Dicker Brocken: „Alldine & die Weltraumpiraten“ steigen ein ins Rennen um den besten Kindercomic – was sagt Julia (11) zu einem der Geheimfavoriten?

„Alldine“ ist eine Zukunftsgeschichte, paradoxerweise aus der Vergangenheit: Comic-Star Joann Sfar startete die Parodie-Serie „Sardine de l’espace“ vor gut 20 Jahren, der „Schaltzeit-Verlag“ hat sie ausgebuddelt, und jetzt gibt’s Teile davon unter dem Titel „Alldine & die Weltraumpiraten“. Das Titelmädchen reist mit seinem Piratenonkel Jack durchs All, das von den Schurken Supermuskelprotz und Dr. Knautsch beherrscht wird. Experten sagen: hoher Suchtfaktor, bei Kindern. Ich hab natürlich sofort was zu nörgeln: Der Schurke ist mehr so ein viel zu leicht überwindlicher Watschenkasper. Aber als Julia mit dem gelesenen Band zurückkommt, ist sofort klar: Alldine ist Titelkandidatin.
Da fehlt doch was – oder?
Das merkt man an den vielen Zetteln. Bei den Comics bisher suchte Julia angestrengt nach Stellen, an denen sie ihre Meinung festmachen konnte. Hier findet sie jede Menge. Und dabei hat „Alldine“ sogar einen Fehlstart! Julia findet einen faustdicken Continuity-Fehler. Drei Polizisten kommen in eine Weltraumbar, Onkel Jack haut den Chef k.o., und Alldine sagt, er solle sich als Polizeichef verkleiden, bevor die anderen beiden aufwachen. Hä? Die hat doch niemand ausgeknockt! Und warum hat Jack plötzlich einen Fleck auf dem Piratentuch?
Julia hat recht. Möglicher Grund: „Schaltzeit“ druckt nicht die Originalalben, sondern bedient sich querbeet am erschienenen Material. Weshalb die Auswahl auch mal zu lang für die standardisierte Buchseitenzahl sein könnte, und dann enden eben Teile der Prügelei in der Bar unterm Schneidetisch. Fände ich unelegant, ist Julia aber egal. Die anderen Zettel sind nämlich alle tolle Stellen!
Viel zum Lachen, viel zum Staunen
Allein die niedliche Katze, die jedes Abenteuer beendet, indem sie „Ende“ sagt. Und im ersten Abenteuer sagt sie sogar „Ende“ gleich am Anfang! Niedlich und lustig. Das Abenteuer, wo Julia den Figuren helfen muss, indem sie den Comic auf den Kopf stellt! Und wie der böse Dr. Knautsch befiehlt, dass nur noch zwei Figuren in einem Panel sein dürfen, und in jeder Sprechblase nur noch zwei Worte! Seltsam und super: Alldine und ihre Freunde wissen, dass sie selber in einem Comic sind! Und es gibt auch eine gruselige Stelle: Supermuskelprotz rupft nämlich allen Engeln die Flügel, um mit den Federn Kissen zu machen. Und das Rupfen, und die armen Engel mit den nackten Flügeln, die ihre eigenen Feder in die Kissen stopfen müssen, das findet Julia eigentlich zu heftig. Aber diese knallbunte Rundum-Mischung beschäftigt sie mehr als jeder Comic vorher, das sieht nicht gut aus für den bisherigen Spitzenreiter „Zack!“.
Die beste (weil lustigste) Stelle:
Die ganzen drei Zwei-Worte-pro-Sprechblase-Seiten, die Julia kichernd vorliest.
Die schönste Stelle:
Wie Alldine von einem Panel in das daneben hüpft.
Julias Entscheidung

Ein harter Kampf. Eine Gewissensprüfung. Weil „Zack!“ auch gute Stellen hat, und vor allem: Die Zeichnungen sind irgendwie hübscher. Julia ziert sich lange hin und her, weil, man muss ja fair sein und gerecht bleiben und alles, aber dann...
1. Alldine & die Weltraumpiraten
2. Zack!
3. Boris, Babette und lauter Skelette
4. Superglitzer
... wird natürlich fortgesetzt
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Für Kinder ist Corona besonders fad. Was könnte man noch sehen, noch lesen? Zum Beispiel: Kinder-Comics. Julia, 8, hat für uns die neunte Kunst entdeckt – und unbestechlich kritisiert
Was tun, wenn die Schule dicht ist und alle Hausaufgaben gemacht? Julia ist langweilig und acht Jahre alt. Und was tut Gott? Er schickt mich vorbei, der einen Zentner voller Kindercomics vorliegen hat und eine kompetente Co-Kritikerin braucht. Also starten wir ein Projekt: Julia, die Comics bisher eigentlich wenig bis nicht liest, kriegt jeden Tag einen neuen Band zum Ausprobieren. Und los!
Tag 1: Manno von Anke Kuhl

Kuhls Erinnerungen sind frech, funny und normal: Kein Superabenteuer, nur Anke und ihre Schwester Eva im Alltag der 70er. Kuhl ist Jahrgang 1970, ihre Mama fuhr die erste Polo-Generation, die mit runden Lüftungsdeckeln hinten. Es gab kein Handy, Pranks waren noch Telefonstreiche. Julia liest 130 Seiten ratzfatz durch. Fehlende Handys sind ihr egal, denn Julia mag Rittergeschichten und sagt: „Da gibt’s auch kein Handy.“
Anke Kuhl, Manno!, Klett Kinderbuch, 16 Euro
Tag 2: Mira von Sabine Lamire und Rasmus Bregnhoi

Eine Mädchengeschichte: Aber die Welt ist hier weniger heil, Lamire/Bregnhoi suchen die größere Geschichte statt Episoden. Mira hat Geburtstag, will Bloggerin werden, einen Instagram-Account und nicht mehr so kindisch sein. Und „Mira“ zeigt unterhaltsam, wie zweischneidig das Erwachsenwerden ist. Finde ich gut. Aber Julia mag Mira nicht sehr. Das Thema „Verlieben“ ist in der dritten Klasse noch nicht so interessant. Die kleine Zeichenschule am Schluss hilft auch nicht: Das kennt sie, einmal hat sie es ausprobiert, aber da ging es um einen Stegosaurus, und der ist spannender. Julias Urteil: „Manno“ ist besser.
Sabine Lemire/Rasmus Bregnhoi, Mira, Klett Kinderbuch, 15 Euro
Tag 3: Hugo & Hassan, von Rasmus Bregnhoi und Kim Fupz-Aakeson (ab 21. August )

Nicht so meins. Hassan und Hugo lernen sich kennen, machen sich an und erkennen daran, dass sie – Freunde sind. Dann erleben sie einige Episoden, recht zeitgemäß: Die Jungs ballern vor allem am Bildschirm auf Nazis. Naja. Aber es ist genau Julias Ding: kürzere Geschichten. Weil man jede neu anfangen kann und nicht alles wissen muss, was bisher geschah. Jungs-Geschichten sind sogar besser, weil es um Fußball geht, Julia mag Sport und Bouldern: „Hugo & Hassan“ also an Manno und Mira vorbei auf die Eins.
Kim Fupz-Aakeson/Rasmus Bregnhoi, „Hugo & Hassan“, Klett Kinderbuch, 15 Euro
Tag 4: Dorothée de Monfreid, Die Hundebande in Paris

Die „Hundebande“ ist nett, straight erzählt, mit einem soliden Gag am Schluss. Sie ist von allen Bänden bisher am brävsten gezeichnet: beinahe konventionell. Julia sieht das anders: Sie mag Tiere, und Hunde sind die besten Tiere. Sie behält superviel vom Inhalt und strahlt hinterher wie Tschernobyl! Einiges gelernt hat sie auch, obwohl sie es noch nicht weiß: Denn die Hunde besuchen alle berühmten Bauten. Wie der Turm heißt, den die Hunde ersteigen, weiß sie noch nicht – aber sie wird ihn wiedererkennen, wenn sie ihn sieht. Und plötzlich sind „Hugo und Hassan“ auf der Zwei.
Dorothée de Monfreid, Ulrich Pröfrock (Üs.), Die Hundebande in Paris, Reprodukt, 16 Euro
Tag 5: Luke Pearson, Hanna im Steinwald

Um Hanna habe ich Angst: Hanna verlangt mehr vom Leser. Wegen der schnelleren, erwachsenentauglichen Pointen, und auch grafisch. Pearson schneidet Szenen parallel gegeneinander, er zeigt oft nur Details, man muss erschließen, was man grade sieht, es sprechen Charaktere aus dem Off. Julia findet das gut. Sie kriegt alles mit, auch den Schluss, als Hilda verspricht, sich zu bessern, und ihre Mama sagt, sie soll so bleiben, wie sie ist. Und Julia hat ihren Spaß, obwohl die Geschichte lang ist. An die Hundebande kommt Hilda trotzdem nicht ran, aber sie kämpft mit „Hugo und Hassan“ um Platz zwei – und gewinnt.
Luke Pearson, Hilda, Reprodukt, je Band ab 13 Euro
Tag 6: Marguerite Abouet/Mathieu Sapin, Akissi – „Vorsicht, fliegende Schafe“

Spannend, weil fremd: Akissi ist ein Mädchen aus der Elfenbeinküste. Sie schläft in einer Baracke, auf Matratzen am Boden mit fünf Geschwistern. Macht sie Streiche, schwingen Erwachsene keine Fäuste, sondern Macheten. Und der Lehrer prügelt Kinder. Julia stört das nicht: Es fällt ihr auf, dass manches anders ist, dass man da von Schlangen gebissen werden kann. Aber sie mag Schlangen, die kommen hinter Hunden und Raubkatzen auf Platz drei. Weshalb „Akissi“ zwar „Hilda“ überholt, aber nicht die „Hundebande“.
Marguerite Abouet/Mathieu Sapin, Akissi, Reprodukt, je Band 18 Euro
Tag 7: Emmanuel Guibert/Marc Boutavant, Ariol – Mach die Fliege, Surrsula

Ich fand den kleinen Esel schon früher mal arg brav, aber die Abenteuer sind vergleichbar mit denen von „Hugo und Hassan“. Julia liest sich genauso begeistert durch: Die Story vom Abziehbild-Tattoo, mit dem Ariols Freund den Apotheker schocken will, dann aber selbst verladen wird, etwa. Trotzdem bleiben „Hugo und Hassan“ vorn – außer bei der Frage, mit welchem der Comic-Helden Julia am liebsten zur Schule gehen würde. Ariol überholt alle. Hunde dürfen nicht in die Schule.
Emmanuel Guibert/Marc Boutavant, Ariol, Reprodukt, je Band ab 12 Euro
Tag 8: Matthias Picard, Jim Curious – Streifzug durch den Dschungel

Ein Sonderfall: Jim Curious ist ein Bilderbuch mit 3D-Brille. Hier geht’s ums Gucken, und zu sehen gibt es (auch für Erwachsene!) viel. Man kann sich drin verlieren. Aber für Julia ist es zu wenig a) Geschichte und b) Text, nämlich keiner. Ohne Text ist für Julia schwerer zu lesen, weil man so viel gucken muss, um herauszufinden, auf was es dem Zeichner gerade ankommt. Umso erstaunlicher, dass „Hilda“ so weit nach vorn kommt. Und „Jim Curious“ sich noch an „Mira“ vorbeimogelt.
Matthias Picard, Jim Curious, Reprodukt, 20 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Fünf Jahre lang hing Matieu Sapin „am Rockzipfel“ von Gérard Depardieu. Ergebnis: eine freiwillige Schleimspur und eine unfreiwillige Erklärung für Phänomene wie #MeToo

Es ist eine eigenwillige Form von Comic-Journalismus – oder wie soll man es sonst nennen? Fünf Jahre lang, sagt Zeichner Mathieu Sapin, hätte er für „Gérard“ am „Rockzipfel von Gérard Depardieu“ gehangen. Herausgekommen ist eine Art Doku-Comic, der den Leser reichlich verstört zurücklässt. Auch, weil der Report offenbar eher unfreiwillig in der Lage ist, die #MeToo-Debatte zu bereichern.
Herangehensweise: planlos
2012 bekommt Sapin, 43, das Angebot, Depardieu für eine Dokumentation zu begleiten. Die Doku folgt den Spuren von Alexandre Dumas’ Aserbaidschanreise 1858, und weil Dumas damals einen Zeichner dabeihatte, wollen die Fernsehleute ebenfalls einen mitnehmen. Sapin, als Doku-Zeichner im Präsidentschafts-Wahlkampf und im Elysée-Palast aufgefallen, sagt zu. Und von vorneherein fällt seine seltsame Herangehensweise auf. Man kann sie „unvoreingenommen“ nennen, zutreffender aber ist: planlos.
Man merkt es allerdings nicht gleich, weil Sapin die bizarre Situation mit einem eher komisch-niedlichen Stil verschleiert. Sapin zeichnet Depardieu als schwitzenden, knollennasigen Koloss, vereinfacht, aber nicht karikierend. Sich selbst stellt er als kleines dünnes Männchen mit Riesenkopf dar, stets eingeschüchtert von dem gigantischen Menschenmassiv des Schauspielers. Sie drehen gemeinsam die gewünschte Doku, Depardieu fasst Vertrauen zu Sapin, der sich von dem Filmstar ins Schlepptau nehmen lässt. Und von Anfang an fragt man sich: wozu?
Was ausbleibt, ist die Satire
Sicher, Sapin zeichnet, wie Depardieu wohnt: mit viel Platz, viel Kunst, vielen Geschenken von anderen berühmten Leuten. Er zeichnet Depardieu, wie er in Unterhosen telefoniert. Wie Depardieu Leute anraunzt und abmeiert, wie er freundlich ist, wie sein Umfeld ihn behandelt. Das wirkt so lange satirisch, bis man feststellt, dass da keine Satire ist, weil sich die ganze Geschichte an nichts reibt. Sapin schildert einfach vor sich hin. Und wenn man das festgestellt hat, denkt man darüber nach, ob man so wenigstens etwas über Leben und Wirkung des alternden Weltstars erfährt.
Mal sehen: Depardieu stopft sich offenbar den Tag mit Menschen zu. Manager, Agenten, ein Comic-Zeichner. Er schwafelt gern über Gott und die Welt, redet meist von oder über sich, hin und wieder kommen Halbweisheiten dabei heraus wie „Schönheit ist Geld und Großzügigkeit“. Oder: „Geld interessiert mich nicht.“
Wo der Zeichner dem Star auf den Leim geht
Letzteres ist immerhin ein Widerspruch zu seiner Steuerflucht. Oder zu seinen zwei Schlössern und seiner Kunstsammelei, die ja auch bezahlt sein wollen. Es könnte reizvoll sein, diese Widersprüche gegeneinander zu stellen. Aber bei Sapin findet man sie unter einer Menge belanglosem Quatsch derart beiläufig, dass man annehmen muss, er hätte sie gar nicht bemerkt oder gar vergessen, sie zu löschen. Denn umgekehrt macht Sapin sich mehrfach eindeutig und unnötig mit seinem Star und seinen Launen gemein.
Als Gérard „Geld interessiert mich nicht“ Depardieu etwa seinen Gärtner um den Lohn prellt, ergreift Sapin sofort Partei: Der Garten wurde „verunstaltet“, behauptet er ohne jeden Beleg. In jedem Gespräch merkt Sapin in kleinen Fußnoten an, welche Geschäfte Depardieu kauft, welches Buch er gerade zitiert, welchen Film er meint. Depardieus Politiker-Freundschaften leuchtet er weniger genau aus. Im Gegenteil: Den aserbaidschanischen Kultusminister lobt Sapin als „verdammt guten Mann“ – in einem Land, das auf dem Demokratieindex 2016 Platz 148 einnahm, gefolgt von Afghanistan. Auch für das Gesangsduett Depardieus mit der Tochter des autoritären Präsidenten Kasachstans gibt’s nur neutrales Staunen.
Putins Kumpel
Während einleuchtet, warum sich fragwürdige Herrscher gern mit berühmten Schauspielern die Diktatur verschönern, bleibt schleierhaft, warum sich Depardieu dafür hergibt. Fünf Jahre hatte Sapin Zeit, das herauszufinden, aber er will die Antwort nicht wissen – oder nicht zeichnen. Er lässt dafür Depardieu unwidersprochen behaupten: „Was ich nicht ertrage, ist Korruption.“ Obwohl er es problemlos im Russland seines Kumpels Putin aushält, das auf dem Korruptionsindex 2016 auf Platz 131 landet, ranggleich mit der von Depardieu scharf kritisierten Ukraine. Man könnte derlei wenigstens in einer von Sapins beliebten Fußnoten erwähnen, aber: Fehlanzeige. Es kristallisiert sich allenfalls heraus, warum dieses Projekt so furchtbar schiefgeht.
Sapins Rechenfehler
Denn Sinn ergibt all das sofort, wenn man davon ausgeht, dass der Autor alles, was Depardieu tut, für wichtig hält. Sapin liefert keine Berichterstattung, sondern Verehrung in Form der Speichelleckerei. Er reiht sich damit nahtlos ein unter die Depardieu-Lakaien, die dasselbe tun und unablässig mit der Formel vom „größten lebenden Schauspieler Frankreichs“ dem Star und sich selbst lobhudeln. Was letzten Endes angesichts einiger fragwürdiger, komplett ignorierter Bemerkungen über Frauen dann immerhin noch zu wenigstens einer Erkenntnis führt: #MeToo wird erklärlicher, wenn man sich vorstellt, dass Weinstein & Co sich alle mit derartigen Ja-Sagern und Ja-Zeichnern umgeben.
Mathieu Sapin, Gérard, Reprodukt, 24 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.