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Comicverfuehrer

Bittertrüb, hässlich und perspektivlos kriminell: So wie im Comic „Der Schleuser“ haben Sie die Lagunenstadt garantiert noch nicht gesehen

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Illustration: Christophe Dabitch/Piero Macola - Schreiber & Leser

Es dauert noch ein bisschen, bis der neue Gipi erscheint, aber bis dahin empfehle ich Ihnen schon mal eine vergleichbar erstklassige Gangsterchenballade. Sie heißt „Der Schleuser“, ist von Christophe Dabitch und Piero Macola, und – bitte? Sie wissen nicht, was eine Gangsterchenballade ist? Das müssen wir ändern. Dringend!


Abgehängter Touristentraum


Dass Sie‘s nicht kennen ist okay, das Genre ist brandneu, ich hab’s grad erfunden: Es geht dabei um Jungs irgendwo zwischen 14 und 17, die sich erwachsen fühlen, es aber nicht sind. Die Eltern sind eher arm, abwesend, arbeiten oder saufen, die Jungs machen kleinkriminellen Quatsch, meist in abgehängten Gegenden. Diesmal etwa in Venedig. Wobei, hm: Ist denn Venedig überhaupt abgehängt?

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Illustration: Christophe Dabitch/Piero Macola - Schreiber & Leser

Das ist überhaupt eine der Entdeckungen dieses Comics: ein Venedig, das kaum jemand kennt. Paolo sucht seinen verschwundenen Vater, der als Fischer in der trüben Lagune arbeitet. Und so klappert Paolo alle möglichen Verstecke ab, die Inseln, die Fischgründe neben den Fabriken, Vaters Stammnutte. Nebenher versucht er, mit seinen drei Freunden zu Geld zu kommen: Sie verkaufen für Drogenhändler rosa Pillen, müssen aber feststellen, dass jemand ihr Versteck geplündert hat – jetzt haben sie keine Ware mehr und sind verschuldet. Bei Leuten, die keinen Spaß verstehen. Und auf Paolos Spuren sehen wir ein Venedig, das Touristen meistens entgeht.


Leere Gassen, die's wirklich gibt


Herbstlich ungemütlich ist es da. Wir sehen die Werften und abgelegenen, heruntergekommenen Schuppen. Die illegalen Arbeiter in panischer Angst vor Polizeikontrollen. Die Menschenschmuggler. All das gibt es tatsächlich: Wer sich Venedig von der Festlandsstadt Mestre oder (wie ich selber grade eben) per Fahrrad über die Laguneninseln nähert, sieht mitunter erstaunliche Hässlichkeit. Das von Pfostenpyramiden gesäumte Wasser wirkt mitunter so trüb, dass man kaum glauben mag, dass etwas darin lebt. Und auch die leeren Gassen, die der Comic für eine einsame Verfolgungsjagd nutzt, existieren wirklich.

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Illustration: Christophe Dabitch/Piero Macola - Schreiber & Leser

Während sich auf den Passantenhighways zu den Hotspots die Touristen samt Rollkoffern gegenseitig halb tottreten, ist nur wenige Ecken weiter kein Mensch mehr zu sehen. Wo kein Selfie mit Wiedererkennungswert winkt, geht man gar nicht erst hin. Jenseits der großen Touristenfassaden existiert ein reales Schattenvenedig, und „Der Schleuser“ führt uns mitten hinein in diese Stadt ohne Zukunft.


Stadt ohne Zukunft


Die Bilder, mit denen Piero Macola Dabitchs Szenario illustriert, sind wortkarg, oft ruhig, aber nicht idyllisch. Die Landschaften sind einsam, die Häuser will niemand fotografieren und eher als hierher ziehen die Leute von hier fort. Was den Traum von Venedig ungewöhnlich konterkariert: Man sieht sich die Bilder so gern an, weil man gerade eben nicht da leben muss.

Und nach Zuklappen des lesenswerten Comics sofort wieder daheim ist.

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Illustration: Christophe Dabitch/Piero Macola - Schreiber & Leser

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Große Kunst aus kleinen Zutaten: Mikael Ross verquirlt Berliner Randgruppen in „Der verkehrte Himmel“ zu einem höllisch guten Blockbuster-Comic

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Illustration: Mikael Ross - avant-verlag

BOAH!

Das. Ist. HEISSER. SCHEISS.

Absolute „Lola rennt“-Kategorie: ein Actionthrillercomedydrama, erzaubert aus total unglamourösen Zutaten. Extrem lustig, extrem spannend, zugleich thematisch so brandaktuell, dass eigentlich alle Alarmglocken scheppern. Weil all das so überehrgeizig klingt, dass es nur noch in die Hose gehen kann. Oder sogar muss! Aber dann kommt Mikael Ross mit „Der verkehrte Himmel“*.


Jonglieren mit acht Bällen


Ross ist noch immer kein sehr voll beschriebenes Blatt. „Der Umfall“ war exzellent, aber eine Auftragsarbeit mit vorgegebenem Thema. „Goldjunge“ widmete sich Beethovens Jugend, auch das gibt eine historische Struktur vor. „Der verkehrte Himmel“ hingegen ist komplett auf Ross‘ Mist gewachsen. Und das ist, als jongliere jemand erst mit zwei und auch drei Bällen, und jetzt schlagartig mit acht.

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Illustration: Mikael Ross - avant-verlag

Ein Parkplatzmarkt. Tam und Dennis kaufen ein, Dennis ein überteuertes Metal-Shirt und ein Fleischerbeil, seine jüngere Schwester schrottige Inline-Skates, mit denen sie sofort gegen einen schwarzen Van knallt. Im Van: eine junge Frau, die nicht raus kann, aber Dennis das Beil durchs spaltoffene Schiebedach abkauft. Der Van fährt davon, zu einer Tankstelle. Ein Mann geht zur Kasse. Die Frau im Van zerschmettert die Heckscheibe, rast davon. Der Mann verfolgt sie. Schon diese Einstiegsszene ist richtig gut konstruiert: Slapstick (Tam lernt skaten), Sitcom-Dialoge (Bruder-Schwester, Geiz, der dämlich-schön-ulkige Beil-Deal), und alles kippt schlagartig zum Actionthriller.


Zappliger Riese als Blickfang


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Illustration: Mikael Ross - avant-verlag

Und das, obwohl die Szene superstill beginnt: Durch die Augen der Frau sehen wir eine zapplige, luftbetriebene Werbe-Riesenfigur, immer in dem absurden Moment, in dem kurz der Luftstrom abreißt und die Figur grotesk zusammensackt. Die Actionsequenz dagegen: Bewegungen, die vor Energie strahlen, rasante Einstellungen, die geschickt das nutzen, was ein Panel leisten kann – etwa das Auge des Lesers unter dem Arm des Verfolgers hindurch auf die junge Frau zu lenken, die entfernt über einen Zaun klettert. Genau dieses geschickte Zusammenfassen und Verdichten macht diesen Comic so aberwitzig gut.


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Illustration: Mikael Ross - avant-verlag

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Illustration: Mikael Ross - avant-verlag

Was einen vor allem deshalb so unerwartet umhaut, weil die Themen so unsexy sind. Es geht, man ahnt es vielleicht, um Menschenhandel (Downer). Tam wird sich um die junge Frau kümmern, und um beide zusammenzubringen, wird Ross den Jungen Alex einführen, der Agent/Schauspieler werden will und alle mit seiner Drohne nervt (alleinerziehende Eltern, Schlüsselkind, Downer!). Die Ex-Schauspielerin Doris, die in einem Gartenhäuschen wohnt (Altersarmut, Alkoholismus, Downer!). Marina, die sensible Kickboxerin, die sich ausgerechnet in Dennis verliebt hat (Frau mit Problemen, Downer!). Die „Rollergirlz“, ein aufgekratztes Mädeltrio, von dem Tam gerne Skateunterricht hätte. Dennis pornosammelnder Freund Götz, die (real existierende Benennung der) Hans-Rosenthal-Schule (Holocaust, Downer), die Metalband „Slayer“ und Tams und Dennis Leben als Kinder vietnamesischer DDR-Einwanderer (Migration, Downer!). Das KANN doch einfach nicht funktionieren!


Ruppig deftig, prustend komisch


Aber Ross führt alles davon mit einer Leichtigkeit ein, dass einem der Kopf schwirrt. Indem er einfach das Berlin nimmt, das er vorfindet. Tam und Dennis sind nicht „Achtung! Achtung!“-Vietnamesen, sie sind’s einfach so wie andere Leute Linkshänder. Alles ist eigentlich extrem politisch – aber zugleich extrem unpolitisch konsumierbar. Selten war Schweres so leicht. Was auch daran liegt, dass Ross mit seinem Personal außergewöhnlich robust umspringt. Die Dialoge sind ruppig, deftig, gerade unter den Jugendlichen rücksichtslos, sehr häufig prustend komisch. Um im nächsten Moment zur härtesten, schnellsten, spannendsten und zugleich komischsten Verfolgungsjagd zu abzukippen, die ich von einem deutschen Comic-Zeichner kenne.

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Illustration: Mikael Ross - avant-verlag

Am meisten verblüfft aber, wie viele Varianten der Comic-Kunst dieser Mikael Ross beherrscht – und wie gut, wie souverän, wie komplett er ist. Erstklassige schnelle, freche Dialoge, abwechslungsreiche Perspektiven, Situationskomik genauso wie Situationstragik, statische und mobile Körper-Beherrschung, Blickführung, Licht und Schatten, Charakterentwicklung, geschickte Nutzung von Haupt- und Nebenrollen. Gerade die Nebenrollen reichert Ross dabei mit unterhaltsamen Details derart an, als müsste er sie für Schauspieler attraktiv machen: Ross arbeitet hier wie ein echter Regisseur, aber zum Vorteil der Leser.  


Realität vs. Happy End


Das Ende verrate ich natürlich nicht, auch wenn man ahnen kann: Für ein richtiges Happy End müsste Ross die Gegebenheiten verbiegen, und dazu ist ihm die Realität als Bezugsgröße zu wichtig. „Der verkehrte Himmel“ geht auch deshalb so nahe, weil alles darin sofort denk- und nachvollziehbar ist. Und wer prüfen will, ob Ross auch noch ein guter Vorleser ist, hat am Donnerstag um 19 Uhr in München die Chance dazu.



 

 

*

Anmerkung zwecks Transparenz: Der Deutsche Literaturfonds (dessen Vorjury zu einem Fünftel aus mir besteht) hat (unter anderen) diesen Band gefördert. Doch anders als etwa bei Buchpreisen sehen wir bei der Entscheidung kein fertiges Produkt, sondern nur einen Entwurf.



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  • 2. Juni 2024

Fußballcomics sind eine Seltenheit, doch zur EM muss das Runde gleich drei Mal ins eckige Format. Ein Triple-Test vorm Auftritt der Nagelsmänner

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Illustration: Faro/Kylina Mbappé - Community Editions

Am 14. Juni startet die EM! Und zur richtigen Vorbereitung gehören auch die richtigen Comics. Aber ein Blick ins Regal verrät: Es gibt gar nicht mal so viele. Denn das Spiel ist knifflig für Comics: Viele Spielzüge sind parallel laufende Leistungen mehrerer Spieler, es hat schon seinen Sinn, dass man sie aus der Totalen zeigt und nicht in Nahaufnahme. Aber wegen der enormen Beliebtheit wird's natürlich trotzdem immer wieder versucht: Neben einer Maradona-Biografie sind derzeit drei Titel halbwegs aktuell. Neugierig?


Mit den Ducks in die Entrunde

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Illustration: Aleksander Kirkwood Brown - Egmont Ehapa Media

Nummer Eins, vermutlich auch vom Umsatz her, ist Donald Duck. Gleich zwei neue Titel gibt's im Rahmen der „Lustigen Taschenbücher“. Das geht in LTB 585 sogar sehr brauchbar los: Story 1 nutzt clever die einzige Einzelperson eines Fußballspiels – Donald wird Schiedsrichter. Aber schon die zweite Story nutzt die Kickbegeisterung von Mack und Muck nur noch als Hintergrund, und dann war's das hier mit Fußballthemen.


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Illustration: A.Brown - Egmont Ehapa Media

LTB Extra 8 hingegen widmet sich komplett dem Fußball, und da wird’s dann wirklich wahllos. Donald enthüllt seine Vergangenheit als Supertorwart, wird parallel lausiger Nebenberufs-Trainer, war als Kind Feldspieler (Trainer: Dagobert), gewinnt per Los ein ganzes Kickerteam (wird wieder Trainer, aber jetzt auf einmal super), wird Fußballreporter, Balljunge, als Phantomias Fußballdetektiv, erfindet mit Daisy in der Steinzeit das Fußballspiel. Und allein schon diese Auswahl wirft die Frage auf: Kann man mit Donald eigentlich einfach alles machen? Carl Barks hätte vermutlich „Nein!“ gesagt, aber wer ist schon Barks? Donald scheiterte früher an Pech, Faulheit oder auch, weil er zu gut war. Der Donald von 2024 scheitert an Arroganz, Blödheit, Ungeschick. Das ist nicht dasselbe.


Hingekrampft und aufgepropft


Hätte ich das alles als Kind einfach in mich reingelesen? Vielleicht, aber heute scheitern für mich die Stories, weil sie nichts mit Donald zu tun haben. Sie werden den Figuren einfach aufgepfropft. Nur so erklärt sich die krampfige Story mit dem armen, ignorierten Torwart, der angeblich im Schatten erfolgreicher Stürmer steht. Inhaltlich Quatsch, weil Torwarte (Kahn! Neuer! Donald selbst, s.o.) exzellente Helden ergeben. Aber scheißdrauf, jetzt ist die Story halt da, jetzt muss sie irgendwem passieren, ene mene muh, ticktricktrack, und es wird… Tick! Der Verdacht liegt nahe, dass die Macher denken: für Kinder reicht's. Und deshalb war Barks so einmalig: Weil er seine Leser so ernst nahm wie seine Figuren. Aber: Die Schiedsrichtergeschichte hätte ihm vermutlich gefallen. Weil Donald so gut und gerecht ist, dass sogar seine Neffen staunen – bevor die Geschichte dann ducktypisch eskaliert. Den Autor kann man sich mal merken: Aleksander Kirkwood Brown.

 


Die Fußball-Academy

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Illustration: Muneyuki Kaneshiro/Yusuke Nomura - Crunchyroll

Wie man’s besser macht, zeigt wieder mal der Mangamarkt. „Blue Lock“ heißt die Serie, und auch hier ist das Motiv weniger Liebe zum Fußball als der Bedarf, die Nische abzudecken. Aber die Japaner wissen, dass ihr Manga gegen Tausende anderer bestehen muss, und das zwingt zur Professionalität. Die Story: 2018 flog das Nationalteam bei der WM im Achtelfinale raus. Japans Fußballbund tagt. Lauter alte weiße Männer und eine Frau, der die Männer auf die Möpse starren (hat sowas eigentlich schon mal wer über den DFB gezeichnet?). Die einzige Idee im Raum hat – die Frau: Sie setzt einen bizarren Wissenschaftler durch, der die Akademie „Blue Lock“ gründet.

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Illustration: Muneyuki Kaneshiro/Yusuke Nomura - Crunchyroll

Vier Jahre lang sollen die 300 besten Jugendlichen gedrillt werden, nur einer von ihnen wird Japans neuer Superstürmer, alle anderen werden – umgebracht. Äh, nein, aber sie dürfen NIE PROFIS werden. Ab da gibt es Wettbewerbe ohne Ende. Wir lernen die Charaktere kennen, alle machen sich dauernd Gedanken, Mangaaction und -grübeln at its best. Durch die permanenten Qualifikationen wird das Spiel elegant auf Zweikämpfe reduziert und dadurch comictauglicher. Aber Texter Muneyuki Kaneshiro legt noch einen drauf.


Da wird „Manni der Libero“ neidisch


Runde Eins etwa besteht aus einem Wettbewerb der 25 Zwölfergruppen: Jede hat 136 Sekunden, um in einem Raum die elf Mitspieler anzuschießen. Wen der Ball zuletzt berührt, der ist raus. FÜR IMMER. Ein blöder Wettbewerb, oder? Was hat das mit Fußball zu tun? Aber das erklärt die Kick-Koryphäe hinterher per Monitor: Der Raum hat exakt die Größe des Hauptarbeitsplatzes eines Stürmers: des Strafraums vor dem Tor. 136 Sekunden sind die Durchschnittszeit, die jeder Spieler in 90 Minuten wirklich am Ball ist. Und Ziel ist nicht Teamwork, sondern Skrupellosigkeit. Überdrehte Spannung aus Fußballfakten, so lass' ich mir das gefallen. Es gibt Action-Einstellungen, Einzelschicksale, das Spiel wird in seiner Komplexität angedeutet. Gute Unterhaltung, von der „Manni der Libero“ nur träumen konnte.

 


Starkarriere mit angezogener Gagbremse

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Illustration: Faro/Kylian Mbappé - Community Editions

Eine der Möglichkeiten, was aus dem Fußball zu machen, ist: der Promi-Faktor. Community Editions versucht das mit dem Band „Ich bin Kylian“, eine Cartoon-Autobiografie des französischen Superstars Kylian Mbappé. Beraten von Comic-Künstler Faro (und vermutlich seinem Management) erzählt Mbappé sein Leben als Sohn eines Kameruners und einer Algerierin. Der Start lässt zwar nichts Gutes ahnen: eine zähe Reihe langatmiger Gags über ein Kind, das immer nur Fußball spielen will. Aber das bessert sich: Es gibt tatsächlich einige Einblicke, wer alles wie an einem Wunderkind herumzerrt, welche Verbände und Interessen um ihn kämpfen. Und je länger der Comic dauert, desto mehr wünscht man ihm, er würde die Gags reduzieren und sich mehr auf die Story verlassen. Aber gut: Man kann nicht alles haben, „Ich bin Kylian“ ist ein recht ordentlicher Comic, nicht mehr, aber auch nicht weniger.




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