Mit dem Jammern fängt es an: Riad Sattoufs vierter Band des „Arabers von morgen“ erzählt – einseitig und doch universell – die Geschichte einer alltäglichen Radikalisierung

Ist das jetzt rassistisch? Es ist jedenfalls lange her, dass ich einen unsympathischeren Moslem in einem Buch oder Comic entdeckt habe. Und das ist kein Zufall, denn dieser Moslem ist nicht nur deshalb Moslem, weil irgendein Drehbuchautor fand, dass die Rolle noch Fleisch braucht: Bei Abdel hängen die negativen Eigenschaften und seine Herkunft, sogar sein Glaube unmittelbar zusammen. Abdel ist einer der Hauptcharaktere aus dem exzellenten vierten Teil der Serie „Der Araber von morgen“.
Große Träume auf kleiner Grundlage
Riad Sattouf zeichnet darin seine eigene Kindheit zwischen den Welten, zwischen Frankreich und verschiedenen arabischen Kulturen. Abdel ist sein Vater. Man hat schon in den ersten drei Bänden eine gewisse Distanz Sattoufs zu ihm vermuten können, aber so heftig wie jetzt war das noch nicht. Zur Erinnerung: Abdel, ein Syrer, studiert in Frankreich, lernt dort Riads bretonische Mutter kennen und zieht nach dem Doktortitel mit seiner Familie erst nach Libyen, dann nach Syrien, um als Dozent zu arbeiten. Denn Abdel hängt nicht nur an seiner Familie, er träumt auch von einer Zukunft für die islamische, die arabische Welt, er möchte diese Zukunft seiner Heimat mit aufbauen.
Leider ist diese Heimat nicht sehr aufbaufähig. Der kleine Riad beobachtet in den ersten Bänden immer wieder, dass große Teile der Gesellschaft archaisch geprägt sind, grade auf dem Land. Abdel müsste sich gegen die Traditionen stellen, aber so modern ist er eben doch nicht. Er will Karriere machen, aber Ziel dieser Karriere ist ein „Palast“ und Anerkennung als großer Wissenschaftler – innerhalb der kaum belesenen Dorfgemeinschaft. Dass Abdel diesen unauflösbaren Widerspruch nicht zu erkennen vermag, ist die Wurzel einer Menge Konflikte. Doch während das in den ersten Bänden noch naiv, skurril oder idealistisch wirken konnte, schildert Sattouf seinen Vater jetzt als unsympathisch, reaktionär, inkompetent und sogar verschlagen.
Reichtum in der Billigvariante
Irritierend dabei ist, dass all das in Sattoufs freundlichem, niedlich-kindlichem Zeichenstil erzählt wird. Riad ist jetzt zwölf, es kommt ihm komisch vor mit seinen Spielsachen zu spielen. Mädchen sind auf einmal nicht mehr nur Mädchen. Außerdem sieht er seinen Vater inzwischen seltener: Die Familie lebt in Frankreich, Abdel doziert in Saudi-Arabien und kommt nur in den Ferien. Er versucht, die Familie nachzuholen, aber seine Frau will nicht. Abdel schwärmt vom Reichtum Arabiens, erzählt von seiner märchenhaften Karriere. Aber die Realität sieht so aus, dass die Ferien im heruntergekommenen Haus im syrischen Dorf verlebt werden müssen, und dass die goldene, diamantenbesetzte Uhr, die ihm die Scheichs aus Respekt geschenkt haben, sich beim Juwelier als preiswerte glasbesetzte Silbervariante entpuppt. Den Aufenthalt in Saudi-Arabien hat er für eine Wallfahrt nach Mekka genutzt – was ihm fatalerweise im Heimatdorf mehr Anerkennung einbringt als jegliche Bildung. Abdel genießt das und inszeniert sich jetzt mehr als Glaubensexperte. Das wiederum entfremdet ihn dem westlichen Teil seiner Familie.
Abdels Französisch wird schlechter, dafür wettert er gegen Juden im Fernsehen, die ständige Benachteiligung der Araber. Saddam Hussein erlebt er als starken Mann, der endlich alle Ungerechtigkeiten geraderückt, sich Kuwait zurückholt und durch weitere westliche Ungerechtigkeiten aufgehalten wird. Obendrein hat ihn sein Spott über die US-freundlichen Saudis den Job gekostet. Abdel sitzt jetzt also zuhause und hat nichts zu tun. Weil Riad mit Mädchen und Pickeln kämpft, in Frankreich von den Mitschülern nicht für schwul gehalten werden will und in Syrien von den Araberkindern nicht für einen Juden, bekommt er genau so wenig mit wie der Leser, dass sich Abdel radikalisiert.
Peinliche Parallelen
Es ist nicht ganz unverständlich, dass in gewöhnlich rechts unterrichteten Kreisen beim „Araber von morgen“ mitunter die Korken knallen. Nach dem Motto: So isser, der Araber, und da haben wir’s mal aus erster Hand, denn der Sattouf, der muss es wissen, ist ja alles autobiographisch. Man muss sich allerdings das rechte Auge schon mit zwei Händen zuhalten, um peinliche Parallelen zu übersehen: die Denkmuster sind erstaunlich ähnlich.
Es sind immer die anderen, die schuld sind. Juden. Amerikaner. Liberale. Die EU. Frauen. Neumodische Geschlechter mit ihrem Extraklo. Brillant beobachtet ist Abdels wiederholtes, gebetsartiges Aufzählen aller Ungerechtigkeiten, es hat deutlich auch etwas Wohliges, Tröstliches, dieses Frei- und Lossprechen von aller Schuld und Verantwortung für die eigene Situation. Das ist es, was den Vorgang so attraktiv macht, nicht nur für Abdel. Denn genau dieses Modell, dieses berechnende und wehleidige Suhlen in der Opferhaltung, all das offerieren – mit anderen Schuldigen – Heulsusen-Vereine wie Fidesz, IS, FPÖ oder AfD. Doch nicht nur Abdels überraschendes Finale zeigt, dass es sich hier allenfalls anfangs bloß um Sprüche und gedankenlose Rituale handelt: Die Betonung der Opferrolle ist stets Vorprogramm für das, was sich anders nicht rechtfertigen lässt, sie dient dem konstanten Abbau der Hemmschwellen, gerade bei professionellen Vorjammer-Lappen wie Orban, Salvini, Strache, Höcke. Ob Christchurch oder Berliner Weihnachtsmarkt, die mentale Munition ist stets die gleiche. Was den „Araber von morgen“ so unterhaltsam und elegant einleuchtend macht: Riad Sattouf weiß, dass es genügt, diesen Mechanismus einseitig zu schildern, um universell zu wirken.
Riad Sattouf, Der Araber von morgen, Penguin, Bd. 4, 26 Euro.
Erstmals erschienen 2019 bei Spiegel Online .
Doppelschlag von Riad Sattouf: „Esthers Tagebücher“ und „Der Araber von morgen“ zeigen die Welt aus der Kinderperspektive: rührend naiv, witzig-pikant, erschreckend erbarmungslos

Manchmal entdeckt man Sachen so spät, das es einem beinahe schon peinlich ist. Die tüchtige Kapelle Drahdiwaberl zum Beispiel. Oder, auch reichlich spät, das Videospiel „Assassin’s Creed“. Oder jetzt, Schande über Schande, Riad Sattouf. Ich hab den Mann einfach unterschätzt. Und zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, dass sein Start nicht ganz überzeugend war.
Irrtümlich in die "Multikulti"-Schublade
2010 erschien bei Reprodukt ein Bändchen, das „Meine Beschneidung“ hieß. Es ging um einen Jungen, der relativ spät beschnitten wird, sich von seinem Vater einen gigantischen Spielzeugroboter als Trost wünscht und ihn nicht kriegt. Ganz nett, ganz unterhaltsam, aber nicht der Brüller, also hab ich Sattouf wohlwollend mehr oder weniger unter Multikulti abgelegt und nicht mehr verfolgt. Erstens: schön blöd. Zweitens: doppelt falsch, wie sich jetzt herausstellt. Denn bei Reprodukt erscheinen jetzt von ihm „Esthers Tagebücher“.
Die sind auf den ersten Blick schon mal angenehm konsumierbar: 52 kurze, jeweils eine Seite lange Geschichten aus dem Leben einer Zehnjährigen, zuerst veröffentlicht im französischen Magazin „L’Obs“. Esther lebt mit ihrem tollen Vater, ihrer lieben Mutter und ihrem natürlich doofen großen Bruder in Paris. Das ist schon nach wenigen Panels so charmant und drollig wie es eben manchmal so ist, wenn man am Pausenhof einer Grundschule vorbeigeht. Sattoufs Geschichten werden daher auch gerne mal mit Goscinnys „Der kleine Nick“ verglichen. Aber das ist zu wenig, und das nicht nur weil der kleine Nick nie bei Youporn war.
Der kleine Nick war nie bei Youporn
Der „Kleine Nick“ ist ja mehr eine nostalgische Erinnerung an die Kindheit mit dem guten Gefühl, dass Nick einmal so sein wird wie der Leser, und sein Sohn wird dann so sein wie Nick jetzt ist und immer so fort. Bei Esther ist das anders. Esther spielt mit ihrer Freundin ein Katzenvideospiel, aber schnell zeigt sich, dass man für diese Katze Geld ausgeben muss. Und dass die Freundin anfängt, die Bildschirmkatze zu prügeln, weil die Katze nicht frisst.
Esther weiß, wie wichtig es ist schön zu sein: „Wenn man blond und geschmeidig ist, bringt man es mal zu was“. Oder wie wichtig es für die Jungs ist, dass man ausländische Wurzeln hat, weil man sein Selbstbewusstsein nicht mehr nur aus den Klamotten oder der Frisur oder den richtigen Turnschuhen speist, sondern ganz selbstverständlich aus einem Nationalismus.
Esther will: kein Opfer sein
Nein, bei Esther ist stets klar, dass ihre Welt eine ganz andere ist als unsere, und dass auch ihre Zukunft eine ganz andere sein wird. Nick stolperte naiv durchs Leben, Esther und ihre Freunde registrieren aber die Gesetze von Erfolg und Anerkennung, sie achten aufmerksam darauf, was einen zum Opfer macht. Das Ergebnis ist eine Mischung aus Unschuld und Unbehagen, ein so lecker wasabihaft beißender Witz, dass ich sofort gesucht habe, ob mir seit 2010 mehr von Sattouf entgangen ist. Und dabei bin ich auf den „Araber von morgen“ gestoßen. Zwei Bände gibt es davon bereits, erschienen im Knaus Verlag, im Mai erscheint der dritte. Wenn Esther ein Traum in zartbitter ist, dann hat „Der Araber von morgen“ einen Kakaogehalt irgendwo zwischen 85 und 98 Prozent.

Sattouf erzählt hier seine eigene Jugend als Kind einer Französin und eines Syrers, der in Frankreich einen Doktortitel erworben hat. Der nimmt anschließend seine Familie mit nach Libyen und Syrien, um dort den Arabern statt Frömmigkeit Bildung einzutrichtern. Hier, im Graphic-Novel-Format, haben neben der Hauptfigur Riad auch andere Charaktere Platz zur Entfaltung, vor allem natürlich Sattoufs Vater.
Vati vereint Fortschritts-Zuversicht und Aberglaube
Der kann sympathisch träge vor dem Fernseher lümmeln und pubertär-prahlerisch-primitiv-paschahaft davon träumen, als Wissenschaftler sein Land in die Moderne zu führen. Parallel dazu glaubt er aber, dass auf Friedhöfen krebserregende Gase wabern und dass – wenn man schon an etwas glauben will – die Sunniten recht haben. Womit Sattouf das arabische Spannungsfeld zwischen Reform und Reaktion elegant einfängt.
Für eine Dozentenstelle zieht die Familie dann in seine syrische Heimat, der kleine Riad geht auf die marode Dorfschule, wo man Stockschläge auf die Finger bekommt und im Wesentlichen lernt, Koransuren aufzusagen und die Nationalhymne zu singen. Die Familienmitglieder bekämpfen sich inzwischen untereinander, die einen ruinieren den anderen die Ernte, Korruption, Autoritätshörigkeit, Hass und Gewalt sind allgegenwärtig und das Unbehagen, das man von „Esther“ kennt, kriegt man hier in noch mehr Spielarten serviert: skurril, entsetzlich, unerträglich.
Unverheiratet schwanger: Familie tötet Tante
Was nicht falsch verstanden werden soll: Sattouf prangert nicht an, er schildert derlei nur, sogar ziemlich ausgewogen. Bei den französischen Großeltern gibt es Nachbarn, die gleichmütig einen Wurf Kätzchen auf der Mülltonne totschlagen. Aber derlei verblasst eben, wenn der kleine Riad zurück im syrischen Dorf erfährt, dass die Verwandten seine Tante umgebracht haben, weil sie unverheiratet schwanger war.
Kann man aus so was einen unterhaltsamen Comic machen? Absolut – dank der Kinderperspektive von Esther und Riad. Weil hier der größte Unsinn und der mörderischste Ernst und die faszinierendsten Nebensächlichkeiten unvermittelt und nahezu gleichgewichtig nebeneinander auftauchen können. Esther grübelt über ein Smartphone genauso wie über das neugelernte Wort „Schwuchtel“. Riad betrachtet die Löcher im Boden der städtischen Busse so neugierig wie die Toten, die zur Abschreckung mitten in der Stadt am Galgen hängen.
Unterstützt wird das von einem sympathisch-cartoonigen Zeichenstil, der alle Beobachtungen und Reaktionen vereinfacht und so zuspitzt, wie sie Kinder oft wahrnehmen – entweder supergut oder superschlecht oder superegal. Problematisch wird das erst, wenn die Kinder zu alt werden: Der kleine Riad bleibt ja nicht ewig in der Grundschule, er ist heute ja knapp 40. Und Esther, die es laut Sattouf tatsächlich gibt, will er begleiten, bis sie 18 ist. Aber bis dahin haben wir hoffentlich alle noch eine Menge zu lesen.
Riad Sattouf, Esthers Tagebücher, Reprodukt, 20 Euro
Riad Sattouf, Der Araber von morgen, Albrecht Knaus Verlag, Band 1-3, je 19,99 Euro
Riad Sattouf, Meine Beschneidung, Reprodukt, 14 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.