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Comicverfuehrer

Faszinierende Vergangenheit unterschiedlich gut verarbeitet: „Das Unglück am Djatlow-Pass“ vs. „Columbusstraße“

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Illustration: Cédric Mayen/Alejandro González - Splitter Verlag

Geschichte hat einen Nachteil: Sie ist lange her. Weshalb der Blick in die Vergangenheit häufig unscharf wird. Zwei Beispiele zeigen jetzt, wie man damit umgehen könnte bzw. sollte – und wie eher nicht. Was auch deshalb spannend ist, weil ausgerechnet das Gegenbeispiel derzeit landauf, landab gefeiert wird.


Flucht aus dem Zelt bei Eiseskälte


Beispiel Nummer eins ist „Das Unglück am Djatlow-Pass. Die Story dahinter ist nicht total neu, aber längst keine olle Kamelle: 1959 geht eine neunköpfige russische Wandergruppe verloren. Als man ihre Leichen entdeckt, nehmen die Rätsel kein Ende. Die Gruppe ist zerstreut, manche Teilnehmer sind erfroren, manche tödlich verletzt, manche verstrahlt, extrem zersetzt. Manche nur teilweise bekleidet, was bei den Temperaturen genauso irrsinnig ist wie überhaupt der Gedanke, das schützende Zelt zu verlassen. Gruselgut, oder?

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Illustration: Cédric Mayen/Alejandro González - Splitter Verlag

Autor Cédric Mayen hört von der Story, stellt fest, dass es dazu noch keinen Comic gibt, kaum Filme und nur ein unbekannteres Computerspiel. Also schreibt er ein Skript, ohne das Rad dabei neu zu erfinden. Als Rahmenhandlung begleiten wir den (real existierenden) Milizionär Lew Iwanow bei den Ermittlungen und entdecken die mysteriösen, X-Files-würdigen Indizien. Und dazwischen begleiten wir in Rückblenden die Gruppe beim tagelangen Marsch durch Schnee, Wind und Eis.


Der dünne Boden der Tatsachen


Deren (erkennbar fiktive) Dialoge sind zwar manchmal etwas platt, aber denkbar. Zudem ist Mayen klug genug, die Gruppe immer dann zu verlassen, wenn der Boden der Tatsachen zu dünn wird. Wie er aber trotzdem einige Schockmomente unterbringt, ohne zu schummeln – das ist handwerklich sehr geschickt gemacht.

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Illustration: Cédric Mayen/Alejandro González - Splitter Verlag

Das Skript lässt Mayen vom Zeichner Alejandro González umsetzen. Konventionell, routiniert, aber eben auch eingängig. Die Einstellungen sind abwechslungsreich, konservativ, sagen wir: so zaghaft innovativ wie ein ARD-„Tatort“. Es gibt eine Sowjetunion in Graubrauntönen, schön frostige Rückblenden in weißer Wildnis, die Wandergruppe macht etwas viele launige Scherzchen – aber wer weiß, kann schon sein. Und so entfaltet sich die bizarre Tragödie, während González und Mayen viel richtig machen, indem sie einfach wenig falsch machen.


Noch mehr Extras zum Weitergrübeln


Mayen ist selbstverständlich auch so geschickt, ein Dossier anzuhängen, mit den gängigsten Theorien, den seriöseren und weniger seriösen. Das Einzige, was man sich noch wünschen könnte, wäre eine exaktere Karte mit den Fundorten, aber es gibt dafür jede Menge Hinweise auf einschlägige, gut sortierte Seiten im Netz.

 


Beklemmend braver Bedeutungshuber

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Illustration: Tobi Dahmen - Carlsen Verlag

Genau falsch rum macht es im Gegenzug leider Tobi Dahmen, der mit seinem Mammutwerk „Columbusstraße“ derzeit gefeiert wird. Es ist laut SWR „eindrucksvoll“, „akribisch recherchiert“ (WDR), und auch Andreas Platthaus, der schon einige Comics gelesen hat, erblasst vor dem „beklemmend revolutionären“ Werk, das er spürbar gern mit dem „Max-und-Moritz-Preis“ belohnt gesehen hätte. Und bei der Tagesspiegel-Quartalsliste kriegen sie sich überhaupt nicht mehr ein. Aber je genauer man hinsieht, desto mehr staunt man über diese Begeisterung.


Von Ängsten gebeutelt


Denn den Kritikern zufolge liefert Dahmen das ganz große Ding: Die Geschichte der Deutschen im Krieg, geschildert anhand seiner Familie. Die sich dazu tatsächlich anbietet: Dahmens Opa war großbürgerlicher Anwalt im Dritten Reich, Papa musste durch die NS-Erziehung, zwei Onkel waren im Krieg dabei, alle schrieben tüchtig Briefe, dazu spielt die Story in Düsseldorf, einer der meistbombardierten Städte Deutschlands. Heimat-, Ost- und Westfront, politischer Alltag, Kinderlandverschickung, soviel Material, da kann es einem Himmelangst werden – und Dahmen wird offenbar gleich von mehreren Ängsten gebeutelt.

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Illustration: Tobi Dahmen - Carlsen Verlag

Da wäre die Angst vorm Weglassen. Die Angst vorm Verharmlosen. Die Angst vorm Vernachlässigen und vorm Urteil der eigenen Familie. Die Angst vorm Langweilen. Man könnte mit solchen Ängsten umgehen, wenn man das richtige Werkzeug hätte. Und Dahmen hat es auch – aber nur in einem einzigen Fall. Bei seinem Onkel Eberhard.


Sparsames Geschick


Der ist hinter der Ostfront eingesetzt, bei einer übel beleumundeten Säuberungstruppe. Doch Eberhard schreibt (zensurbedingt) der Heimat nur recht neutrale Briefe. Was also tun? Dahmen nutzt die Möglichkeiten des Comics: Er zeichnet eine Erschießungsszene, der ein Puzzleteil fehlt. Zu Eberhards harmlosem Brieftext bietet er drei passende Puzzleteile an: Eberhard sieht zu. Eberhard schießt selbst. Eberhard macht was anderes. Tatsächliches, Wahrscheinliches und Mögliches auf den Punkt gebracht. Warum nicht öfter so geschickt?

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Illustration: Tobi Dahmen - Carlsen Verlag

Weil Dahmen „vielleicht“ nicht reicht. Er will alles aus erster Hand, und diese Hand muss die Familie sein, selbst wenn es die Texte nicht hergeben. Was dazu führt, dass alles, was der Familie zustößt, bedeutend sein muss, und alles, was im Krieg bedeutend war, der Familie zugestoßen sein muss. Doch weil dem leider nicht so ist, beginnt Dahmen schnell, allerhand zurechtzubiegen: Briefmonologe wandelt er zu Dialogen. Schaurige Details wie der im Stehen erfrorene Soldat in Russland tauchen einfach ohne Beleg auf, und für Episoden wie den US-Panzer in Düsseldorf wählt Dahmen statt der wahrscheinlichen Panzersorte einfach mal die attraktivere. Immer wieder illustriert er Briefe von der Front mit Szenen, die der Text nicht belegt. Um authentisch zu bleiben, müsste er beim Brieftext bleiben oder solche Szenen fiktiven Personen zuschreiben, aber Dahmen will unbedingt beides zugleich. Das macht historische Realität zum „Wird wohl so gewesen sein“.


Unzuverlässiger Erzähler


Gewichtet wird schnell überhaupt nicht mehr, alles muss rein und Kriegsgreuel kriegen so viel Platz wie die heimatliche Angst der Kinder vorm Kinderschreck. Dahmen will zwar dem Ganzen noch Relevanz verleihen, indem er ein „umfangreiches Glossar“ (SWR) anhängt, Belege sammelt und sogar das Glossar noch belegt, was den Verlag von „akribischer Recherche“ träumen lässt. Aber in drei Vierteln der Fälle nimmt Dahmen als Quelle einfach Wikipedia. Und sogar Goebbels' leicht auffindbare Sportpalastrede sammelt er aus zweiter Hand ein. Das ist nicht „akribisch“, sondern methodisch fragwürdig (und für bestellende Schulklassen wenig vorbildlich). Und ein echter Akribiker wie etwa Joe Sacco hätte bei einem Trommelfeuer wohl auch Artilleriegranaten gezeichnet statt Gewehrkugeln, die zum Fenster reinfliegen.

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Illustration: Tobi Dahmen - Carlsen Verlag

Den Druck, unter dem Dahmen steht, spürt man immer wieder, wenn ihm gesicherte Zahlen die Verantwortung abnehmen, wie beim Großangriff vom 1. August 1942: Dann zählt er erleichtert 70 Halifax- und 113 Lancaster-Bomber vor, parallel dazu die Opfer (293 Tote). Die Chance zu weiterführenden Einsichten, die sich bietet als Familie Dahmen vom anderen Ufer das Inferno beobachtet, bleibt hingegen ungenutzt. Der echte Dialog fehlt, Dahmen hätte also alle Freiheiten. Aber Dahmen lässt Vati nur auf die „verfluchten Engländer“ schimpfen, und Mutti jammert vorhersehbar „Unsere schöne, schöne Stadt!“ Das ist nicht beklemmend, sondern so brav wie der gefällige karikierend-niedliche Stil Sorte „Glückskind“.


Ein Schlachtkessel Buntes


So bleibt ein 500 Seiten dicker Schlachtkessel Buntes, der zwar mit über drei Pfund Lesendgewicht eindrucksvoll bedeutungshubert, aber die im Klappentext gestellte Frage nach der Verantwortung praktisch nie beantwortet. Ist aber auch schwer, wenn man überhaupt erst nach der NS-Machtergreifung anfängt. „Man hätte früher reagieren müssen“, sagt Papa Dahmen an der einzigen (!) Stelle, die sich dem Problem nähert. Recht dünn in einer Zeit, in der Teile Deutschlands bereits wieder eine Truppe mit Nazipotential zur stärksten Partei wählen. Aber schon hasten wir weiter zur nächsten Episode des knappen Dutzends Hauptpersonen. Und man fragt sich, warum der Autor eigentlich nicht einfach die simplen Tricks bekannter Vorbilder nutzte.

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Illustration: Tobi Dahmen - Carlsen Verlag

Art Spiegelman und Jacques Tardi blieben bei den Erinnerungen ihrer Väter und versuchten sich weder an einer Geschichte von Auschwitz noch an einer des Zweiten Weltkriegs. Jason Lutes entschied sich für die Weimarer Zeit, versuchte aber nicht, sie in seiner Verwandtschaft zu finden. Und Titus Ackermanns Low-Budget-Experiment zeigt, wie eine präzise Fragestellung das Verzetteln verhindert. So hätte man auch Dahmens unbestreitbar großen Aufwand in fokussierte Bahnen lenken können. Etwa als Serie, die sich einzelnen Familienmitgliedern widmet und dann ein Gesamtbild ergibt. Aber es musste offenbar die ganz große Saga werden, die übrigens immer noch nicht groß genug scheint: Laut Anmerkungen ist ein zweiter Band unterwegs.



 

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  • 9. Juni 2024

Blast from the Past: Ein Diebesduo aus der Römerzeit zeigt, wie ein kompletter Neustart für den müden Gallier aussehen könnte

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Illustration: Appollo/Hervé Tanquerelle - avant-verlag

Sie wollen wissen, wie „Asterix“ heute aussehen könnte? Also: Ein „Asterix“ für Erwachsene im 21. Jahrhundert, dem klar ist, dass er ohne Uderzos penibel-bissige Optik und Goscinnys Genialität auskommen muss? Es gibt sowas, und ich war hingerissen. Es heißt natürlich nicht „Asterix“, aber es gibt Römer, es gibt einen blonden Gallier, und es spielt in Nordafrika. Der Comic heißt „Die Diebe von Karthago“, erschienen 2015, ist aber nach wie vor lieferbar – und das sollten Sie unbedingt nutzen!


Rettung mit Sexrendite


Szenarist Appollo (eigentlich Olivier Appollodorus, nein, kein Römer) hat die Handlung ins Jahr 146 v. Chr. gelegt, als die von Römern umzingelte Stadt Karthago vor dem Fall steht. Die Diebe Horodamus und Berkan beobachten einen Überfall auf eine Karawane und retten die schöne Tara, weil man sie gut vergewaltigen und zu Geld machen kann. Aber Tara gelingt es, den beiden eine Idee aufzuschwatzen.

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Illustration: Appollo/Hervé Tanquerelle - avant-verlag

Ihr Vorschlag: Man könnte die bevorstehende Eroberung Karthagos nutzen, den dortigen Tempel der Tanit ausplündern und im Chaos das Gold aus der Stadt schmuggeln. Man muss nur in die belagerte Stadt kommen und wieder raus. Da sind wir erst auf Seite 13, und ich weiß schon gar nicht mehr, über was ich mich zuerst freuen soll.


Die überraschende Absurdität des Todes


Die beiden Diebe, einer Gallier, einer Numide, einer schwarz, einer weiß, einer etwas klüger, einer etwas impulsiver, unterhalten sich wunderbar ruppig, frech. Die Farben des (hier schon mehrfach gelobten) Hervé Tanquerelle sind satt, die Perspektiven abwechslungsreich, der Überfall auf die Karawane ist von jener grotesken Härte, die man bei Blain, Sfar, Trondheim findet und die die überraschende Absurdität des Todes oft exakter beschreibt als Nüchternheit.

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Illustration: Appollo/Hervé Tanquerelle - avant-verlag

Zeichnungen und Story sind historisch akkurat, die Dialoge, Handlungen, Motive schlüssig, und dann packt Appollo in die antike Härte auch noch den Heist-Twist vom genialen Raubüberfall gegen jede Wahrscheinlichkeit. Das Beste daran: Alles geht auf! Denn aus alldem hätte auch ein schauriger Kessel Buntes werden können, der nichts richtig durchhält und vor jeder Konsequenz zurückscheut.


Bitterer Humor ohne Zaubertrank


Aber Appollo jongliert mit allen Bestandteilen so unglaublich sicher, dass man sich seinem gallebitteren Humor anvertraut und gefesselt dabeibleibt, auch wenn er die Schrauben dann immer erbarmungsloser anzieht. Und er zieht sie an, mein lieber Schwan. Denn hier gibt es keinen Zaubertrank, der irgendwas zu einem vergnüglichen Spaß abmildern könnte, bei dem man Helmchen zählt. Hier zählt das Recht des Stärkeren und manchmal das des Clevereren.

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Illustration: Appollo/Hervé Tanquerelle - avant-verlag

Hauptantrieb der Story bleibt das Tempelgold, aber immer wieder zeigt Appollo, dass Soldaten und Söldner nicht nur potentielle Mörder, sondern auch potentielle Vergewaltiger und Kriegsverbrecher sind. Zudem gehört die Eroberung des beinahe wehrlosen Karthago mit zum Übelsten, was die Römer sich so geleistet haben. Tanquerelles Kunst macht das Ganze ansehnlich und kaum erträglich zugleich. Kreuzigungen in glühender Sonne, nächtliche Angriffe im Fackelschein, opulent und abstoßend, aufregend und beängstigend. Und zwei Helden samt Heldin, um die man richtig Angst haben muss.


Antiker Blockbuster


Wie’s ausgeht, sag ich natürlich nicht. Aber wer eine grobe Ahnung davon bekommen möchte, wie ein relaunchter Asterix aussehen könnte, der mit den alten Bänden eben nicht direkt konkurriert, sondern etwas Neues hinzufügt. „Die Diebe von Karthago“ zeigen es in einem brillanten Krimiactiondrama. In Blockbusterqualität.

 



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Sachcomics auf Bestellung können Inhalte spannend vermitteln oder lau abarbeiten. Vier Bände nutzen die Chance mal gut, mal besser, mal nicht

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Illustration: Francois und Emmanuel Lepage - Splitter Verlag

Comics werden gerne genutzt, um Themen zu vermitteln. Allerdings nicht immer, weil irgendjemand die Verbindung von Text und Bild für so geeignet hält. Sondern: Weil man (gerade in Deutschland) der Ansicht ist, das sei doch irgendwie was für junge Leute. Man macht ein paar Bilder und Blasen, und dann kommt der Rest von alleine. Ist das so? Es gibt einen Band, der die Messlatte für Comics von comicfremden Auftraggebern darstellt: Mikael Ross‘ „Der Umfall“. Der umging mit Glück und Geschick sämtliche Fallstricke und wurde zum mutigen Überraschungserfolg. Vier ähnlich entstandene Bände haben sich inzwischen wieder angesammelt, und es stellt sich ziemlich rasch heraus: An den „Umfall“ kommt vorerst niemand ran. Trotzdem ist manches lesenswert.


Da fehlt schon mal Salz!

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Illustration: Simon Schwartz - avant-verlag

Nummer eins ist eine typische Auftragsarbeit. Das Salzkammergut ist 2024 Kulturhauptstadt, also machen die örtlichen Salzwelten was mit Kultur, einen Comic. Man nimmt Geld in die Hand und findet den tadellosen Zeichner/Autor Simon Schwartz. Der mit „Das Parlament“ schon eine Auftragsarbeit gemanagt hat. Das ist vertrauensbildend, weil: Bei solchen Arbeiten kann’s immer passieren, dass der Auftraggeber nölt. Und dann sollte der Künstler diplomatisch sein, möglichst auch nicht so extrem, dass es arg nach Kunst aussieht. Ergebnis: ein solide-braver Comic für den Museums-Shop, der tatsächlich keine einzige Sprechblase enthält. Der Text kommt in Kästen, damit fühlt sich’s für Skeptiker schon comicartig an, ist aber auch irgendwie noch ein Sachbuch. Schwartz klappert die Historie so überraschungsarm und bergbaukonzentriert ab, dass nicht mal drinsteht, wozu die Leute überhaupt seit Jahrtausenden alle so dringend das „weiße Gold“  brauchten, vermutlich für ihre Pommes frites. Praktisch die Hälfte der knapp 30 Seiten fokussiert sich immerhin auf den skandalträchtigsten Knüller: Nazikram, also Raubkunst und Hitler. Fazit: Hier ist der Comic weder geschickt eingesetzt noch erschließt er neue Interessenten. Aber er stört auch nicht.  


Eiskalte Profis

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Illustration: Francois und Emmanuel Lepage - Splitter Verlag

Nummer zwei ist da ganz anders, da ist nämlich der Künstler nicht der einzige Profi: „Weiß wie der Mond“ heißt der Band, der mir als Nachwehe des „Kerguelen-Archipels“ in die Hände fällt, und genau so war’s auch gedacht. Weil in Frankreich nämlich mehr Leute Comics lesen, lesen auch mehr Wissenschaftler Comics und damit auch eben jenen Band. Deshalb fragte das Französische Polarinstitut Autor Emmanuel Lepage, ob er sowas auch über die französische Antarktis-Basis machen möchte. Lepage will, und er will nicht nur hinfahren, sondern mitarbeiten, nämlich beim Raid: Einem von jährlich nur vier Versorgungstrecks, bei denen man mit gigantischen Raupenfahrzeugen containergroße Schlitten hinter sich her durch 1200 Kilometer Eiswüste zieht. Auf den Schlitten ist alles, was die Station fürs nächste Vierteljahr braucht. Ein idealer Job für Lepage, der weniger Reporter als Beobachter und Zeichner ist. Das Ergebnis sind 250 Seiten grandioses Eiswüstenberichtsabenteuer zum Fingerlecken, ein mutiger 40-Euro-Band, der alle Stärken des Mediums ausspielen kann, weil alle Beteiligten wissen, warum sie aus diesem Thema einen Comic machen wollen.


Die Macher der Menschheit

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Illustration: Yuval Noah Harari/Daniel Casanave/David Vandermeulen - C. H. Beck

Auch der nächste Band ist Ergebnis der gut funktionierenden französischen Comic-Industrie, wenn auch eines etwas anderen Zweigs: der Comicverwertung bereits bestehender Bücher. Kürzlich etwa des deutschen Export-Försters Peter Wohlleben, der auf diese Weise bumerangartig als Comicversion wieder nach Deutschland kam. Oder jetzt Yuval Noah Hararis Sachbuchbestseller „Sapiens“, von einem Profi (David Vandermeulen) zum dreiteiligen Comic-Skript verarbeitet, von einem weiteren Profi (Daniel Casanave) gezeichnet. Beides nicht überwältigend, aber extrem routiniert. Ich als Nicht-Harari-Kenner hab „Sapiens – Das Spiel der Welten“ schmerzfrei gelesen, der als Casting-Show arrangierte Wettstreit der politisch wirksamen Kräfte (Religion, Geld, etc.) um den Spitzenplatz innerhalb der Menschheitsgeschichte ist mittelwitzig, aber nicht hinderlich. Ein hochprofessionelles Produkt, künstlerisch weder fordernd noch abschreckend. Aber sowas entsteht nun mal in einem Land, in dem Leute einfach gern Comics lesen. Und nicht in einem, in dem der „Süddeutschen Zeitung“ bei der Rezension als einzigem (!) Comic-Bezug des gesamten Seitenaufmachers die Frage an Harari einfällt, ob er nicht Angst hätte, dass man ihn nicht mehr ernstnähme, „wenn er jetzt auch noch Comichefte“ macht.

Willkommen in den 50ern.


Auswärtsschwäche statt Heymvorteil

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Illustration: Gerald Richter/Marian Kretschmer - C. Bertelsmann

Au, au, au. Jetzt gibt's mal Comics vom Lehrer, weil: kann ja nich so schwer sein. Der Lehrer hat zwar noch nie einen Comic gemacht, aber dafür weiß er Bescheid über Stefan Heym und außerdem kommt er aus der Heym-Stadt Chemnitz, und das ist ja die Hauptsache. Für „Die sieben Leben des Stefan Heym“ hat man tatsächlich lauter Chemnitzer Kompetenz versammelt, doch das klappt nur bei Zeichnung und Grafik ordentlich. Gerald Richters Konzept hingegen verströmt Überforderung: Da weiß einer zu viel, und dann nicht mehr, was er erklären müsste und was er weglassen sollte. Dabei ist die (mir zuvor unbekannte) Heym-Story eigentlich sensationell: Ein jüdischer Autor und Frauenfreund flieht erst vor den Nazis nach Amerika, dann vor den McCarthy-Amis in die DDR, und überall eckt er an, setzt sich aber ziemlich oft durch. Leider wird Richters Heymvorteil in der Comicfremde rasch zur Auswärtsschwäche: Woher der als Helmut Flieg geborene Heym sein Pseudonym hat? Keine Ahnung, und wenn’s ein Rätsel ist, könnte man auch das mal erwähnen. Wie Heym überall reüssiert, wie er sogar Mutter und Bruder in die USA schleust: Nichts wird erklärt, stattdessen heißt's: „… aber irgendwann hat er es ja dann doch geschafft.“ Danke. Die Chronologie eiert, es gibt jede Menge Heym-Zitate, manchmal auch einfach nur „frei nach“ zurechtgedengelt. Dafür wird eingangs erklärt, wie ein Comic funktioniert und dass es Sprechblasen gibt. Mal kindgerecht duzen, dann schlüpfrig über einen „gierigen Schoß“ speicheln, bei so viel Orientierungslosigkeit ist man nur noch dankbar für zweierlei: Dass a) Zeichner Marian Kretschmer sich nicht vom Chaos hat anstecken lassen und dass b) die Heym-Story selbst so unkaputtbar ist. Ach so: Warum Heym „sieben Leben“ hat, welcher Abschnitt als Leben zählt, welcher nicht, ob's angesichts seiner Unverwüstlichkeit nicht besser neun (Katze!) sein sollten... ach, was soll's.


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