Wenn Anke Feuchtenberger einen Comic macht, jubeln Deutschlands Kulturberichterstatter. Zu Recht? Ein Selbstversuch.
Jaaa, ich gebe zu, ich habe noch nichts von Frau Feuchtenberger gelesen. Ich weiß, ich weiß, wie kann das sein, dass ich nichts von Frau Feuchtenberger gelesen habe. Wo doch alle, alle schon was von Frau Feuchtenberger gelesen haben. Weiß ich denn nicht, wer Frau Feuchtenberger ist? Doooch, weiß ich, so halb wenigstens, Frau Feuchtenberger, das ist doch die, wo alle immer sagen: „Ah, Comic ist natürlich Kunst, man denke nur an Anke Feuchtenberger.“ Über Frau Feuchtenberger schreibt man Bücher, jeder einzelne Stipendiat von der Berthold Leibinger Stiftung hat gefühlt bei Frau Feuchtenberger studiert, weil feuchtenbergerfeuchtenbergerfeuchtenbergerfeuchtenberger...
Und trotzdem: noch nichts von ihr gelesen. Neiiii-en, auch Dings nicht. Aber jetzt, okay? Den neuen Band, „Genossin Kuckuck“.
1311 Gramm mit Goldschnitt
Viel Comic, 1311 Gramm. Goldschnitt, hat man selten. Und ein grandioser Einstieg: Erstes Panel ist ein gigantischer Keilerkopf an der Wand. Düster, schwarz-weiß. Zwei Mädels sitzen drunter und schwören sich ewige Treue. Klar, man muss beim Schwören die Hand ins Maul des toten Wildschweins schieben. Gute Szene. Aber dann wird’s sehr schnell sehr rätselhaft. Obwohl im Klappentext alles einfach klingt.
„Kerstin kommt zu spät“, heißt es da, „Ihre Großmutter ist bereits beerdigt und das Fotoalbum, welches ihr versprochen wurde, ist nicht zu finden. Sie kommt nicht mehr weg aus der alten Dorfschule, in der ihre Großmutter Russischlehrerin war“, und dann werden eine Menge alter Rechnungen aufgemacht. Aber so linear erzählt Anke Feuchtenberger nicht. Sie verschlüsselt vieles in traumartigen, kafkaesken Sequenzen, die etwa so aussehen: Zwei Männer in bizarrer Rennfahrermontur kommen zu einer Hotelrezeption und machen der Empfangsdame perfide Vorwürfe, sie lebe auf zu großem Fuß – ein Mix aus Steuerfahndung und kommunistischem Bourgeoisie-Vorwurf. Dann lassen sie sich von einem sprechenden Papierkorb (eines dieser Plastikteile mit großem Grinse-Einwurf-Mund) ins Hotel führen. Im Flur treffen sie auf seltsame Funktionäre, bevor sie eine alte, strickende Frau im Rollstuhl vorfinden, die statt einem Kopf eine Art Blumenkohlgeschwür hat…
Rätsel und Köder
Das ist nicht so anstrengend, wie es sich hier liest, Feuchtenberger hat einen schön skurrilen Sinn für Humor. Aber man versucht solche Szenen ja immer in die reale Geschichte zu übersetzen: Was passiert wirklich, was nicht, welches Symbol bedeutet was? Und man hofft, dass die nächste Szene wieder leichter einzusortieren ist – aber das ist sie nicht: Wir sehen die Familie als Hunde verfremdet, in Rot, ein altmodischer (sozialistischer?) Zeichenstil, es ist wohl die erwähnte Dorfschule, dann machen zwei Hundemädchen eine Teekanne kaputt, in der Schnecken wohnen, puuaaahh.
Ganz ehrlich? Ich war nahe dran, aufzugeben. Aber ich las weiter, weil Feuchtenberger kleine Hinweise fallen lässt. An denen merkt man, dass man eine faire Chance zur Entschlüsselung hat. Die Teekanne hat ihren Sinn, die Pilze, die Schnecken kommen vom Schild des Kinderheims und haben zugleich was Weiblich-Sexuelles. Und dass die Schnecken irgendwie mit den Kindern zusammenhängen, merkt man ja, wenn die Kinder plötzlich mit Blaukorn spielen… Aber man knuspert so einen Comic eben nicht weg wie eine Tüte Kartoffelchips. Obwohl –
Gänsebesuch auf dem Damenklo
Obwohl es so richtig viel Überwindung nicht braucht: Feuchtenberger verstreut eine Menge optischer Köder. Ihre Bilder sind provokativ, suggestiv, anziehend und abstoßend zugleich. Und selbst bei der größten Rätselei gilt: Es ist einfach absurd-unterhaltsam, wenn eine Frau auf dem Klo sitzt und plötzlich jede Menge Gänse reinwatscheln, und die Obergans fragt sie: „Du weißt, was das hungernde Volk von dir erwartet?“
Letztlich am überzeugendsten: Ich habe nie das Buch weglegen wollen. Und, noch aussagekräftiger: Ich habe nicht ein einziges Mal verstohlen nachgesehen, wie viele von den über 400 Seiten noch vor mir liegen. Anke Feuchtenberger, Genossin Kuckuck, Reprodukt, 44 Euro
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Der Reiz der Authentizität macht Comic-Biografien zum Trend, hat aber seine Tücken. Drei Beispiele zwischen Annäherung und Abgreife
Der Vorteil von Biografien liegt auf der Hand: Es entfällt der schöne Vorspann-Satz „Nach einer wahren Geschichte.“ Alles ist echt! Alles ist wirklich passiert! Weshalb der Autor eigentlich aus dem ganzen echten Kram nur noch die Rosinen raussuchen muss, oder?
Leider ergeben lauter Rosinen zunächst mal nur einen Haufen Rosinen. Man braucht also doch wieder sowas wie einen Teig drumrum. Und das kriegen nicht alle Biografie-Bäcker hin. Jedenfalls nicht bei diesen drei Beispielen.
Schwacher Start, starker Spurt
„Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist eigentlich schon ziemlich gut. Etwas Etikettenschwindel ist zwar beim Leben des in Südamerika untergetauchten Auschwitz-Arztes dabei: Vorlage ist der gleichnamige Roman von Olivier Guez. Doch was Jörg Mailliet daraus zeichnet, ist sehenswert. Eine subversive Atmosphäre dank viel Schwarz und Schatten. Sparsame Details, was bei ihm (wie bei Jacques Tardi) dazu führt, dass das lesende Auge Feinheiten selbst ergänzt. Abwechslungs- und einfallsreiche Bildeinstellungen, eine gute Auswahl von Panels und sehenswerten Splashes. Eine schöne Kolorierung, die von einer braunvergilbten Vergangenheit in eine sonnendurchflutete Gegenwart alles hergibt. Einziges Problem: Szenarist Matz, der erneut Dinge lieber erklärt als zeigt. Die erste Hälfte des Bandes ist voller Vorträge, die irgendwer irgendwem hält oder auch einfach mal endlos für sich selber denkt. Überraschend lässt das ausgerechnet in der zweiten Hälfte nach: Denn obwohl Mengele gerade hier oft allein im Urwald sitzt, hält sich Matz plötzlich angenehm zurück, der Band wird gegen Ende hin fesselnd. Warum denn nicht gleich so?
Lemmy und die Trittbrettfahrer
Erwartungsgemäß furchtbar: „Motörhead – der Aufstieg der lautesten Band der Welt“. „Erwartungsgemäß“, weil Musikbiografien erfahrungsgemäß gefährdet sind, auf Hits und Klischees reduziert zu werden. Hier haben zwei Autoren ein Szenario für drei Zeichner zusammengekleistert, bei dem „Motörhead“-Mastermind Lemmy Kilmister möglichst oft dem Leser zuprostet, rumknutscht, irgendwelche Songzeilen singt, uralte Anekdoten erlebt. Ebenfalls erwartungsgemäß kubikschlimm: Liveszenen.
Wenig ist schwieriger als die Bewegungen eines Rockkonzerts zu einer Momentaufnahme zu verdichten: Weil die attraktiven Momente der Instrumente kaum gleichzeitig stattfinden. Also macht auch hier die Gitarre dies, der Bass das, der Drummer rudert irgendwie dazu. Hingegen entfällt der Versuch, den einzigartigen „Motörhead“-Sound rund um Kilmisters dumpfe Bass-Akkorde darzustellen, genauso wie das Ausleuchten der charakterstarken Person Lemmy, die diesen schwerverkäuflichen Hochgeschwindigkeits-Klangbrei praktisch im Alleingang zum coolen Klassiker machte. Nein, das alles liest sich nicht nach Hommage, sondern eher nach Trittbrettfahrerei. Darauf keinen Whisky-Cola.
Brillanz in blassblau
Und der Sieger ist: „Madeleine, die Widerständige“. Hätte ich auch nicht gedacht, weil ich zuallererst meinte: „Ach je, schon wieder Drittes Reich!“ Das Szenario von JD Morvan beruht auf seinen Interviews mit der Résistance-Kämpferin Madeleine Riffaud und zieht den Leser geschickt in die beklemmende Untergrundarbeit. Denn: Wo findet man denn überhaupt diese Résistance, wenn man als junge Frau empört über den deutschen Einmarsch mitmachen möchte? Morvan zeichnet in Band 1 (von drei geplanten) die ersten Schritte einer ungeduldigen 17-Jährigen, die mühsam Verbindungen knüpft und sich zwischen Beziehung und Besatzung zu beweisen versucht (wer's kennt: Es geht in der Praxis ziemlich in die Richtung von Jean-Pierre Melvilles düsterer „Armee im Schatten“).
Der Gefahr des Abenteuer-Abklapperns entgeht Morvan, indem er einerseits gerade das Spannende in den stillen Momenten entdeckt, und indem er Zeichner Dominique Bertail die großen Momente fast wortlos überlässt. Die regennassen Straßen, den Tieffliegerangriff auf wehrlose Flüchtlinge, Morvan legt nur einige Gedanken Madeleines dazu, die Action, die Atmosphäre vertraut Morvan Bertail an. Eine seiner stärksten Szenen: die Ankunft Madeleines in der TBC-Klinik in den Bergen. Bertail zeichnet schwarz-weiß, nur mit Blau als Ergänzungsfarbe, aber im Unterschied zum gleichartigen Motörhead-Band (oben) weiß er damit was anzufangen. Und so taucht auf der ganz von Bergrücken überragten Seite unten ein Taxi aus dem blauweißen Schnee. Nur zwei kurze Sätze sagt der Taxifahrer, bis sich zum Schluss die Klinik blassblau aus dem blendenden Weiß schält. Hübsch, aber keiner sagt, dass spannende Weltkriegs-Geschichten nicht auch mit zauberhaften Bildern arbeiten dürften.
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Als Cartoonistin berühmt, aber als Autobiografin viel besser: Marie Marcks' grandiose Aufzeichnungen ihrer sehr deutschen Geschichte
Heute wird’s günstig. Weil alt. Heißt: Sie werden sich möglicherweise (s.u.) auf dem Gebrauchtbüchermarkt bedienen müssen. Ja, sorry, ist halt so. Und eigentlich gar nicht sorry, denn Sie wissen doch: Comics bedeuten Kohlenstoff im Regal statt CO2 in der Atmosphäre. Alles klar? Gut. Thema heute: Marie Marcks. Und zwar ihre beiden autobiographischen Bände „Marie, es brennt!“ (1984) und „Schwarz-weiß und bunt“ (1989). Jaaa, sehr alt. Aber unglaublich lohnend.
Die Frau mit der Wärmepumpe
Ich kannte Frau Marcks bislang vor allem aus Rororo-Rotfuchszeiten, also vom Kinderbuch. In den 70ern machte sie comicartige Bildgeschichten aus dem Familienleben, in denen Kinder gegen Atomstrom demonstrierten, aber gerne den ganzen Tag das Licht brennen und den Wäschetrockner glühen ließen. Die Stories waren witzig, gut beobachtet, man erkannte sich als Erwachsener und als Kind wieder. Und, beim kürzlichen Wiederlesen, was fand ich da, fast 50 Jahre alt? Die Empfehlung einer Wärmepumpe. Nur mal so am Rande.
Als letztes Jahr zu ihrem 100. Geburtstag alle an sie erinnerten, bestellte ich, was mir noch fehlte. Was zu einer großen Enttäuschung führte und zu einer noch größeren Entdeckung. Die Enttäuschung: Marcks‘ Cartoons waren oft mau. Sehr gut gemeint, aber arg platt, und der Unternehmer ist immer der böse Doofi. Umso besser, bewegender, treffender war Marcks als bebilderte Erzählerin.
Zwischen Karotten und Briketts
Besonders schön: Das funktioniert ohne Anlauf, wie schon der erste Halbsatz in „Marie, es brennt!“ zeigt, der sich ihrem Geburtsjahr widmet: „Mitten in der Inflation, als 1 Mohrrübe 10.000.- Mark kostete und sich meine Mutter ihren Unterricht in Briketts bezahlen ließ…“ Dazu gibt es: eine hübsche randlose Zeichnung der Mutter auf dem Rübenfeld, in einer Mondnacht, verstohlen Karotten rupfend. Und eine breites Bild des Zeichenunterrichts im zum Atelier umfunktionierten Esszimmer. Man sieht den Parkettboden, die Schüler mit den Briketts, den Kachelofen, die Tische, und alle mit der Marcksschen naiven Ernsthaftigkeit. Marcks zeichnet hier mit Buntstift, sympathisch, unaufwändig, Text und Bild greifen sich schön ergänzend ineinander und zeigen sofort Marcks‘ Stärke: der beiläufig wirkende, aber ungemein exakte Blick, die präzise, stimmungsvolle Zeichnung, der ironisch-treffende Kommentar, dessen Schärfe sie von mild bis beißend stufenlos regeln kann.
Die Kindheit etwa, mit all ihren Peinlichkeiten, aber auch den konkurrierenden Jugendgruppen von evangelisch bis deutschnational, bekommt die milde Marie ab. Wohlgemerkt mild, nicht verklärend: Bei Marcks finden sich auch Raritäten wie diese Beschreibung der ersten Bombenangriffe 1943: „Ich muss gestehen, dass ich es unheimlich gut (damals: irrsinnig prima) fand, wenn es in der Nachbarschaft brannte, und der Angriff am 1. März war der tollste.“
Mit schmunzelnder Fassungslosigkeit
Marcks ist damals 21, sie verliebt sich gern und viel in einem Deutschland, das immer chaotischer, düsterer dem Zusammenbruch entgegentaumelt. Was man bis zur Wohnungsnot der Nachkriegsjahre in schmunzelnder Fassungslosigkeit verfolgt.
Vor diesem Hintergrund ist Marcks‘ Weg in die künstlerische Selbständigkeit in „Schwarz-weiß und bunt“ deutlich entspannter zu genießen. Was an Dramatik fehlt, ersetzt hier allerdings die optische Vielfalt. Nach dem Krieg suchte niemand Cartoonisten, dafür waren Gebrauchsgrafiker begehrt. Marcks, immer auf Arbeitssuche, deckte überraschend viele Stile ab. Wer (wie ich) nur mit ihren bekannten staksigen Figuren rechnet, staunt über die grafische Vielfalt, Schneide- und Drucktechniken, Federzeichnungen – chamäleonartig, gar nicht marcksig. Sie behauptet sich im Beruf, wobei ihr unterwegs ihr Hauptthema begegnet: die alleinerziehende Frau. Denn Marcks war nicht immer partnerschaftlich so auf- und eingeräumt, wie es damals üblich war. Fünf Kinder zieht sie groß, mal mit Patchwork, auch mal partnerlos.
Angenehm ist dabei der Tonfall: zwar ist jederzeit klar, dass Marcks die Verteilung von Belastung, Bezahlung und Berufsaussichten höchst ungerecht findet, dennoch gibt’s statt Selbstmitleid die Rezepte „Mundaufmachen“ und „Wehren“. Ein Beispiel? Marcks soll die Beschriftung der Räume einer Wirtschaftshochschule entwerfen, die lukrative Beschriftung selbst soll an eine Malerfirma gehen. Argument: „Sie können sich doch nicht als Frau mit Malstock und Pinsel hinstellen und tausende Buchstaben malen.“ Marcks macht den Mund auf, kriegt den Auftrag und pinselt, „bis mir der Arm abfault“.
Eine unprätentiöse, aber auch unbequeme Zeitreise, die man einzeln gebraucht günstig kriegt. Wer etwas mehr Geld übrig hat, findet die Autobiographie auch in der zweibändigen Werkausgabe. Und kriegt eine Menge Marcks dazu
Marie Marcks, Schwarz-weiß und bunt, Frauenbuch Verlag, Weismann Verlag, Verlag Antje Kunstmann, Büchergilde Gutenberg.
Marie Marcks, Marie, es brennt!, Frauenbuch Verlag, Weismann Verlag, Verlag Antje Kunstmann, Büchergilde Gutenberg