- 1. Dez. 2024
In Zeiten von Krisen und Rezension ist Schenken erste Bürgerpflicht: Sieben kleine Geschenktipps von kostbar bis kostenlos

Weihnachten, die letzte Insel der Seligen. Kinder duften nach Bratäpfeln, Zuckerwatte ersetzt flächendeckend den Schnee und in der allgemeinen Besinnlichkeit entdecken vereinzelte Amerikaner, was sie da eigentlich gewählt haben. Alles könnte so schön und friedlich sein, aber vor das Fest haben die Götter die Geschenke gesetzt. Woher nehmen und nicht stehlen? Aber gottseidank lesen Sie ja das richtige Blog zur richtigen Zeit.
Für Leute mit Tisch

Tja, damit kann man natürlich praktisch nichts falsch machen: Man geht zum Taschen-Verlag und erwirbt einen gefühlten Zentner Premium-Comics, beispielsweise den zweiten Sammelband der Marvel-Avengers-Abenteuer. Schön verschubert und verpackt in Originalgröße. Vorsicht: Originalgröße bedeutet hier die Größe der Originalzeichnungen, also die doppelte Heftgröße. Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil man die Hefte in diesem Umfang früher niemals unter der Bettdecke hätte lesen können. Sondern weil Sie heute berücksichtigen sollten, dass sowas auch fürs Sofa nicht so handlich ist: Beschenkte sollten für ermüdungsfreies Lesen wenigstens einen soliden Tisch in der Wohnung haben, eine hauseigene Bibliothek nebst Ohrenbackensessel wäre optimal. Bei Gefallen sind dann auch weitere Geschenk-Ideen für die nächsten Jahrzehnte gesichert, Sie müssen nur daran denken, die unteren Stockwerke ggf. baulich abzusichern. Aber wenn das alles bedacht ist: Mehr Marvel geht einfach nicht.
Für Lebende
Ein weiterer Teil der inoffiziellen Serie: Ist es überhaupt ein Comic? Tom Haugomat liefert mit „Ein ganzes Leben“ eine chronologische Erzählung in Jahresschritten. Rodney wird geboren und altert, und für jedes Jahr gibt es ein Bild Rodneys mit Ortsangabe sowie gegenüber etwas, das Rodney sieht. Was nicht nur eher wortlos klingt, sondern es auch ist. Aber es guckt sich sehr gut an: Fast schon meditativ blättert man durch die elegant designten Jahre, stets nur aus türkis/hellrot/ockergelb/weiß/schwarz zusammengesetzt. Das Konzept erinnert leicht an „Hundert“ von Valerio Vidali/Heike Faller: doch die schubsen noch mit kurzen Sätzen die Nachdenklichkeit an, während Haugomat die gesamte Kopfarbeit den Lesern freistellt. Funfact 1: beide Bände kommen aus der Schweiz. Funfact 2: „Ein ganzes Leben“ ist offenbar noch von einer echten Übersetzerin übersetzt, obwohl da wirklich nicht viel zu übersetzen war. Zu wünschen wäre es, aber vielleicht ist Philippa Smith auch irgendein Bot…
Für Tretende

Man möchte dringend, dass Max Julian Ottos „Es geht auch ohne Ehrgeiz“ funktioniert: Da ist so vieles sympathisch. Die Geschichte um den mittelalten Sohn eines verstorbenen Radprofis, der selbst das Radeln hasst, aber ein Café für Radfahrer eröffnet und in der Corona-Krise ins Zweifeln kommt. Die guten Beobachtungen, die professionellen, aber nicht zu anbiedernden Zeichnungen. Ottos Mut, den 200-Seiten-Comic einfach im Selbstverlag zu publizieren, in tadelloser Buchhandelsqualität, das fehlt sich nichts. Dazu fahr ich selber gern Fahrrad. Aber weil viele Einzelmomente noch keine gute Story ergeben, kommt die Geschichte selbst über nett leider nicht hinaus. Wobei: Der Radlersohn, der wieder zum Rad findet, das ist sehr, sehr gutes Wohlfühlmaterial, geeignet für Sat 1, ARD, ZDF, Familienfernsehen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Für politisch Denkende

Die Zukunft sieht düster aus. Die USA fallen als Demokratie weg, gehen außenpolitisch zur Schutzgelderpressung über, die anderen Staaten finden Einigkeit zu anstrengend und kochen nach und nach ebenfalls nationale Süppchen, die logischerweise immer dünner werden. Und jeder, der festzustellen wagt, dass es früher irgendwie besser war, wird als innenpolitischer Feind verfolgt. Nein, das gibt es nicht als Comic, das ist die reale Zukunft. Es gibt aber einen Comic, der im Vergleich dazu tröstlich wirkt: „Die Straße“ von Manu Larcenet nach dem Roman von Cormac McCarthy. Das Tröstliche: Diese Zukunft ist derart entsetzlich, dass sie Trump, Putin und Sahra Weidel zusammen nicht hinkriegen. Jedenfalls nicht in den nächsten zehn Jahren. Oder fünf.
Für Versöhnungsbedürftige

Wo treffen sich Gutmensch und Impfgegner? Genau, im Reformhaus. Und für dessen Monatszeitung „Reformhauskurier“ hat der große, leider schon tote Cartoonist Bernd Pfarr von 1988 bis 2004 den Comic-Strip „Alex der Rabe“ gezeichnet - der jetzt erstmals gesammelt erscheint. Alex ist eine Art Parallel-Donald Duck samt einer Daisy (Nicki), einem Gustav Gans (Dietrich), Düsentrieb (Professor Alonso). Band 1 ist jetzt erschienen und zeigt eine interessante Mischform: Einerseits sind die Episoden alle kindgerecht, mit eher schlichter One-Pager-Pointe wie im Micky-Maus-Heft. Aber bei mindestens fünf Episoden habe ich extrem gekichert, nicht zuletzt bei der mit dem Titel-Gag. Zusätzlich geschenkgerecht ist die Aufmachung des Buchs und natürlich die munter angeschrägte Pfarr-Optik. Und politisch wird’s – überhaupt nicht. Was wäre an Weihnachten willkommener?
Für lau

Okay, das geht nicht für jeden, aber für viele in NRW und je nach Reiselaune auch darüber hinaus. Und es kostet: nix, wenn Sie ein Deutschlandticket haben, vielleicht sogar zweimal nix. Das Geschenk geht so: Am zweiten Weihnachtsfeiertag nehme man die Beschenkten an der Hand, steige in einen Zug und fahre nach Dortmund. Am Hauptbahnhof raus, ca. 73,4 Meter über den Königswall schlurfen und hinein in den Schauraum comic + cartoon mit der neuen Ausstellung „Black Comics“: Alles rundum Bestseller wie „Black Panther“ oder Eigenwilliges wie „Aya aus Youpogon“. Mit etwas Glück hat Ausstellungsmacher Alexander Braun für Sie sogar den lesenswerten Katalog noch passend zum Mitnehmen fertiggedruckt, zum günstigeren Ausstellungspreis. Vielleicht noch zwei Kaffeebecher einpacken, für den Glühwein daheim, einen Happen essen, dazu ein bis zwei Pilse einwirken lassen und sich der Bahn für die Heimfahrt anvertrauen. Kann man eigentlich alle Jahre wieder machen...
Ach so, ich hab ja sieben Tipps versprochen: Im Notfall schenken Sie einfach einer Comicfanin/einem Comicfan Ihrer Wahl ein Abo dieses Blogs... Kostet ebenfalls nix, ist schnell gemacht und auch noch Sekunden vor der Bescherung verfügbar.
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- 28. Nov. 2024
Die Outtakes (22): Mit einer bizarren Lebensgeschichte, einem ostdeutschen Kummer-Comic und einer ansehnlichen Trantüte

Meisterwerk in Billigoptik
Rätselhaft, sehr gut – und dennoch nicht uneingeschränkt empfehlenswert: Daniel Clowes‘ in den USA als Meisterwerk gefeierter Band „Monica“ ist exzellent gemacht, aber dennoch anstrengend. In neun Abschnitten erzählt Comic-Star Clowes Monicas Lebensgeschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln, manchmal auch als Horror-Story verfremdet – was nicht so recht auffällt, weil die ganze Geschichte in der Optik alter US-Billig-Comics daherkommt: Die Zeichnungen sind leicht trashy, sehr viel Erzähltext in den Kästen verbreitet eine „Gespenster Geschichten/EC-Horror“-Atmosphäre, die jedoch über die ganze Strecke mehr beklemmend als gruslig/splatterig wird. Und obwohl Clowes exzellent mit dem Medium, den Genre-Eigenheiten der Billigst-Comics seiner Jugend spielt: Es ist gut möglich, Monicas Werdegang vom ungewollten Kind zur Unternehmerin zum Sektenmitglied auch als eher zäh zu beurteilen.
No Future auf Ost

Ein guter Ruf eilt Schwarwels „Gevatter“ voraus, ich kann nur nicht so ganz nachvollziehen, weshalb. Wohlgemerkt: beim „Gevatter“, die Verdienste von Schwarwel selbst sind unstrittig. Der Mittfünfziger, der eigentlich Thomas Meitsch heißt, war Art Director der „Ärzte“, drehte Videos für Top-Bands und arbeitet in „Gevatter“ offenbar seine Jugend in der DDR auf. Wie nahe er da an der eigenen Geschichte ist, kann man schwer sagen, der Protagonist erzählt jedoch über 160 Seiten hinweg in streng-düsteren Schwarz-weiß-Zeichnungen von Alkohol, Scheidungen, Depressionen und Selbstmordgedanken in den 70er/80er Jahren. Das alles ist zwar stilistisch schlüssig, doch der Erkenntnisgewinn ist dünn: Die begrenzten Möglichkeiten in der DDR sind bekannt, depressiv war die No-Future-Generation im Westen auch. Und weil die Story gleich im doppelten Sinne tod-ernst ist und sich dann auch noch furchtbar todernst nimmt, ist das Ergebnis in etwa so unterhaltsam wie eine laange, laaange Bahnfahrt neben einer entsetzlich schwermütigen Rentnerin.
Zauberlehrling auf Kräutersuche

Ein kleine Nachtrag zu Gipi auf Abwegen: Für die sehr zugängliche Mittelaltergeschichte „Aldobrando“ hat der (auch von mir) Oftgelobte vor knapp vier Jahren nur das Skript verfasst, die ansehnlichen Zeichnungen stammen von Luigi Critone. Das Ergebnis überzeugt trotzdem nur halb. So hübsch die Saga vom naiven Titelhelden auch aussieht, so hölzern-gutmenschlich ist sie zusammengenagelt. Der Zauberlehrling Aldobrando wird losgeschickt, um für seinen verletzten Meister ein lebenswichtiges Kraut zu finden. Auf seiner Suche wird Aldobrando übertölpelt, eingesperrt, begegnet bösen Bösen, guten Guten und stellt allen so unbeirrt immer die superrichtigen Fragen, dass man sich wundert, warum er nicht rafft, dass sein Meister längst tot sein muss. Was soll also noch die trantütige Sucherei? Aber das Ganze sieht gut aus, der blöde König ist als Insidergag dem großen Charles Laughton wie aus dem Gesicht geschnitten, man schaut sich gerne durch die Seiten. Nur: richtig gut ist halt was anderes.
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- 3. Nov. 2024
Horror unterm Dach: „Böse Geister“ ist ein schaurig-traurig schöner Abgesang auf die Gebraucht-Comicläden des letzten Jahrhunderts

Okay, das trifft natürlich genau ins Herz: Nicht, weil das Thema „Comic“ im Comic auftaucht, das gibt’s ja öfter. Sondern weil’s auch noch sanft gruselig ist und nostalgisch und alles. Verantwortlich dafür ist der große, extrem zuverlässige Szenarist Peer Meter. „Böse Geister“ heißt dieses kleine Juwel aus dem Jahre 2013, illustriert von Gerda Raidt.
Staubiges Comic-Paradies
Die Story ist eigentlich simpel: Harry Wehrmann, ein Mann um die 60, kommt zurück in seine Heimatstadt, weil das Stadtviertel, in dem er aufgewachsen ist, abgerissen werden soll. Die Häuser sind schon geräumt, auch das, vor dem er stehen bleibt. Es ist das Haus, in dem er als Kind gewohnt hat. Ein kleines Ladengebäude, oben Wohnungen, unten ein Geschäft mit einem Schaufenster, drüber steht „Geffes Bücher-Börse – Ankauf – Verkauf – Tausch“. Und ruckzuck ist der alte Mann wieder in seiner Vergangenheit.

In dieser Vergangenheit ist er zehn oder zwölf, er mag Gruselcomics, und im anderen Zeitschriftenladen mault ihn die Verkäuferin an, weil er nicht alt genug ist und weil Comics Mist sind und ob seine Eltern davon wissen und, und, und. In der Schule darf man sich mit Comics nicht erwischen lassen, im Unterricht finden sie ohnehin nicht statt. Aber im Laden von Herrn Geffe unten im Haus, da ist das anders. Der fragt nicht blöd. Im Gegenteil, er freut sich, wenn Harry sich freut. Er sagt ihm, wenn neue Hefte angekommen sind, er lässt ihn stöbern, neu angekaufte Groschenromane sortieren und sich zur Belohnung ein paar Comics mitnehmen, die man sich dann im Sessel mit einer Flasche Cola reinschmökert. Doch dann stirbt plötzlich Harrys Vater…
Kontakt zum Totenreich
Eigentlich will ich gar nicht so viel verraten, es reicht die Andeutung, dass Harry versuchen wird, seinen toten Vater mit einer Beschwörung zurückzuholen, die aus den Comics stammt, oder? Viel bezaubernder ist dieses ganze Szenario. Oder kommt es nur mir so vor, weil auch meine Kindheitsgegenden gerade saniert, abgerissen, neugebaut werden? Möglich, vor allem aber mag ich das Thema, weil ich früher auch so ein Geschäft kannte wie das von Herrn Geffe.

Nicht nur eines, sondern mindestens drei. Klein, leicht staubig, es gab gebrauchte Bücher und gebrauchte Comics. Man trat ein und war voll Hoffnung, was es da wohl diesmal zu finden gäbe – zu einem erschwinglichen Taschengeldpreis. Die allermeisten dieser Geschäfte sind heute verschwunden. Plattenläden gibt’s noch ein paar, die sind sogar mit dem Vinyl-Comeback ein bisschen wiederauferstanden, aber Gebrauchtbuch- und Comic-Läden sind weg oder ins Internet abgewandert. Und jüngeren Lesern kann man versichern: Das Netz mag besser organisiert sein, aber analogen Zauber hat es nicht.
Raidts magischer Bleistift
Gerda Raidts Bleistiftzeichnungen tragen viel zur Vermittlung dieses Zaubers bei. Sie funktionieren hervorragend bei Harrys Jugend in den bedrückenden 50ern oder 60ern und genauso gut in dem todgeweihten, schuttstaubigen Abrisshaus. Aber zugleich machen sie Geffes Bücheroase zum gemütlich-entspannten Rückzugsort und Comic-Paradies. Man staunt ein bisschen, dass man von Raidt nicht schon öfter was gesehen hat, sie nutzt Meters Szenario nicht schlechter als Barbara Yelin drei Jahre vorher „Gift“. Aber Serienmord ist vermutlich einfach alterungsunabhängiger als diese kleine, feine NostalComiGrusel-Perle.
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