- 14. Aug. 2023
Als Cartoonistin berühmt, aber als Autobiografin viel besser: Marie Marcks' grandiose Aufzeichnungen ihrer sehr deutschen Geschichte

Heute wird’s günstig. Weil alt. Heißt: Sie werden sich möglicherweise (s.u.) auf dem Gebrauchtbüchermarkt bedienen müssen. Ja, sorry, ist halt so. Und eigentlich gar nicht sorry, denn Sie wissen doch: Comics bedeuten Kohlenstoff im Regal statt CO2 in der Atmosphäre. Alles klar? Gut. Thema heute: Marie Marcks. Und zwar ihre beiden autobiographischen Bände „Marie, es brennt!“ (1984) und „Schwarz-weiß und bunt“ (1989). Jaaa, sehr alt. Aber unglaublich lohnend.
Die Frau mit der Wärmepumpe
Ich kannte Frau Marcks bislang vor allem aus Rororo-Rotfuchszeiten, also vom Kinderbuch. In den 70ern machte sie comicartige Bildgeschichten aus dem Familienleben, in denen Kinder gegen Atomstrom demonstrierten, aber gerne den ganzen Tag das Licht brennen und den Wäschetrockner glühen ließen. Die Stories waren witzig, gut beobachtet, man erkannte sich als Erwachsener und als Kind wieder. Und, beim kürzlichen Wiederlesen, was fand ich da, fast 50 Jahre alt? Die Empfehlung einer Wärmepumpe. Nur mal so am Rande.

Als letztes Jahr zu ihrem 100. Geburtstag alle an sie erinnerten, bestellte ich, was mir noch fehlte. Was zu einer großen Enttäuschung führte und zu einer noch größeren Entdeckung. Die Enttäuschung: Marcks‘ Cartoons waren oft mau. Sehr gut gemeint, aber arg platt, und der Unternehmer ist immer der böse Doofi. Umso besser, bewegender, treffender war Marcks als bebilderte Erzählerin.
Zwischen Karotten und Briketts
Besonders schön: Das funktioniert ohne Anlauf, wie schon der erste Halbsatz in „Marie, es brennt!“ zeigt, der sich ihrem Geburtsjahr widmet: „Mitten in der Inflation, als 1 Mohrrübe 10.000.- Mark kostete und sich meine Mutter ihren Unterricht in Briketts bezahlen ließ…“ Dazu gibt es: eine hübsche randlose Zeichnung der Mutter auf dem Rübenfeld, in einer Mondnacht, verstohlen Karotten rupfend. Und eine breites Bild des Zeichenunterrichts im zum Atelier umfunktionierten Esszimmer. Man sieht den Parkettboden, die Schüler mit den Briketts, den Kachelofen, die Tische, und alle mit der Marcksschen naiven Ernsthaftigkeit. Marcks zeichnet hier mit Buntstift, sympathisch, unaufwändig, Text und Bild greifen sich schön ergänzend ineinander und zeigen sofort Marcks‘ Stärke: der beiläufig wirkende, aber ungemein exakte Blick, die präzise, stimmungsvolle Zeichnung, der ironisch-treffende Kommentar, dessen Schärfe sie von mild bis beißend stufenlos regeln kann.

Die Kindheit etwa, mit all ihren Peinlichkeiten, aber auch den konkurrierenden Jugendgruppen von evangelisch bis deutschnational, bekommt die milde Marie ab. Wohlgemerkt mild, nicht verklärend: Bei Marcks finden sich auch Raritäten wie diese Beschreibung der ersten Bombenangriffe 1943: „Ich muss gestehen, dass ich es unheimlich gut (damals: irrsinnig prima) fand, wenn es in der Nachbarschaft brannte, und der Angriff am 1. März war der tollste.“
Mit schmunzelnder Fassungslosigkeit
Marcks ist damals 21, sie verliebt sich gern und viel in einem Deutschland, das immer chaotischer, düsterer dem Zusammenbruch entgegentaumelt. Was man bis zur Wohnungsnot der Nachkriegsjahre in schmunzelnder Fassungslosigkeit verfolgt.
Vor diesem Hintergrund ist Marcks‘ Weg in die künstlerische Selbständigkeit in „Schwarz-weiß und bunt“ deutlich entspannter zu genießen. Was an Dramatik fehlt, ersetzt hier allerdings die optische Vielfalt. Nach dem Krieg suchte niemand Cartoonisten, dafür waren Gebrauchsgrafiker begehrt. Marcks, immer auf Arbeitssuche, deckte überraschend viele Stile ab. Wer (wie ich) nur mit ihren bekannten staksigen Figuren rechnet, staunt über die grafische Vielfalt, Schneide- und Drucktechniken, Federzeichnungen – chamäleonartig, gar nicht marcksig. Sie behauptet sich im Beruf, wobei ihr unterwegs ihr Hauptthema begegnet: die alleinerziehende Frau. Denn Marcks war nicht immer partnerschaftlich so auf- und eingeräumt, wie es damals üblich war. Fünf Kinder zieht sie groß, mal mit Patchwork, auch mal partnerlos.

Angenehm ist dabei der Tonfall: zwar ist jederzeit klar, dass Marcks die Verteilung von Belastung, Bezahlung und Berufsaussichten höchst ungerecht findet, dennoch gibt’s statt Selbstmitleid die Rezepte „Mundaufmachen“ und „Wehren“. Ein Beispiel? Marcks soll die Beschriftung der Räume einer Wirtschaftshochschule entwerfen, die lukrative Beschriftung selbst soll an eine Malerfirma gehen. Argument: „Sie können sich doch nicht als Frau mit Malstock und Pinsel hinstellen und tausende Buchstaben malen.“ Marcks macht den Mund auf, kriegt den Auftrag und pinselt, „bis mir der Arm abfault“.
Eine unprätentiöse, aber auch unbequeme Zeitreise, die man einzeln gebraucht günstig kriegt. Wer etwas mehr Geld übrig hat, findet die Autobiographie auch in der zweibändigen Werkausgabe. Und kriegt eine Menge Marcks dazu
Marie Marcks, Schwarz-weiß und bunt, Frauenbuch Verlag, Weismann Verlag, Verlag Antje Kunstmann, Büchergilde Gutenberg.
Marie Marcks, Marie, es brennt!, Frauenbuch Verlag, Weismann Verlag, Verlag Antje Kunstmann, Büchergilde Gutenberg
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- 30. Mai 2023
Comeback für Robert Deutschs „Turing“ und Robert Crumbs „Mr. Natural“. Doch beide Bände haben ihre Tücken – ein Beipackzettel

Alan Turing kennen Sie, oder? Vom Hollywood-Blockbuster mit Benedict Cumberbatch? Der britische Mathematiker, der im Zweiten Weltkrieg die legendäre deutsche Chiffriermaschine „Enigma“ geknackt hat? Der zu einer Zeit schwul war, in der man es nicht sein durfte? Der sich dann dieser grauenhaften Hormontherapie unterzog? Großes Dramamaterial, aus dem Robert Deutsch 2017 eine sehenswerte Graphic Novel machte.
Drama für Genuss-Seher
Wunderschöne Farbkombinationen, ganzseitige Splashes, da will das Auge drin gewälzt sein wie ein Schnitzel in der Panade. Deutsch kommt auf diesen Seiten immer wieder ganz nahe an Brecht Evens ran, da ist es kein Wunder, dass die (sehr oft erfreulich gut orientierte) Berthold Leibinger Stiftung ihn förderte. Zwei Designpreise hat er auch noch abgeräumt, völlig zu Recht.
Aber.

Deutsch ist kein Erzähler. Oder will keiner sein: Dass Turings Homosexualität mehr im Focus steht, ist okay – aber die Story, die auch mit dieser Betonung mindestens voller Ängste, Heimlichkeiten, Lüste sein könnte, ist oft so langsam, fast dröge, dass man sich angesichts der wunderbaren Bilder die Augen reibt und zurückblättert, ob man nicht irgendwo was übersehen hat. Hat man leider nicht.
Andererseits: Wer den Film unnötig unterhaltsam fand, empfindet den Comic womöglich als erfrischend todernst.
Anti-Gags vom Rauschebart

Bei Robert Crumb gibt’s immer wieder Missverständnisse. Die gehen so: Crumb – „Fritz The Cat“ – haha, alles klar. Aber: eben nicht! Gerade auch bei „Mr. Natural“. Der Guru in Toga und Rauschebart ist eine Parodie, die aber erstaunlich wenig Wert auf ausgearbeitete Pointen legt. Manches aus dieser ausgesprochen erfreulichen Sammlung stammt aus Crumbs Sketchbooks, anderes wurde in den 60er/70er Jahren in Underground-Magazinen veröffentlicht. Skeptiker und Misanthrop Crumb parodiert hier folgerichtig nicht nur Gurus, Sekten und den Traum vom weisen Welterklärer, sondern genauso den Comicmarkt selbst.
So trifft Mr. Natural etwa von Beginn an auf seinen alten Gegenspieler/Schüler/Kunden Flakey Foont. Crumb führt ihn genauso brachial ein wie eine neue Figur in einer Soap, indem Mr. Natural laut denkt: „Jede Wette, dass er mir wieder einen seiner ollen Streiche spielen will!“ Wer denkt, er hätte was verpasst: Diese Streiche gab's nie , und es werden auch keine stattfinden.

Ebenso auffallend: Alle Abenteuer von Mr. Natural, seien sie eine halbe, ganze oder mehrere Seiten lang, beginnen halbwegs seriös, wie eine Episode mit Donald Duck, wirken aber bald improvisiert. Sie halten sich mit Nebensächlichkeiten auf, wechseln unvermittelt die Erzählrichtung und hören gerne mal einfach auf. Und zwar so abrupt, dass man als Hauptgrund vermuten muss, dass die verabredete Seitenzahl vollgezeichnet war. Das Ende sieht gerne so aus: Mr. Natural schläft ein oder geht weg, Crumb serviert dazu einen absichtlich lieblosen Schlusssatz, das war’s.
Nostalgie mit Leck-mich-am-Arsch-Qualität
All das macht „Mr. Natural“ zu einem merkwürdigen Genuss in einer eigenwillig-herzhaften Leck-mich-am Arsch-Qualität, der zugleich immer wieder in reizvollem Kontrast zu den liebevoll nostalgischen Zeichnungen steht. Wer allerdings seine Cartoons gerne mundgerecht zubereitet genießt, wird mit Enttäuschungen rechnen müssen. Ein, zwei Mitschüler von mir hätten anno Tobak wohl gesagt: „Reiß mir ein Bein raus, damit ich lachen kann.“
Ich schaff's aber auch zweibeinig.
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- 9. Feb. 2019
Jacques Tardi beendet mit Teil 3 die Erinnerungen seines Vaters: Sie liefert neben Details aus einem vernachlässigten Kapitel des Krieges vor allem eine Erkenntnis

Ehrlich gesagt: Ich war zunächst etwas enttäuscht. Jacques Tardi hat jetzt seine „Stalag IIB“-Trilogie abgeschlossen, und ich hatte mir mehr versprochen. Da bin ich aber auch selbst schuld: Ich war so überrascht von den ersten beiden Bänden, weil ich mit Tardi nicht so recht warm werde.
Extrem unaufgeregt, wohltuend sachlich
Dabei ist seine Herangehensweise im Prinzip sehr sympathisch – dezent, unprätentiös, nüchtern, geradezu wohltuend sachlich. Farben sind Raritäten, meist zeichnet er auch noch in schwarz-weiß, die Figuren sind meist statisch und (bis auf die Hauptcharaktere) mitunter kaum zu unterscheiden. Deshalb gucke ich jedes Mal bei Tardi zuerst, als käme ich hungrig ins Lokal und es gibt nur noch Käsebrot.
Aber ich unterschätze ihn immer wieder. Tardi zeichnet vor allem: extrem unaufgeregt. Es ist kein Zufall, dass er dem tiefenentspannten, pfeiferauchenden Detektiv Nestor Burma den idealen Look verliehen hat. Die Geschichte von „Stalag IIB“ ist eine ähnlich gute Wahl.
Tardi schildert die Erinnerungen seines Vaters René aus dem zweiten Weltkrieg. Methodisch, noch nüchterner als sonst, jede Seite hat drei gleich große, seitenbreite Panels, macht sechs pro Doppelseite. Diese Erinnerungen sind auch deshalb ungewöhnlich, weil sie nicht erzählen, wie einer fünf Jahre lang durch den Dreck robbt. Sondern von einem, der nach dem ersten deutschen Blitzkrieg gefangengenommen wurde – und gefangen blieb.
Die ersehnte Flucht findet nie statt
Denn obwohl Tardi sich selbst als zuhörenden Buben dazu zeichnet, der alles kommentiert und stets auf Papas grandiose Flucht wartet, findet diese Flucht nie statt. Die wenigsten Menschen sind fliehende Helden, und Papa Tardi war offenbar ein normaler Mann.
Umso gründlicher schildert Tardi die Eintönigkeit der Gefangenschaft.
Das graue Lager, das Essenholen, den Hunger, das Auswiegen der Brotscheiben. Die bizarre Hierarchie der Kriegsgefangenschaft: Sie werden werden nur gut behandelt, damit ihre Heimatländer ihrerseits deutsche Kriegsgefangene gut behandeln. Entsprechend schlecht stehen die Franzosen da, die keine Deutschen mehr als Faustpfand halten und Milde nur im angloamerikanischen Windschatten erwarten können.
Wie Ohrfeigen aus dem Nichts
In absurd realistischen Details zeigt Tardi, wie daraufhin Menschen in solchen Zeiten ihre Macht ausleben: Wenn in der Poststelle des Stalag ein deutscher „Dreckskerl“ die Lebensmittelpakete prüft, „machte er sich einen Spaß daraus, alles zusammenzuschütten – Leberpastete, Marmelade, Margarine und Würste.“ Keine deutsche Exklusivität übrigens, mit Sieg und Macht kommt die Verrohung auf allen Seiten so sicher wie das Amen in der Kirche, und Tardi serviert sie immer wieder hart und schnell, wie Ohrfeigen aus dem Nichts.
Französische SS-Männer verteidigen Berlin
Die französische Perspektive macht das Projekt zusätzlich interessanter, denn in der vier Jahre dauernden deutschen Besetzung ist Frankreich ja nicht nur misshandelt worden, es hat sich auch vier Jahre lang arrangiert, teilweise sehr bereitwillig. Tatsächlich gibt es sogar eine französische SS-Division („Charlemagne“), und es sind irritierenderweise sogar eben diese SS-Franzosen, die bis in die letzten Kriegstage hinein Berlin (!) verteidigen.
Band 2 widmet sich der Heimreise ähnlich schonungslos: Die verbliebenen Bewacher werden aufgehängt, und die neuen Verhältnisse machen auch die Sieger nicht zu besseren Menschen. US-Truckfahrer, bei denen Vater Tardi mitfährt, brettern deutsche Fußgänger absichtlich um. René schildert es achselzuckend: Es ist Krieg, was habt ihr erwartet? Ritterlichkeit? Band 3 konzentriert sich nun auf die Nachkriegszeit, in der Vater Tardi als Besatzer in Deutschland arbeitete.
Häme von den Vätern – und den Deutschen
Gerade hier wird eine weitere Facette der französischen Kriegsverarbeitung deutlich: Die Deutschen verachten die französischen Besatzungstruppen als Besatzer, die das Besetzen nicht verdienen, die ohne die USA nichts geschafft hätten. Und sie ernten damit perfiderweise genau jene Häme, die sie zuhause von der Großvatergeneration bekommen.
Sie sind die Verlierer des Blitzkriegs, während ihre Väter auf ihren siegreichen Widerstand im Ersten Weltkrieg verweisen. Ziemlich viele eigene Kindheitserinnerungen sind Tardi da reingerutscht, man kann auch quengeln, dass er Platz mit historischen Daten füllt, die – wie die Atombombe von Hiroshima – hier nicht wirklich entscheidend sind. Dennoch ist das Projekt beispielhaft, aus einem weiteren Grund.
Tardi entdeckt immer wieder Widersprüche
Tardis Vater starb in den 1980ern. Dies ist auch ein Versuch, den eigenen Vater zu verstehen. Tardi rekonstruiert die Geschichte mit dessen Aufzeichnungen und stößt auf ein Problem: Immer wieder ergeben sich Widersprüche. Vieles ergibt plötzlich keinen Sinn mehr. Zeugen gibt es nicht mehr. Man hätte früher fragen müssen, mehr und öfter nachbohren, aber nachholen lässt es sich nicht mehr. Und wer jetzt meint, das wäre keine besondere Erkenntnis, dem sei versichert: Auch wenn es nicht um Kriegserinnerungen geht, wird der Tag kommen, an dem man sich vorwirft, man hätte nicht genug nachgefragt. Dagegen hilft nur eins: Losziehen und jedes Familienmitglied löchern, das älter ist als man selbst.
Ja, Sie sind gemeint!
Und keine Zurückhaltung bitte. Jede Frage, die Sie weglassen, werden Sie später bereuen.
Jacques Tardi, Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB, Edition Moderne, Band 1-3, je 32 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.
