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Rücksichtslos behindert

Ein Meisterstück aus dem Nichts: Der Berliner Mikael Ross soll eine Festschrift für eine Pflege-Einrichtung zeichnen – und verwandelt einfallsreich sämtliche Handicaps in Vorteile


Illustration: Mikael Ross - Avant Verlag

Man merkt es ungefähr auf Seite sechs oder sieben:

Der kleine Noel, der mit seiner Mutter im Supermarkt einkauft.

Der die Prinzessinnen-Puppen anschaut.

Der so viel Quatsch plärrt – dieser Noel ist gar nicht so klein.

Der ist doch…

nee, oder?

Der ist geistig behindert.

Das ist jetzt nicht denen ihr Ernst, oder?

‘n Comic, über einen geistig Behinderten?

Und ziemlich genau in diesem Moment knallt Noels Mutter mit dem Kopf auf den Badezimmerboden, eine Blutlache breitet sich aus.


Das Erraten der eigenen Adresse


Will man jetzt den panischen, hilflosen Noel allein lassen? Wie er sich erst zur Beruhigung einen Papierkorb über den Kopf zieht („stülp“), am Telefon grade noch die 112 hinkriegt, um dann mit der Notrufzentrale mühsam die eigene Adresse zu enträtseln… Das ist nur einer der geschickten Kunstgriffe, mit denen Mikael Ross einen erstaunlichen Comic inszeniert.


Obwohl, erstaunlich ist zu wenig. Überraschend auch. Unglaublich ist das Mindeste, denn ich kenne keinen Comic der letzten zehn, ach: zwanzig Jahre, der ungünstigere Voraussetzungen hatte – und aus dem etwas ähnlich Großartiges geworden ist.


So viele Hürden – so viele Lösungen!


Hindernis 1: „Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum“ – gähn! Hindernis 2: Evangelischer Auftraggeber aus dem Sozialbereich – supergähn. Und Hindernis 3: geistig Behinderte. Zwei namhafte Comic-Zeichner haben das Projekt denn auch dankend abgelehnt. Der 34-jährige Berliner nicht – und er entpuppt sich als Glücksgriff, in absolut jeder Beziehung.


Noels Mutter wird gerettet, halbwegs, aber sie liegt im Koma. Und deshalb kommt Noel nach Neuerkerode: ein kleines Dorf bei Wolfenbüttel, gegründet für geistig Behinderte. Dort wohnt Noel zum ersten Mal in seinem Leben mit anderen Behinderten zusammen, Valentin, Alice, Gitta. Was Ross hier leistet, kann man kaum hoch genug einschätzen: Der Leser, der sich gerade erst an Noel gewöhnt hat, kriegt hier gleich ein halbes Dutzend weitere Kandidaten desselben Kalibers geliefert. Ross macht das einzig Richtige: Er bremst nicht ab, er drückt aufs Tempo, rücksichtslos, wahrhaftig, lakonisch.


Recherche vor Ort, dann angstfrei voraus!


Illustration: Mikael Ross - Avant Verlag

Rund zweieinhalb Jahre hat er an dem Comic gearbeitet, er hatte ein eigenes Apartment in Neuerkerode, das er immer wieder für drei oder vier Tage am Stück bezogen hat, um in diese eigenwillige Welt einzutauchen. „Du musst dich drauf einlassen“, sagt er, „denn dort bist du total in der Minderheit. Dort bist du derjenige, der sich anpassen muss.“ Diese andere Normalität lässt Ross ungezügelt auf den Leser los, und siehe da – auch der passt sich an.


Man akzeptiert diesen eigenwilligen Kosmos, der irgendwie verzaubert ist: Nicht schön verzaubert, nicht hässlich verzaubert, aber verzaubert. Mit eigenen Worten, eigenen Bildern, eigenen Gesetzen, die unseren ziemlich ähnlich sind: Es gibt Liebe, Hass, Kummer, Angst, Neugier, Grübeln, aber nichts davon ist gedämpft, vieles sogar kindlich verstärkt.


Schonungslos und einfühlsam


Mikael Ross hat das nicht nur exzellent beobachtet, er findet auch angemessene Bilder. Für Neuerkerode sowieso, das Schwimmbad, der Herbstwald, die Grünanlagen, der Tanznebel in der Diskothek, Stadtansichten und Regenlandschaften, das ist alles hübsch reduziert und inszeniert. Aber seine wahre Stärke ist der Umgang mit seinem Personal: Ross‘ Zeichnungen, deutlich von Christophe Blain inspiriert, sind eine Mischung aus Karikatur und Hommage, aus spartanischer Trockenheit und sprühender Übertreibung in Bewegungen und Posen.


Illustration: Mikael Ross - Avant Verlag

Was dadurch zusätzlich erschwert ist, weil seine Protagonisten alle keine Idealfiguren haben. Noel ist klein und dicklich, Valentin dünn und verspannt wie eine Schreibtischlampe, Penelope hat den Körper einer rumänischen Kugelstoßerin der Hochdopingzeit. Ross ist das egal, und Schmerzgrenzen ignoriert er sowieso: Noel hat sich in Penelope verliebt, aber die lässt ihn wegen Kevin abblitzen. Als Noel danach einen weiteren Ex-Verehrer von ihr trifft, malen sie sich genüsslich gegenseitig absurd-garstige Höllenqualen für Kevin aus. Nein, sympathisch ist das nicht, aber von einer bizarren Komik – und authentisch: Es macht aus Noel einen echten Menschen. „Man muss seine Figuren wirklich lieben“, sagt Ross, „man muss sie ernst nehmen, damit sie richtige Geschichten erleben können.“


Geschickt herausgepickte Geschichten


Dass Ross sie aber auch erzählen kann, ist ein weiterer Glücksfall. Die Geschichten seiner bisherigen Comics „Totem“ und „Lauter leben“ lieferten ihm noch Szenaristen zu, „Der Umfall“ zeigt, dass Ross auch die kleinen und großen Spannungsbögen beherrscht, nebst einigen kleinen Umleitungen. Unvorstellbar, dass der gebürtige Münchner immer noch nur semiprofessionell arbeitet: der gelernte Kostümschneider näht noch immer für die Salzburger Festspiele. Der letzte Glücksfall allerdings ist der Auftraggeber.

Es gibt am Ende ein dreiseitiges Nachwort von der Evangelischen Stiftung Neuerkerode. Erst hier bemerkt man: Der Comic ist irgendwie offiziell und hatte einen Auftraggeber, der es offenbar fertiggebracht hat, Rücksichtnahmen und Bedenken über Bord zu werfen und sich dem Zeichner anzuvertrauen. Man kann zu dem Entschluss nur gratulieren.


Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.

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