nicht zu wenig, interessiert aussehen, feststellen, ob es heute schon Sex geben soll, überlegt, ob Sex-Absagen blöd ist, ob er sie ohne Sex ein zweites Mal treffen wird. „Ich nervöses Huhn laber den total voll!“, schimpft sie sich still, und schon radelt ein Huhn gackernd neben dem Typ, der dann komisch schaut, mit drei Köpfen und sechs Augen.
Die Unbehaglichkeit, Unsicherheit, das Fremdschämen, all das spürt man förmlich. Auch dank der überraschenden Bilder: Als Helena entscheidet, dass es (noch) keinen Sex gibt, biegt sie doppelt ab: Ihr Bike knickt in der Kurve in den Rädern zur Seite, sie fährt rechtwinklig weiter, und dann als sie sagt: „Ich komm später nicht mit zu dir!“, sind die Gesichter so lang wie die ganze Seite hoch.
Zähneklappernd zur Zärtlichkeit
Das zweite Treffen läuft besser, Sex steht Helena ins Gesicht geschrieben, sie ist so aufgeregt, dass ihre Zähne klappern, und auch hier passt ihr krakeliger Stil unerwartet gut: Schließlich findet man sich selbst beim ersten Mal auch oft eher krakelig als aufregend. Und genauso passgenau kriegt Baumeister schließlich die Kurve zum großen Danach.
Helena übernachtet bei ihrem Date. Es ist neu, es ist aufregend – und durchzogen von der Sehnsucht nach Geborgenheit. Doch dafür ist die App nicht da: Sie kann den Schritt zum Sex vereinfachen – aber sie entlastet nicht von der bangen Frage: bin ich für ein weiteres Treffen qualifiziert? Oder sogar für etwas Dauerhaftes? Oder ist der ungelenke Abschied zugleich ein Schlussstrich?
Liebesreise ins Ungewisse
Helena Baumeisters „oh cupid“ hat alles, was zu einer Liebesreise ins Ungewisse gehört. Und legt dabei wunderlich einleuchtend nahe, dass sich im Grunde garnichts ändert – und das pflegeleichte Internet nur die Momente der Unsicherheit verschiebt. Die Ängste bleiben – kein Wunder: die sind ja analog.
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