- 3. Sept. 2023
Der Reiz der Authentizität macht Comic-Biografien zum Trend, hat aber seine Tücken. Drei Beispiele zwischen Annäherung und Abgreife

Der Vorteil von Biografien liegt auf der Hand: Es entfällt der schöne Vorspann-Satz „Nach einer wahren Geschichte.“ Alles ist echt! Alles ist wirklich passiert! Weshalb der Autor eigentlich aus dem ganzen echten Kram nur noch die Rosinen raussuchen muss, oder?
Leider ergeben lauter Rosinen zunächst mal nur einen Haufen Rosinen. Man braucht also doch wieder sowas wie einen Teig drumrum. Und das kriegen nicht alle Biografie-Bäcker hin. Jedenfalls nicht bei diesen drei Beispielen.
Schwacher Start, starker Spurt

„Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist eigentlich schon ziemlich gut. Etwas Etikettenschwindel ist zwar beim Leben des in Südamerika untergetauchten Auschwitz-Arztes dabei: Vorlage ist der gleichnamige Roman von Olivier Guez. Doch was Jörg Mailliet daraus zeichnet, ist sehenswert. Eine subversive Atmosphäre dank viel Schwarz und Schatten. Sparsame Details, was bei ihm (wie bei Jacques Tardi) dazu führt, dass das lesende Auge Feinheiten selbst ergänzt. Abwechslungs- und einfallsreiche Bildeinstellungen, eine gute Auswahl von Panels und sehenswerten Splashes. Eine schöne Kolorierung, die von einer braunvergilbten Vergangenheit in eine sonnendurchflutete Gegenwart alles hergibt. Einziges Problem: Szenarist Matz, der erneut Dinge lieber erklärt als zeigt. Die erste Hälfte des Bandes ist voller Vorträge, die irgendwer irgendwem hält oder auch einfach mal endlos für sich selber denkt. Überraschend lässt das ausgerechnet in der zweiten Hälfte nach: Denn obwohl Mengele gerade hier oft allein im Urwald sitzt, hält sich Matz plötzlich angenehm zurück, der Band wird gegen Ende hin fesselnd. Warum denn nicht gleich so?
Lemmy und die Trittbrettfahrer

Erwartungsgemäß furchtbar: „Motörhead – der Aufstieg der lautesten Band der Welt“. „Erwartungsgemäß“, weil Musikbiografien erfahrungsgemäß gefährdet sind, auf Hits und Klischees reduziert zu werden. Hier haben zwei Autoren ein Szenario für drei Zeichner zusammengekleistert, bei dem „Motörhead“-Mastermind Lemmy Kilmister möglichst oft dem Leser zuprostet, rumknutscht, irgendwelche Songzeilen singt, uralte Anekdoten erlebt. Ebenfalls erwartungsgemäß kubikschlimm: Liveszenen.
Wenig ist schwieriger als die Bewegungen eines Rockkonzerts zu einer Momentaufnahme zu verdichten: Weil die attraktiven Momente der Instrumente kaum gleichzeitig stattfinden. Also macht auch hier die Gitarre dies, der Bass das, der Drummer rudert irgendwie dazu. Hingegen entfällt der Versuch, den einzigartigen „Motörhead“-Sound rund um Kilmisters dumpfe Bass-Akkorde darzustellen, genauso wie das Ausleuchten der charakterstarken Person Lemmy, die diesen schwerverkäuflichen Hochgeschwindigkeits-Klangbrei praktisch im Alleingang zum coolen Klassiker machte. Nein, das alles liest sich nicht nach Hommage, sondern eher nach Trittbrettfahrerei. Darauf keinen Whisky-Cola.
Brillanz in blassblau

Und der Sieger ist: „Madeleine, die Widerständige“. Hätte ich auch nicht gedacht, weil ich zuallererst meinte: „Ach je, schon wieder Drittes Reich!“ Das Szenario von JD Morvan beruht auf seinen Interviews mit der Résistance-Kämpferin Madeleine Riffaud und zieht den Leser geschickt in die beklemmende Untergrundarbeit. Denn: Wo findet man denn überhaupt diese Résistance, wenn man als junge Frau empört über den deutschen Einmarsch mitmachen möchte? Morvan zeichnet in Band 1 (von drei geplanten) die ersten Schritte einer ungeduldigen 17-Jährigen, die mühsam Verbindungen knüpft und sich zwischen Beziehung und Besatzung zu beweisen versucht (wer's kennt: Es geht in der Praxis ziemlich in die Richtung von Jean-Pierre Melvilles düsterer „Armee im Schatten“).
Der Gefahr des Abenteuer-Abklapperns entgeht Morvan, indem er einerseits gerade das Spannende in den stillen Momenten entdeckt, und indem er Zeichner Dominique Bertail die großen Momente fast wortlos überlässt. Die regennassen Straßen, den Tieffliegerangriff auf wehrlose Flüchtlinge, Morvan legt nur einige Gedanken Madeleines dazu, die Action, die Atmosphäre vertraut Morvan Bertail an. Eine seiner stärksten Szenen: die Ankunft Madeleines in der TBC-Klinik in den Bergen. Bertail zeichnet schwarz-weiß, nur mit Blau als Ergänzungsfarbe, aber im Unterschied zum gleichartigen Motörhead-Band (oben) weiß er damit was anzufangen. Und so taucht auf der ganz von Bergrücken überragten Seite unten ein Taxi aus dem blauweißen Schnee. Nur zwei kurze Sätze sagt der Taxifahrer, bis sich zum Schluss die Klinik blassblau aus dem blendenden Weiß schält. Hübsch, aber keiner sagt, dass spannende Weltkriegs-Geschichten nicht auch mit zauberhaften Bildern arbeiten dürften.
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- 14. Aug. 2023
Als Cartoonistin berühmt, aber als Autobiografin viel besser: Marie Marcks' grandiose Aufzeichnungen ihrer sehr deutschen Geschichte

Heute wird’s günstig. Weil alt. Heißt: Sie werden sich möglicherweise (s.u.) auf dem Gebrauchtbüchermarkt bedienen müssen. Ja, sorry, ist halt so. Und eigentlich gar nicht sorry, denn Sie wissen doch: Comics bedeuten Kohlenstoff im Regal statt CO2 in der Atmosphäre. Alles klar? Gut. Thema heute: Marie Marcks. Und zwar ihre beiden autobiographischen Bände „Marie, es brennt!“ (1984) und „Schwarz-weiß und bunt“ (1989). Jaaa, sehr alt. Aber unglaublich lohnend.
Die Frau mit der Wärmepumpe
Ich kannte Frau Marcks bislang vor allem aus Rororo-Rotfuchszeiten, also vom Kinderbuch. In den 70ern machte sie comicartige Bildgeschichten aus dem Familienleben, in denen Kinder gegen Atomstrom demonstrierten, aber gerne den ganzen Tag das Licht brennen und den Wäschetrockner glühen ließen. Die Stories waren witzig, gut beobachtet, man erkannte sich als Erwachsener und als Kind wieder. Und, beim kürzlichen Wiederlesen, was fand ich da, fast 50 Jahre alt? Die Empfehlung einer Wärmepumpe. Nur mal so am Rande.

Als letztes Jahr zu ihrem 100. Geburtstag alle an sie erinnerten, bestellte ich, was mir noch fehlte. Was zu einer großen Enttäuschung führte und zu einer noch größeren Entdeckung. Die Enttäuschung: Marcks‘ Cartoons waren oft mau. Sehr gut gemeint, aber arg platt, und der Unternehmer ist immer der böse Doofi. Umso besser, bewegender, treffender war Marcks als bebilderte Erzählerin.
Zwischen Karotten und Briketts
Besonders schön: Das funktioniert ohne Anlauf, wie schon der erste Halbsatz in „Marie, es brennt!“ zeigt, der sich ihrem Geburtsjahr widmet: „Mitten in der Inflation, als 1 Mohrrübe 10.000.- Mark kostete und sich meine Mutter ihren Unterricht in Briketts bezahlen ließ…“ Dazu gibt es: eine hübsche randlose Zeichnung der Mutter auf dem Rübenfeld, in einer Mondnacht, verstohlen Karotten rupfend. Und eine breites Bild des Zeichenunterrichts im zum Atelier umfunktionierten Esszimmer. Man sieht den Parkettboden, die Schüler mit den Briketts, den Kachelofen, die Tische, und alle mit der Marcksschen naiven Ernsthaftigkeit. Marcks zeichnet hier mit Buntstift, sympathisch, unaufwändig, Text und Bild greifen sich schön ergänzend ineinander und zeigen sofort Marcks‘ Stärke: der beiläufig wirkende, aber ungemein exakte Blick, die präzise, stimmungsvolle Zeichnung, der ironisch-treffende Kommentar, dessen Schärfe sie von mild bis beißend stufenlos regeln kann.

Die Kindheit etwa, mit all ihren Peinlichkeiten, aber auch den konkurrierenden Jugendgruppen von evangelisch bis deutschnational, bekommt die milde Marie ab. Wohlgemerkt mild, nicht verklärend: Bei Marcks finden sich auch Raritäten wie diese Beschreibung der ersten Bombenangriffe 1943: „Ich muss gestehen, dass ich es unheimlich gut (damals: irrsinnig prima) fand, wenn es in der Nachbarschaft brannte, und der Angriff am 1. März war der tollste.“
Mit schmunzelnder Fassungslosigkeit
Marcks ist damals 21, sie verliebt sich gern und viel in einem Deutschland, das immer chaotischer, düsterer dem Zusammenbruch entgegentaumelt. Was man bis zur Wohnungsnot der Nachkriegsjahre in schmunzelnder Fassungslosigkeit verfolgt.
Vor diesem Hintergrund ist Marcks‘ Weg in die künstlerische Selbständigkeit in „Schwarz-weiß und bunt“ deutlich entspannter zu genießen. Was an Dramatik fehlt, ersetzt hier allerdings die optische Vielfalt. Nach dem Krieg suchte niemand Cartoonisten, dafür waren Gebrauchsgrafiker begehrt. Marcks, immer auf Arbeitssuche, deckte überraschend viele Stile ab. Wer (wie ich) nur mit ihren bekannten staksigen Figuren rechnet, staunt über die grafische Vielfalt, Schneide- und Drucktechniken, Federzeichnungen – chamäleonartig, gar nicht marcksig. Sie behauptet sich im Beruf, wobei ihr unterwegs ihr Hauptthema begegnet: die alleinerziehende Frau. Denn Marcks war nicht immer partnerschaftlich so auf- und eingeräumt, wie es damals üblich war. Fünf Kinder zieht sie groß, mal mit Patchwork, auch mal partnerlos.

Angenehm ist dabei der Tonfall: zwar ist jederzeit klar, dass Marcks die Verteilung von Belastung, Bezahlung und Berufsaussichten höchst ungerecht findet, dennoch gibt’s statt Selbstmitleid die Rezepte „Mundaufmachen“ und „Wehren“. Ein Beispiel? Marcks soll die Beschriftung der Räume einer Wirtschaftshochschule entwerfen, die lukrative Beschriftung selbst soll an eine Malerfirma gehen. Argument: „Sie können sich doch nicht als Frau mit Malstock und Pinsel hinstellen und tausende Buchstaben malen.“ Marcks macht den Mund auf, kriegt den Auftrag und pinselt, „bis mir der Arm abfault“.
Eine unprätentiöse, aber auch unbequeme Zeitreise, die man einzeln gebraucht günstig kriegt. Wer etwas mehr Geld übrig hat, findet die Autobiographie auch in der zweibändigen Werkausgabe. Und kriegt eine Menge Marcks dazu
Marie Marcks, Schwarz-weiß und bunt, Frauenbuch Verlag, Weismann Verlag, Verlag Antje Kunstmann, Büchergilde Gutenberg.
Marie Marcks, Marie, es brennt!, Frauenbuch Verlag, Weismann Verlag, Verlag Antje Kunstmann, Büchergilde Gutenberg
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- 30. Juli 2023
800 Bilder in 18 Monaten: Das fieberhafte Mammutwerk „Leben? oder Theater?“ der in Auschwitz ermordeten Künstlerin Charlotte Salomon - live und online

Besser spät als nie, und es ist ja auch noch etwas hin bis 10. September: Wer in München Zeit hat oder am Hauptbahnhof noch zwei Stunden auf den Anschlusszug warten muss, dem lege ich die aktuelle Charlotte Salomon-Ausstellung ans Herz. Gerade bei Regen: Drei U2-Minuten vom Hauptbahnhof entfernt muss man nämlich nicht mal den Bahnhof „Königsplatz“ verlassen, sondern geht gleich im Zwischengeschoss in den „Kunstbau“, eine gigantische, eigenwillige, unterirdische Beton-Schuhschachtel. Dort findet sich Salomons „Leben? oder Theater?“, eine eindringliche Mischung aus realem Schicksal und sehr, sehr comicartiger Kunst aus den 40er Jahren.
Selbstmord als Familienleiden

Charlotte Salomon studiert 1936 in Berlin Kunst, bis die junge Jüdin 1939 vor den Nazis nach Südfrankreich emigriert, zu ihren geflohenen Großeltern. Im Jahr darauf passiert zweierlei: Die Oma bringt sich um, und Opa enthüllt, dass der Suizid nicht unerwartet kam, es gab zuvor andere Versuche. Zudem verrät er, dass sich Selbstmorde wie ein roter Faden durch die Familie ziehen, bereits seine beiden Töchter (also auch Charlottes Mutter) brachten sich um, dazu noch weitere Familienmitglieder. 1940 überrollt außerdem Nazideutschland Charlottes Asylland Frankreich, sie und ihr Opa werden vorübergehend interniert.
Charlotte fühlt sich doppelt bedroht: von den Nazis und vom Familienwahnsinn. Als eine Art Therapie beginnt sie zu malen. Hektisch, weil sie nicht weiß, wie lange sie in einer Naziwelt noch frei sein wird. Die Angst ist berechtigt: 1943 wird sie verraten, nach Auschwitz deportiert und dort mit ihrem ungeborenen Kind umgebracht. Doch ihr Werk hat sie bereits vollendet. In nur anderthalb Jahren entstand aus ihrer Familiengeschichte ein halbfiktives „Singespiel“, mit über 800 sehenswerten Bildtafeln als einer Art sehr detailliertem Storyboard.
„Sequential Art“ ohne Vorbild

Dabei überraschen vor allem zwei Elemente: Die fieberhafte Geschwindigkeit, in der Salomon gearbeitet haben muss, zwei, drei oder mehr Bilder am Tag fertigstellend – und zugleich die formale Sicherheit. Denn Salomon macht zwar eindeutig „Sequential Art“ im Eisnerschen Sinn, aber offenbar selbstentwickelt und auch noch ungewöhnlich variantenreich. Denn Vorbilder waren in Deutschland weder leicht erhältlich noch weit verbreitet, schon gar nicht in dieser „Graphic-Novel“-Länge. Und die junge französische Comicszene ihres Gastgeberlands fing zwar bereits mit eigenen Stoffen an, erzählte aber eher kommerziell und daher auch konventionell.
Salomons Arbeiten hingegen überwältigen mit einfallsreicher Bildaufteilung, mit kräftigen, lebendigen Farben, mit ungewöhnlichen Perspektiven und gewitzten Bildausschnitten. Und nach etwa 100 Bildern der Ausstellung wandert und mäandert auch zunehmend der Sprechtext in und durch das Bild. Das erinnert heute an die lustvolle Krakeligkeit eines Joann Sfar, wenn Salomon lange Monologe um Porträt-Variationen des Sprechenden windet, kommt Brecht Evens in den Sinn. Aber Salomon ist beiden rund 60 Jahre voraus.
Die Illusion der Sicherheit

Inhaltlich ist „Leben? oder Theater?“ eine Geschichte aus dem assimilierten deutschen Judentum. Über Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die sich akzeptiert wähnen, begeistert Weihnachten feiern, in trügerischer Sicherheit, die mit der Verfolgung durch die Nazis platzt wie eine Seifenblase. Bei Treffen diskutiert man plötzlich statt Kultur und Kunst über Auswanderungsländer. Salomon erzählt das mit fassungslosem Staunen, auch mit ungläubigem Humor.
Doch die Verfolgung ist nicht unbedingt das zentrale Element, die Familie und Beziehungsdramen von Charlottes Alter Ego sind in der Ausstellung durchaus gleichgewichtig. Wer auf der Homepage das Gesamtwerk betrachtet, findet im Verzeichnis unter dem Schlagwort „Nationalsozialismus“ sogar nur 47 von den weit über 900 Bildern und Entwürfen. Aber zu diesem Zeitpunkt war Salomon auch erst Opfer der Vertreibungs-, noch nicht der Mordmaschinerie.
Das Gesamtwerk gibt's online
Der Online-Besuch des Gesamtwerks empfiehlt sich übrigens auch deshalb, weil Salomons Gesamtgeschichte nie komplett gedruckt wurde und im Kunstbau ebenfalls nicht vollständig zu sehen ist – weshalb sich immer wieder neue, idyllische, dramatische, sarkastische Szenen entdecken lassen.

Besondere Eindringlichkeit gewinnt die Geschichte neben dem bitteren Ende Salomons in der Realität auch durch die Überlieferung: Vor ihrer Deportation vertraute sie das Mammutwerk einem Freund an, der es nach dem Krieg der Hauswirtin der Großeltern überreichte, „Leben? oder Theater?“ ist ihr gewidmet. Diese übergab die Kunstwerke Charlottes Eltern, die den Krieg in Holland überlebten, die Eltern vertrauten die Kunst 1971 dem Jüdischen Museum in Amsterdam an. Und wer keine Zeit für einen Abstecher nach München hat (oder diesen Text zu spät liest), kann das Gesamtwerk auf der dortigen Homepage exzellent aufbereitet genießen. Man kann heranzoomen, man kann die Bilder, die Salomon manchmal aus Papiernot beidseitig bemalte, wenden und über manche Seiten transparenten Text legen – was keine Spielerei ist, auch die Transparentseiten sind Teil des Salomonschen Gesamtkonzepts. Ein weiterer Grund, weshalb man die Ausstellung ordentlich durchgenudelt verlässt: überrascht, beeindruckt, bewegt.
Gesamtwerk online: charlotte.jck.nl
