- 16. März
Müssen trübe Themen auch unattraktiv sein? Drei Comics zeigen, dass es anders geht – trotz Waisenheim, Missbrauch und Teenie-Schwangerschaft

Ein alter Woody-Allen-Witz geht so: Zwei Seniorinnen unterhalten sich im Hotel. Sagt die eine: „Das Essen hier ist einfach katastrophal.“ Und die andere: „Stimmt, und diese winzigen Portionen!“ Ähnlich geht’s mir mit vielen, ich nenne sie mal: Sozialcomics. Erst das große Elend, und dann sieht’s auch noch freudlos aus. Interessanterweise sind mir gerade drei Comics untergekommen, die’s anders machen. Freuen Sie sich nicht zu früh: Elend bleibt Elend. Aber… na, warten Sie‘s ab.
Die nervt, die junge Alte

Nummer Eins ist der Neuzugang „Bauchlandung“. Das Debut der Schweizerin Wanda Dufner behandelt das Thema „Teenagerschwangerschaft“, ist autobiografisch und auf 400 Seiten so unbeschwert wie ein Senkblei. Dufner lässt nichts aus: Überforderung, ahnungsloser Sex mit einem sensationell arschlochmäßigen Freund, permanentes Gejammer und Beklagen, Plot und Protagonistin gehen einem rekordschnell auf den Keks. Selbstmitleid und Selbstvorwürfe, Entscheidungsunfähigkeit und Heulerei über Bevormundung, und all das noch im krakeligen Liv-Strömquist-Stil. Aber!
Dufner kombiniert das mit einer kunterbunten Farborgie. Ein hemmungsloser Griff in den Malkasten, kein Farbtöpfchen bleibt ungenutzt, das ist wie zwei doppelte Espressi direkt aus der Tasse hinein ins Auge. Man bleibt gewissermaßen grellwach, man blättert unentwegt weiter, obwohl die junge Alte ganz schön nervt. Die launigen, quicklebendigen Farben haben mich durch den Band getragen. Gottseidank, weil Dufner nach und nach einen angenehm beißenden Humor entwickelt, ohne ihr Farbdoping wären mir also auch einige prima Lacher entgangen.
Was dennoch nicht heißt, dass „Bauchlandung“ hilfreich wäre: zum Ratgeber taugt der Band kaum. Aber selten war so viel Kummer so belebend.
Grabbelnder Pfarrer

Trübsal Nummer zwei fand ich auf den Spuren des Franzosen Alfred (eigentlich Lionel Papagalli). In „Warum ich Pater Pierre getötet habe“ illustriert er eine autobiographische Erzählung von Olivier Ka. Wie der Titel andeutet, geht’s um Kindesmissbrauch. Nicht die schlimmste Variante, aber trotzdem. Eine einmalige Episode im Jugendcamp, die Ka bleibend beschädigt. Ka schildert sie angemessen naiv, Alfred setzt das Erlebte kindlich, bedrückend in Szene – und kompakt. Ka/Alfred bringen den heiklen Stoff in nur 100 Seiten auf den Punkt. Kürze, Würze, man muss die Leser nicht totlabern. Und doch bleiben Fragen.
Nicht, ob das Ganze der Schwere des Vorgangs angemessen ist: Ka konnte den Grabbelversuch des kirchlichen Familienfreunds zwar ein für alle Mal abwürgen, traumatisiert ist er fraglos dennoch. Was aber verwirrt, ist, dass weder Ka noch Alfred auch nur ein einziges Mal der Gedanke an andere Kinder kommt. Das Feriencamp fand schließlich jahre-, jahrzehntelang statt. Bedeutet: Hunderte möglicherweise weniger starke Opfer. Wie können da zwei mittlerweile gestandene Erwachsene die Sache für erledigt halten, nachdem Ka mal den Pfarrer wegen der eigenen Episode zur Rede gestellt hat?
Olivier Ka (Text), Alfred (Zeichnungen), Martin Budde (Üs.), Warum ich Pater Pierre getötet habe, Carlsen, nur gebraucht erhältlich, z.B. derzeit bei Medimops
Zähe Kleinfighter

Nummer drei ist einer meiner Klassiker, die Manga-Reihe „Sunny“ von Taiyo Matsumoto, in der ich mich gerade durch Band 3-4 gefressen habe. Wieder in Japan, im Waisenhaus der Sternenkinder, deren Leben Matsumoto schlaglichthaft in Episoden schildert. Die Reihe hat einen ganz eigenen Zauber, der auf zwei Zutaten beruht: Das Heim, anständig, sogar liebevoll, aber nicht zersüßt wie die ARD-Sachsenklinik, sondern robust, professionell, wie ich’s aus meinem Zivildienst kenne – man fällt den Kindern nicht dauernd um den Hals und führt nicht ständig bedeutungsvolle Gespräche.
Zutat zwei sind die Kinder selbst: Um Aufmerksamkeit ringend, ruppig und zugleich enorm verletztlich. Sie leiden darunter, dass ihre Eltern weg sind, wären gerne „normal“, misstrauen der Nicht-Heimwelt und sehnen sich doch nach ihr. Und für die Normalität oder auch nur die Illusion davon belügen und betrügen sie häufig andere und sich selbst (womit sie sich nicht anders verhalten als viele Erwachsene angesichts der unschönen Gegenwart).
Matsumoto schildert all das einfalls- und variantenreich, einfühlsam und zugleich sachlich wie eine gute Reportage, was „Sunny“ immer wieder zum verwirrend bittersüßen Erlebnis macht. Das auch daran erinnert, dass diese Kinder nicht aus Zucker sind, sondern recht toughe Kleinfighter. Und ausgedacht.
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- 28. Mai 2020
Mit eindrücklichen Bildern taucht Nina Bunjevac in die Welt sexueller Gewalt ein: „Bezimena“ ist ein Horrortrip aus der Perspektive des Täters – großartig und schwer erträglich.

Das Erste, was man beim Aufschlagen von „Bezimena“ denkt, ist: Wie macht die das? Rein technisch, wie geht das, also: ohne Maschinen? Denn Nina Bunjevac arbeitet, das hab ich mir mehrfach versichern lassen, tatsächlich mit der Hand. Aber wenn man diese feinst und unglaublich exakt schraffierten, ganzseitigen Bilder ansieht, wie sie auf den schwarz-weißen Panels riesige Flächen abtönt, indem sie immer noch eine Lage Linien versetzt darüberlegt und noch eine und noch eine, bis sie jede Nuance zwischen weiß und dunkelschwarz ausgelotet hat, denkt man unwillkürlich an endlose Winterabende am Zeichentisch. Aber nicht die Abende eines Winters, sondern die von schätzungsweise acht.
Missbrauchsopfer wählt Täterperspektive
Ohne gute Geschichte wären die natürlich alle für die Katz. Doch Bunjevac hat eine gute Geschichte, eine gewagte sogar dazu. Es geht um sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung, und wie schon bei den Zeichnungen mag die 46-jährige Wahl-Kanadierin auch hier nicht den Standardweg einschlagen. Naheliegend wäre es ja, die Opfer- oder Richterhaltung einzunehmen und überall mit Großbuchstaben SCHLIMM dazuzuschreiben. Aber Bunjevac weiß, dass das schlimm ist, sie ist selbst Missbrauchsopfer, und trotzdem wählt sie die Täterperspektive.
Über eine märchenhafte Rahmenerzählung kommt sie zum Jungen Benny, der in eine kleinen Stadt lebt, wohl Anfang des letzten Jahrhunderts. Benny guckt von klein auf den Mädchen hinterher. Dabei spielt er an sich herum und wird dafür natürlich regelmäßig gemaßregelt. Die Konsequenz ist klar: Benny zieht sich zurück, er verrät niemandem mehr, was in seinem Kopf vorgeht. Aber in seinem Kopf ändert sich dadurch selbstverständlich nichts. Er guckt weiter Mädchen und Frauen hinterher, aber eben so, dass er sich dabei keine Schwierigkeiten einhandelt. Und weil kein Mensch sich gerne als perverser Sonderling fühlt, reduziert er die Kontakte zu anderen Menschen und arbeitet als Tierpfleger, denn Tiere reden nicht und beschuldigen einen noch seltener.
Zu traumhaft um wahr zu sein
Die Geschichte geht, klar, nicht gut aus: Plötzlich trifft Benny traumhafte Frauen, die lauter Sachen machen, die er mag, die ihn geradezu dazu auffordern, und während man selbst sofort denkt, dass da irgendwas nicht stimmen kann, denkt Benny sich natürlich nichts dabei. Und was in seinem Kopf traumhafter, einvernehmlicher Leder-Sex ist, ist in der Realität der Geschichte, man ahnt es früh: Mord. Erstaunlich daran ist, wie zurückhaltend (die selbst betroffene) Bunjevac dabei vorgeht.
Klar ist, dass Benny ein Getriebener ist. Er hat sich seine Vorliebe nicht ausgesucht. Klar ist auch, dass Ausgrenzung keine Lösung bietet: Benny radikalisiert sich sogar eher noch in der Isolation. Auch nachvollziehbar: Bennys Erleichterung, als sich in seiner Scheinwelt der Konflikt zwischen seinen Begierden und der Realität plötzlich in Luft auflöst. Man bekommt eine Ahnung davon, wie erlösend das Internet für zahllose Kindersex-Fans gewesen sein muss: Endlich Gleichgesinnte treffen, endlich nichts mehr verstecken müssen und sogar noch Anerkennung für die eigenen Vorlieben bekommen.
Der Unterschied zu Lügde
Erfreulich ist, wie dezent Bunjevac Stellung bezieht. Der Text ist knapp, trocken, weder anklagend noch rechtfertigend, sie blickt so nüchtern in Bennys Kopf, dass man fast übersieht, was doch offensichtlich ist: Ihre Stellungnahme ist das Düstere in jedem Bild. Man ist nur etwas abgelenkt, weil dieses Düstere eben aus Bunjevacs faszinierender Schraffurwelt erwächst. Da gibt’s eine ganzseitige Hand aus nichts als feinen Linien, eine Hausbedienstete im Laternenschein in einem dunklen Kellergewölbe, auch ganzseitig, und jeder Stein des Bodens, des Mauerwerks schimmert im spärlichen Licht, es ist praktisch unmöglich, hier rasch weiterzublättern.
Einfache Lösungen bietet Bunjevac nicht. Was sie will, erschließt sich auch eher aus dem, was sie nicht tut: Benny ist – im Unterschied etwa zur Campingplatz-Bagage aus Lügde – nicht (mehr) in der Lage, Realität und Scheinwelt zu trennen. Er ist krank, und durch diesen Kunstgriff kann Bunjevac das Problem seiner persönlichen Verantwortung ignorieren. Ihr geht es um das Ausmaß und die Unwiderstehlichkeit der Obsession. Sie heißt nichts davon gut, sie verharmlost auch nicht: Aber sie nimmt zur Kenntnis, dass es hier um nichts geht, was man sich mal so eben abgewöhnen könnte.
Wegschauen ist keine Lösung
Das klingt nicht nach viel, ist aber schon eine ganze Menge. Unlängst im Cuvilliestheater, München. Das Stück hieß „Die Netzwelt“ und zeigt einen Unternehmer, der Kindersex-Süchtigen eine Alternative bietet: digitale, also erfundene Kindersex-Partner. Allein schon das Thematisieren genügte an dem Abend, dass Leute aufstanden und gingen. Bunjevac weiß: Das ist keine Lösung.
Dieser Text erschien erstmals am 28. Mai 2020 bei SPIEGEL Online.