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Joe Sacco, Alt- und Großmeister des Comic-Journalismus, erklärt an einem indischen Glaubenskonflikt, wie Polit-Hetzer weltweit die Demokratie spalten

Man muss mit Joe Sacco politisch nicht übereinstimmen, aber rein handwerklich dürfte in seinem neuen Band „Indien“ jedem Reporter das Herz aufgehen. Weil Sacco immerhin weiß, wie Journalismus geht. Diesmal ist er in der Region Uttar Pradesh unterwegs, auf den Spuren der Unruhen im indischen Muzzafarnagar 2013, bei denen über 60 Menschen starben und Zehntausende Muslime vertrieben wurden.
Saccos Grundkurs Journalismus
Sacco hat das Land ein Jahr später besucht, und was hatte er dabei? Richtig: eine präzise Fragestellung. Sacco wollte nicht einfach mal schauen, wie's da so ist oder was da wer sagt oder wie sich wer fühlt. Er wollte auch nicht einfach mal dahininfluencen, was er so zu irgendwas meint. Oder wer gerade wen zerstört. Er wollte wissen, welche Narrative sich ein Jahr nach der Katastrophe bei den beteiligten Volksgruppen verfestigt hatten.

Ganz kurz: Worum geht's? In Uttar Pradesh leben nicht nur Hindus (hier in Form der Gruppe der Jats), sondern auch nach wie vor eine Menge Muslime. Den Jats gehört meist das Land, die Muslime sind in der Mehrheit besitzlose, aber dringend benötigte Feldarbeiter. Das Zusammenleben klappte recht lange akzeptabel und vor allem gewaltfrei. Die blutigen Unruhen von 2013 folgten aber auf eine lange Reihe wechselseitiger Provokationen.
Die Täter sind beim Beten, die Opfer gar nicht da
Ein Jahr nach dem Vorfall entdeckt Sacco vor allem eine Menge Lügen. Beide Seiten haben zur Gewalt beigetragen, und beide Seiten fühlen sich verfolgt und haben nie etwas Schlimmes gemacht. Als Jats auf dem Weg zu einer Versammlung in einem muslimischen Ort von den Dächern mit Ziegelsteinen beworfen werden, waren die Steine nicht da oder nur klein, geworfen haben allenfalls Frauen und Kinder und die Männer waren grad alle beim Beten in der Moschee.

Als die Jats später die Moslems vertreiben, waren laut Jats eigentlich sowieso keine Moslems da, wenn sie doch da waren, sind sie freiwillig gegangen, und wenn Jats beim Beschleunigen dieser Freiwilligkeit über die Stränge geschlagen haben sollten, dann waren diese Jats fremde Jats von irgendwo anders. Und die ganzen Moslems, die vom Staat Entschädigungen möchten, haben nie ein Haus verloren und sind alle Betrüger, die vorher selbst anderen die Häuser angezündet haben. Sacco hört zu, glaubt wenig, bestaunt von Moslems abgefackelte Häuser ohne Brandspuren und sucht dann mühsam Zeugen und Beweise für tatsächlich Geschehenes. Aber warum erscheint sein Comic jetzt, zehn Jahre später? Warum Indien?
Die Mechanik der Spaltung
Weil man als Westler weniger betroffen ist und daher unvoreingenommener hinsieht als bei sich selbst zuhause. Denn Sacco sieht dieselben Mechanismen überall auf der Welt. Den Versuch, eine Bevölkerung so gründlich zu spalten, dass man mit der eigenen, eingeschworenen Minderheit die Macht übernehmen kann. Demokratie ist zwar für Kompromisse gedacht, eignet sich aber auch fürs Lagerdenken. Man könnte etwa zwischen Hindus und Moslems einen Ausgleich suchen, aber das System belohnt auch und womöglich noch mehr, wenn man die Gegenseite zur tödlichen Bedrohung hochstilisiert. Allgegenwärtig etwa ist bei Sacco die Erzählung vom „Liebes-Dschihad“.

Dieser Legende zufolge wollen Muslime Frauen bekehren, schwängern, Kinder kriegen, um die Macht zu übernehmen: Was man sofort als örtliche Variante der „Bevölkerungsaustausch“-Panik erkennt, die weltweit Hassheizer von AfD bis Trump verbreiten (obwohl derlei bisher vor allem deren eigene Geistesverwandte von Milosevic bis Hitler planten und umsetzten).
Profit durch Unversöhnlichkeit
Sacco zeigt so, wie sie funktioniert, die Bewirtschaftung der Unversöhnlichkeit. Die in der Version für Fortgeschrittene den „Trick“ beinhaltet, der Gegenseite möglichst solche Stiche zu versetzen, die sie unmöglich verzeihen kann – was in Israel die Hamas in Reinform vorgeführt hat und danach die Rechtsausleger der israelischen Regierung formvollendet zurückliefern.

Tatsächlich lässt sich das aber in Indien „entspannter“ aufdröseln als in Palästina, nicht zuletzt für Sacco selbst, der vor einem halben Jahr der 36-Seiter „War On Gaza“ rausbrachte. Darin findet sich weniger Analyse und vor allem Fassungslosigkeit, mit einer – angesichts des israelischen Vorgehens zunehmend nachvollziehbaren – Schutzhaltung für Otto Normalpalästinenser.
Die Profiteure des Konflikts
Aber gerade weil Sacco da schon die indischen Erfahrungen im Kopf gehabt haben muss, wundert man sich, warum er im Gaza-Comic nicht die Erklärung findet: Dass der Konflikt davon lebt, dass auf beiden Seiten Leute vom Konflikt profitieren und den Frieden verhindern. Dass dort wie in Indien die Lösung im Unvorstellbaren liegt, eben im Verzeihen des Unverzeihlichen. Weil ihm – wie der englische Titel des neuen Comics beweist – klar ist, wie die Alternative aussieht: Der heißt nämlich nicht „India“, sondern „The once and future riot“. Weil ohne Verzeihung in jedem Aufruhr schon der nächste steckt.
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- 12. Nov. 2023
Mitreden tun viele, dieser Comic liefert Fakten: „Games“ zeigt, wie Flucht funktioniert und welche angeblichen Lösungen nur bluffen

Wann ist ein Comic zum Thema „Flüchtlinge“ gut? Wenn er uns weiterbringt. Wenn er (acht Jahre nach 2015) über Mitleid und Mitleiden hinaus Zusammenhänge herstellt. Nach dem ausgezeichneten „Der Riss“ (2017) gelingt das jetzt seit langem wieder mal: In „Games“ dröselt der Schweizer Patrick Oberholzer anhand von fünf afghanischen Flüchtlingsschicksalen Gesetzmäßigkeiten der Migration auf, die auf anderen Routen ähnlich greifen dürften. Supersachlich, mit Statistiken untermauert, griffig, schlüssig. Weshalb man direkt nach der Lektüre sofort Vieles besser begreift. Man macht sich ja selten klar, wie so eine Flucht tatsächlich aussieht. Diese Fluchtumstände sind jedoch ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der ganzen Frage.
Mit 25.000 Dollar über jede Grenze
Wie sieht diese Flucht also aus? Bequem und schnell, wenn man superreich ist. Dann kauft man für 25.000 Dollar den Flug und ein falsches Visum. Alle anderen gehen zu einem Schlepper und buchen Holzklasse. Kostet derzeit knapp 6.000 Dollar (war schon mal teurer), die man ganz oder in Raten bei einem Vertrauensmann hinterlegt. Dafür kriegt man ein Ticket für einen wochen-, monatelangen Horrortrip. Der beginnt oft mit einem Abstecher nach Pakistan. Zwar muss man eigentlich in den Iran, aber von Pakistan aus kommt man dort etwas einfacher hin.

Wobei „einfacher“ ein interessanter Begriff ist angesichts dieser Reise: Ohne Winterausrüstung, ohne Träger bei Dunkelheit, in tagelangen Wanderungen über die schweinekalten Scheißberge. Von Grenzsoldaten ausgeraubt, geschlagen, zurückgeschickt. Dann wieder von vorne. Warten auf den nächsten Versuch, dann los, nachts, Scheißberge, immer wieder, bis es klappt. Erst dann kriegt der Schlepper sein Geld für die Etappe. Dann geht's von Pakistan in den Iran. Nochmal dieselbe Scheiße. Die Berge, die Kälte, der Hunger, die Gefahr. Dann muss man durch den Iran selbst. Und wissen Sie, wie man den durchquert? Ich wusste es nicht. Bis „Games“.
Verkeilt im Kofferraum
In einer viertürigen Limousine, ja, aber nicht mit vier Passagieren. Drei Menschen sitzen auf dem Beifahrersitz. Acht sitzen auf der Rückbank. Drei Menschen sind im Kofferraum. Und wir reden hier nicht von einem Kombi oder vom Kofferraum eines US-Straßenkreuzers der 60er. Sondern vom Kofferraum eines mittelgroßen BMW oder Mercedes. Zu dritt hineingefaltet. 600, 700 Kilometer. Im geschlossenen dunklen Stahlkasten, heiß, kaum Luft, stundenlange Starre, malen Sie sich's selbst aus. Diese Menschen werden halb wahnsinnig, halb panisch, aber wenn man rastet, können sie nicht mehr alleine aussteigen, so verkrampft sind sie.

Andere werden im leeren Tank eines Busses geschmuggelt. Nicht allein, sondern man schiebt solange weitere Leute in das lichtlose Loch, bis der Tank voll ist. Man kann auf der offenen Ladefläche eines Pick-ups fahren. Ohne Gurt, Versicherung, im halsbrecherischem Tempo eines Schleppers unter Aufputschmitteln. Man wird mitten in der Wüste abgesetzt, bis andere Schlepper kommen oder auch nicht, bei 50 Grad am Tag oder Minusgraden in der Nacht. Der Weg in die Türkei führt dann über die nächsten Scheißberge, eine kalte Steinwüste. Wasser ist knapp, unterwegs zahlt man 20 Euro pro Flasche. Frauen müssen jederzeit mit Sexforderungen rechnen, mal mit Gewaltandrohung, mal als Tauschhandel.
Grenzen vermauern? Wird längst gemacht
Die iranisch-türkische Grenze selbst ist streng überwacht. Die Mauer, von der viele Flüchtlingsphobiker in Deutschland träumen, ist dort längst Wirklichkeit, inklusive türkischen und iranischen Grenzern mit Schießbefehl. Natürlich trotzdem mit Lücken. Wer es dann durch die Türkei schafft, hat den lebensgefährlichen Trip mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer vor sich. Alternativ kann er auch an den „Games“ teilnehmen: So nennen die Flüchtlinge das Wieder- und-wieder-und-wieder-Ausprobieren, wann man es über Land nach Bulgarien in die EU schafft. Ohne aufgegriffen, geschlagen, ausgeraubt zu werden. Je nach Geldbeutel sind dazwischen Wochen und Monate als Schwarzarbeiter zu erbärmlichen Löhnen nötig, um die weitere Strecke zu finanzieren. Danach folgt der wochenlange Marsch auf der Balkanroute. Weniger Lebensgefahr, aber immer noch Kälte, Hunger, Durst.
Und nun? Warum ist diese Flucht der Schlüssel zur Flüchtlingsfrage?

Na, sagen wir, ein Jens Spahn bietet Ihnen an, er würde das Problem mit „physischer Gewalt“ lösen. Da weiß man sofort: Bullshit. Die ganze Flucht besteht ja schon aus physischer Gewalt in Formen, die in Rechtsstaaten unvorstellbar sind. Da ist Spahns Schlagstock nur ein Knüppel mehr.
Jagd auf Schlepper erhöht nur deren Profit
An dieser ganzen Irrsinnsflucht lässt sich 1:1 ablesen, wie furchtbar die Alternative zuhause sein muss. Ich nähme derlei nicht auf mich, Sie auch nicht. Aber diese Menschen würden es nochmal machen und nochmal, bis es klappt. Weil es bei ihnen zuhause immer noch hundert Mal scheißer ist. Da können deutsche Kommunalpolitiker Gutscheine ausstellen wie sie wollen.

Sind’s die Schlepper? Natürlich nicht, auch dieses ganz rational berechenbare Geschäft dröselt Oberholzer in seinem Erstling (!) schön auf. Schlepper zu bekämpfen erhöht nur den Reisepreis, höhere Preise werben wieder neue Schlepper an. Nein, die Triebfeder des Ganzen ist die Entschlossenheit der Menschen, nicht mehr unter unfähigen Drecksregierungen wie jener der Taliban dahinzuvegetieren, als unterernährte, dummgehaltene, zwangsverheiratete, zwangsrekrutierte Betmaschinen. Die Einsicht, dass sie nicht nach Pakistan fliehen können, das derzeit Hunderttausende zurückschickt in den Gottesknast.
Fakten statt Bullshit
Welche Schlüsse Sie draus ziehen sollen, mag ich Ihnen nicht sagen (meine finden Sie hier). Aber Patrick Oberholzer schildert in starken Bildern die Tatsachen, die Sie berücksichtigen müssen, wenn Sie sich selbst auf die Suche nach Formen einer vernünftigen Flüchtlingspolitik machen möchten.
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