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Kunterbunt in grauer Vorzeit

  • Autorenbild: Timur Vermes
    Timur Vermes
  • vor 1 Tag
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 9 Stunden

Trendthema Frühgeschichte: Zwei Comics bringen Sie auf den neuesten Stand – einer richtig gut, einer sogar grandios unterhaltsam

NIEDRIGTEMPERATURGAREN IM FELLSACK          Illustration: Tine Steen - avant-verlag
NIEDRIGTEMPERATURGAREN IM FELLSACK Illustration: Tine Steen - avant-verlag

Ist’s ein Trend? Kaum hat Ulli Lust mit „Die Frau als Mensch“ den Deutschen Sachbuchpreis abgeräumt, kommen schon zwei weitere thematisch verwandte Comics auf den Markt. Muss wohl ein Trend sein, denn so schnell kann der Buchmarkt nicht reagieren. Aber viel wichtiger ist: Beide Comics sind deutlich schlüssiger als der Lust-Titel: Weil sie mit einer Fragestellung arbeiten und diese Frage auch noch beantworten, kommt man nach dem Lesen nicht nur deutlich zufriedener raus, sondern auch besser unterhalten. Einen der beiden muss ich Ihnen sogar regelrecht ans Herz legen.


Kein Tier passt zum Fundstück

Illustration: Richard Cowdry - avant-verlag
Illustration: Richard Cowdry - avant-verlag

Richard Cowdry hat den Vorteil des attraktiveren Themas: Dinosaurier. Das er in „Das Geheimnis der Knochen“ mit der Frage verbindet: Wie kam man zur heutigen Paläontologie? Weil, früher dachte man ja: Ob , Mensch, Maus, Mango, der jeweilige Gott hätte in sechs Tagen alles so gebastelt, wie’s heute aussieht. Wie wurde dieses Modell geknackt? Allmählich? Oder über Nacht? Und wie hat man sich Fossilien erklärt, die zu keinem lebenden Tier passten?


Mit dem Bergbau kamen die Fossilien


Cowdry arbeitet sich recht chronologisch vor. Er beginnt im Mittelalter, wo die Menschen schon diverse Fossilien fanden, aber sich allerhand Hokuspokus dazu überlegten. Und natürlich fand sich mehr Fossilien, je mehr die Menschen sich (für Kohle o.ä.) in und unter die Erde wühlten. Manche deuteten richtig, manche lagen falsch, manche lachte man aus und müsste sich heute bei ihnen entschuldigen. Das ist durchaus munter zu lesen – aber es treten Schwächen auf.

Illustration: Richard Cowdry - avant-verlag
Illustration: Richard Cowdry - avant-verlag

Cowdry illustriert und erzählt kindgerecht – aber warum? Kinder finden Saurier spannender als den Streit um die korrekte Knochendeutung. Zu Erwachsenen wiederum passt zwar die Frage besser, doch die merken, wenn's (wie in Kinderbüchern oft üblich) kein Literaturverzeichnis gibt. Aber was ist dann belegt, was nur „vermutlich irgendwie so gewesen?“ (Cowdry stellt klar und ich glaub's ihm sofort , er habe eigentlich ein Literaturverzeichnis dazugestellt, das jedoch weggekürzt wurde. Ärgerlich, aber Namens-, Sach- und Literaturregister werden in letzter Zeit häufig geringgeschätzt)


Das Personal ist einfach zu gut


Trotz Skepsis: Man liest mit unerwarteter Freude. Das Personal ist einfach zu gut: Forscher, Gschaftlhuber, Wichtigtuer. All das getoppt von der furchtbar ungerechten Geschichte der Britin Mary Anning. Die verdiente ihren Lebensunterhalt mit dem Ausbuddeln und Verkaufen von Fossilien – und entdeckte dabei auch das erste komplette Plesiosaurier-Skelett in den Meeresfelsen. Das sie über Monate hinweg im Alleingang in den Phasen zwischen Ebbe und Flut herausmeißelte. Die verdiente Anerkennung dafür blieb damals weitestgehend aus, die rissen sich lieber einige angesehene Akademiker unter den Nagel. Starkes Stück. Starke Geschichte.


Illustration: Richard Cowdry - avant-verlag
Illustration: Richard Cowdry - avant-verlag


Sechs Richtige für Tine Steen!

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Donnerwetter: Was für ein exzellentes Produkt! Ohne Witz: Ich hab schon lang keinen Sachcomic mehr gesehen, bei dem so viel richtig gemacht wurde wie in Tine Steens „Die kochenden Affen“. Und das fängt schon bei der Behandlung des Themas an: Steen erkennt, dass ihre Story pur auf Leser-Wohlwollen angewiesen wäre. Steinzeit-Essen, naja, schon eher nerdig. Aber anders als Ulli Lust, die genauso vom eigenen Thema beseelt ist, bleibt Steen eisklar: Das Thema muss attraktiver werden. Und obwohl Steen viel Bildungsbürgerliches im Angebot hätte (Auswirkungen auf heutige Menschen. Sozialgeschichte entscheidet sie sich für die Unterhaltsamkeit. Sie signalisiert vollrohr: Auch noch lustig!


Humor (1) in vertrauter Verpackung (2)

Steen verkleidet das Ganze als Fake-Kochmagazin und verspricht auf dem Titel „Mit den besten Rezepten der letzten 3 Millionen Jahre“. Natürlich in Aufkleberoptik, die man in der Branche „Störer“ nennt. Das klingt fast unseriös witzig, im Grunde funktioniert das Cover als eigenständiger Cartoon, so ähnlich wie beim Cover der „Titanic“. Aber weil die Rezepte tatsächlich drin sind, gibt man dem Ding eine Chance, selbst wenn man so wenig Lust auf Foodjournalismus hat wie ich. Die Zutatenliste fürs erste Rezept: 1 Kadaver, 1 Stein. Schon ein Lacher, oder?


Illustration: Tine Steen - avant-verlag
Illustration: Tine Steen - avant-verlag

Innen wird's sofort wieder clever: Steen erfindet das Rad nicht neu, sondern signalisiert Vertrautheit. Sie übernimmt ihre Optik weitgehend von Bestseller-Autorin Liv Strömquist, die ebenfalls für Humorfotainment steht. Viel Text in frech wechselnden Schriften, die zeichnerischen Ansprüche hat Städelschülerin Steen auf Strömquists Level herabgedimmt. Sie weiß: Es entscheidet der Info-Gag. Vor allem, wenn man so pfiffig ist wie Steen: Sie lockert ihre Infos passend auf, wie die Lehrerin, die man für ihre Pointen liebt und der man trotzdem zuhört. Etwa Typ „May Thi Nguyen-Tim“.


Illustration: Tine Steen - avant-verlag
Illustration: Tine Steen - avant-verlag

Dabei verliert Steen obendrein nicht die Übersicht: Sie sagt, was sie vorhat, zeigt es dann stringent auf. Manchmal schweift sie ab, kehrt aber zuverlässig zum roten Faden zurück. Als wär’s das Selbstverständlichste im Comicgeschäft. Ist es aber nicht.


Roter Faden (3) ohne Mission (4), aber mit Quellen (5)

Steen will auch nicht auf Teufel komm raus irgendwas belegen. Sie will Zusammenhänge erklären und nicht sagen, was man essen soll oder die Steinzeitfrau im Nachhinein gleichberechtigen. Sie weiß, dass sich derlei ohnehin aus ihrem Stoff ergibt: Warum wir Fett so gern mögen, warum Frauen oft entscheidender waren als angenommen, warum sie manches anders sehen und machen. Theoretisch, wohlgemerkt, weil Steen supersolide klarstellt, wann und wo Thesen gut begründet, aber eben nur Thesen sind.


Illustration: Tine Steen - avant-verlag
Illustration: Tine Steen - avant-verlag

Apropos: Erinnern Sie sich noch an „Columbusstraße“, wo’s zwar ein Quellenverzeichnis gab, das aber hauptsächlich aus Bequemipedia bestand? Steen hat ein Literaturverzeichnis mit richtigen Aufsätzen von richtigen Wissenschaftlern aus richtigen Publikationen. Und weist trotzdem auf Ungenauigkeiten hin, die sich ergeben, wenn die Quellen Hunderttausende bis Millionen Jahre alt sind.


News to use (6)

Alles war für die Katz, wenn das Thema trotz Aufbereitung zu schwach ist. Aber Steen hat recht: Wenn man erstmal drin ist, lernt man eine Menge für das Hier und Jetzt. Wie ineffizient Essen eigentlich ist: Man braucht viel Zeit und Energie zum finden, Kauen, Verdauen. Man holt nur einen Bruchteil vom Brennwert raus. Und wieviel besser das wird, wenn man einen Teil dieser Mühe vor dem Essen erledigt. Von Tine Steen weiß ich: Kochen ist eigentlich das Outsourcen von Teilen der Verdauungsarbeit. An andere Leute (Koch), mit zusätzlicher Energie (Feuer/Strom). Warum wird Fleisch sogar besser, wenn man nur drauf einprügelt? Lauter gute Fragen und spannende Sachen. Ich hätte sie nicht von selbst gestellt, aber jetzt, wo mich Steen draufbringt, finde ich sie auch spannend.





 


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