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Bitterböse, bitterbritisch

Mit der Graphic Novel „Cassandra Darke“ gelingt Posy Simmonds ein unmögliches Kunststück: altersweise, altersmilde und zugleich bezaubernd mädchenhaft


X-MAS SUCHBILD: WO IST CASSANDRA? Illustration: Posy Simmonds - Reprodukt

Das ist schon seltsam mit Posy Simmonds. Irgendwas an ihren Comics wirkt auf mich immer unscheinbar. Sogar jetzt, wo ich doch weiß, dass ihr neuer Band „Cassandra Darke“ richtig großartig ist – kaum klappe ich ihn zu, denke ich: „Och, naja.“ Als hätten mich die Men in Black geblitzdingst. Aber man muss schon auch sagen: Diesmal hat Posy Simmonds eine besonders schwierige Heldin erschaffen.


Missmutige Heldin mit Fliegerhaube


Cassandra Darke ist weder jung noch sexy noch superlustig, sondern irgendwas zwischen 60 und 70 und war mal Galeristin, das ist noch gar nicht so lange her. Sie hat die Galerie ihres Ex-Mannes übernommen, und dann hat sie dort ihre Kunden beschummelt. Sie hat heimlich Kopien von Kunstwerken hergestellt und als echt verkauft, die Sache ist leider aufgeflogen, und dadurch hat Cassandra ihr kleines Vermögen verloren.


Die Haushälterin und der Fahrer sind passé, jetzt lebt sie in einem dieser typisch englischen Reihenhäuser, geht nicht mehr unter Leute, und im Winter vermummt sie sich im dicken Mantel unter einer pelzgefütterten Fliegerhaube. Dann findet sie plötzlich zuhause eine Pistole in der Schmutzwäsche. Das ist auf Seite 26, und zu diesem Zeitpunkt hat Posy Simmonds schon ein kleines Meisterstück abgeliefert, nämlich dass man es als Leser so lange bei Cassandra ausgehalten hat.


Hass auf "verblödete Weihnachtsshopper"


Denn erstens passiert ja eigentlich nicht wirklich viel, und zweitens ist Cassandra, hm, wie soll man sagen, eine selten unsympathische Kartoffel, verbiestert, unerbittlich, arrogant, und es gibt nur eine Sache, die sie mehr hasst als sich selbst, und das sind alle anderen. Die Leute in der Stadt sind für sie „verblödete Weihnachtsshopper“, Jane, die Frau des von ihr heimlich kopierten Künstlers ist ein „altes, naives Schaf“. Es ist kein Wunder, dass ihre Assistentin Phoebe mit den Worten kündigt: „Ich hasse die Arbeit bei Ihnen!“


Cassandra nimmt auch Nicki, die Tochter ihres Ex-Mannes, nur als Untermieterin auf, um sie als Hundesitterin und Billigassistentin auszunutzen. Und natürlich fliegt Nicki schnell wieder raus, weil sie Kunst fabriziert, die Cassandra für Mist hält, weil sie so laut vögelt, dass es Cassandras Gäste hören. Wobei Cassandra schmerzlich klar wird, dass kein Mann beim Sex je ihren Namen geschrien hat und es wohl auch nicht mehr tun wird: „Jetzt saß ich da, alt und grau, und beschäftigte mich in Gedanken mit dem Tod, obwohl ich gar nicht wirklich gelebt hatte.“


Die Pistole in der Schmutzwäsche


Es ist nicht leicht zu beschreiben, was Cassandras Geschichte so faszinierend macht, die gefundene Pistole ist es in jedem Fall nicht. Klar, sie bringt Cassandra wieder mit der Nervensäge Nicki in Kontakt, dem blöden Typ, der Nicki dauernd besteigt und ganz bestimmt nur ausnutzt, mit irgendeinem Kleingangster und der Londoner Kunstgemeinde – aber das ließe sich auch anders bewerkstelligen. Es ist eher die erfrischende Mitleidlosigkeit, in die Posy Simmonds alle ihre Protagonisten tunkt, und es ist das Geschick, mit dem sie die Handlungsstränge verknüpft.


Sie wechselt munter zwischen Comic und Fließtext, den sie dann aber mit wortlosen Bildern und Details eindrucksvoll illustriert, kommentiert, karikiert. Wenn sie etwa Cassandra im Weihnachtstrubel der Einkaufsstraßen mit der heilen Welt der Kommerzromantik zusammenführt, ist es unmöglich zu unterscheiden, was schwerer auszuhalten ist: Die alternde Spaßbremse mit ihrer bizarren Sturmhaube oder die Tische im Deko-Shop, auf denen sich die Christbaumkugeln türmen, so anheimelnd wie Plastikäpfel.


Die Verspieltheit eine Künstlerkladde


Dann wieder wechselt Simmonds die Zeitebene (mal Rückblende, mal Vorgriff), die Perspektive (mal erzählt auch Nicki, mal ihr Freund Billy), mal zeichnet Simmonds Zeitungsauschnitte oder Briefe. Ihre hinterlistigen neugebauerhaften Szenen und Porträts lockert sie durch charmante Details von Vorgärten, Straßen, Gassen auf, ein oft willkommener Kontrast zu der allgemeinen Verachtung, die sie Cassandra in den Mund legt. Und manchmal gibt es dazwischen ganz unironisch eine vernebelte Landschaft oder einen zärtlich-romantischen Kuss. Erstaunlich, wie Simmonds das unter einen Hut bringt, ohne dass es ihr auseinanderfliegt: Das Ergebnis erinnert in seiner Verspieltheit und Vielseitigkeit an eine Künstlerkladde, es hat etwas aufgeweckt Mädchenhaftes, was auch deshalb überraschend ist, weil Simmonds‘ 14. Geburtstag schon 60 Jahre zurückliegt.


Es ist auch nicht ihre erste Graphic Novel, aber die Vorgänger „Tamara Drewe“ und gerade „Gemma Bovery“ sind mir irgendwie nicht so bitterböse und bitterbritisch in Erinnerung. Oder hat mich nur wieder wer geblitzdingst? Ich glaube, die muss ich gleich nochmal nachlesen.


Posy Simmonds, Cassandra Darke, Reprodukt, 24 Euro Posy Simmonds, Tamara Drewe, Reprodukt, 20 Euro Posy Simmonds, Gemma Bovery, Reprodukt, 20 Euro


Dieser Text erschien zuerst bei SPIEGEL Online.


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